B1 234.190-0/2008/7E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat gemäß §§ 75 Abs 1 und 7 Asylgesetz 2005 idF BGBl I 4/2008 iVm § 66 Abs 4 AVG 1991 durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde des M.B., geb. 00.00.1985, Staatsangehörigkeit: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.12.2002, Zl. 02 15.134-BAS zu Recht erkannt:
Der Beschwerde von M.B. vom 19.12.2002 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.12.2002, Zahl: 02 15.134-BAS wird stattgegeben und M.B. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass M.B. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I Gang des Verfahrens und Sachverhalt:
1.1 Der Beschwerdeführer ist am 07.06.2002 unter Umgehung der Grenzkontrolle ins Bundesgebiet eingereist und im Gemeindegebiet von Markthof angehalten worden. Vor dem GÜP Marchegg hat er daraufhin einen Asylantrag gestellt. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.12.2002 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I). Dabei ging das Bundesasylamt davon aus, dass zwar die Schilderungen des Beschwerdeführer hinsichtlich Fluchtgrund und Fluchtweg glaubwürdig seien, jedoch aufgrund der geänderten politischen Lage in seiner Heimat keine Bedrohung und Unterdrückung der Bevölkerung bestehe sowie aufgrund der Tatsache, dass die Taliban nicht mehr an der Macht seien, es keine Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch diese mehr gebe.
Gemäß § 8 AsylG wurde festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist (Spruchpunkt II). Für den Fall der Rechtskraft der Spruchpunkte I und II wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 15 Abs 1 iVm § 15 Abs 3 AsylG 1997 eine bis 31.03.2003 befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III). Diese Entscheidung gründete sich auf über die Situation im Herkunftsland, aufgrund der der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Lage versetzt werden würde.
1.2 Gegen diesen Bescheid wurde binnen offener Frist mit Schriftsatz vom 19.12.2002 Berufung erhoben, worin der rechtlichen Beurteilung im angefochtenen Bescheid entgegengetreten und die Asylgewährung beantragt wird. Zusammenfassend wird darin ausgeführt, dass sich Lage seit der Vertreibung der Taliban nicht wesentlich geändert hätte und dem Beschwerdeführer daher nach wie vor im Falle seiner Rückkehr Gefahr drohe, umgebracht oder inhaftiert zu werden. Begründet wird diese Einschätzung des Beschwerdeführers mit dem Verweis auf die zum Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerde aktuelle politische Situation und Sicherheitslage in Afghanistan. Dabei wird argumentiert, dass das Bundesasylamt diese Bedrohung außer Acht gelassen habe, wobei hervorgehoben wird, dass die behauptete Bedrohung nicht nur von den Taliban ausgehe, sondern das Volk und die Familie des Beschwerdeführers bereits vor deren Machtübernahme konkreten Bedrohungen ausgesetzt waren und auch noch seien; nicht zuletzt aufgrund der beruflichen Tätigkeit seines Vater für die Najibullah-Regierung.
1.3 Am 25.01.2007 und am 05.06.2008 fand vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer teilnahm und zu der das Bundesasylamt keinen Vertreter entsandt hat. Dabei wurde eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durchgeführt. Im Zuge dessen machte der Beschwerdeführer ergänzende Angaben zu seiner Bedrohungssituation und legte als Beleg für seine Herkunft und Identität die Kopie einer Geburtsurkunde seines Vaters vor. Beim Verhandlungstermin am 05.06.2008 wurde der seinerzeitige Betreuer des Beschwerdeführers einvernommen und wurden ergänzende Ermittlungen zur Situation im Herkunftsstaat erörtert.
2. Sachverhalt:
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers wird festgestellt:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der tadjikischen Volksgruppe an. Sein Name ist M.B., 00.00.1985 geb., und er stammt aus der Provinz Herat. Der Beschwerdeführer ist bis zu seiner Ausreise sechs Jahre Schüler gewesen und hat daraufhin einen Beruf erlernt. In Afghanistan hat er gemeinsam mit seinen sieben Geschwistern in elterlicher Hausgemeinschaft in Herat gewohnt.
Der Vater des Beschwerdeführers besaß im Heimatdorf G. mehrere Felder, die sich schon länger im Besitz der Familie befanden. Diese wurden von ihm selbst bestellt, jedoch hatte er immer wieder Probleme mit örtlichen Mudjaheddingruppen, die diese Felder in Beschlag nahmen. Als der Beschwerdeführer noch sehr klein war, zog der Vater des Beschwerdeführers mit der Familie nach Herat , da sich in G. keine Schule befand und er hoffte, in einer größeren Stadt - wo die Staatsgewalt der Zentralregierung wirksam ist - ungestört leben zu können. Er verkaufte daraufhin einige der Felder, den Rest ließ er von Personen, die für ihn arbeiteten, weiterhin für sich selbst bewirtschaften. Er selbst fand eine Stelle in der Stadtverwaltung von Herat, hat aber später die Stadtverwaltung freiwillig verlassen.
Die Konflikte mit der Mudjaheddingruppe um landwirtschaftliche Grundstücke bestanden jedoch auch nach dem Umzug der Familie des Beschwerdeführers nach Herat, dies vor allem deshalb, weil die genannte Gruppe dem Vater des Beschwerdeführers immer wieder Felder streitig machten. Gleichzeitig warfen sie diesem vor, dass er Kommunist sei, weil er für die Regierung arbeitete; was aber nicht den Tatsachen entsprach. Unter diesem Vorwand besetzte der örtliche Kommandant G.Y., der der Gruppe Jamiat-e Islami angehörte, nach der Machtübernahme durch die Mudjaheddin in G. die Felder des Vaters des Beschwerdeführers. Diese erhielt der Vater des Beschwerdeführers jedoch nach der Machtübernahme durch die Taliban wieder zurück.
Während der Herrschaft der Taliban wurde dem Vater des Beschwerdeführers eines Tages bekannt, dass G.Y. im Dorf S. in einer bestimmten Nacht eingeladen sei. Der Vater teilte dies der Bezirksverwaltung der Taliban mit, die daraufhin in der genannten Nacht in dieses Dorf kamen. In einer Auseinandersezuung zwischen den beiden Gruppen wurden zwei Cousins und ein dem G.Y. nahestehender Freund getötet, G.Y. konnte flüchten .
Nach diesem Vorfall wurde diesem Kommandanten durch einige seiner Männer, die zum Schein zu den Taliban übergelaufen, ihrem Kommandanten aber tatsächlich loyal geblieben waren, bekannt, dass die Information seitens des Vaters des Beschwerdeführers diesen Angriff ermöglicht hatte. Danach wurde der Vater des Beschwerdeführers Ziel von Verdächtigungen des illegalen Besitzes von Waffen und von Misshandlungen von Seiten dieser als Taliban agierenden Anhänger des Kommandanten G.Y.. Der Beschwerdeführer und dessen Bruder waren Augenzeuge eines solchen Vorfalls, als diese Personen ihren Vater mit Fäusten und Fußtritten misshandelten und ihm vorwarfen, Waffen zu haben. Diese Personen versuchten, den Beschwerdeführer und dessen Bruder vorgeblichzu Kampfhandlungen mitnehmen. Sie beabsichtigten dabei aber vielmehr, die beiden Söhne aus der Stadt zu bringen, um sie zu töten, weil dies für sie in der Stadt wegen der Bevölkerung und den anwesenden "echten" Taliban nicht möglich war. Nach diesem Ereignis wechselte die Familie des Beschwerdeführers noch einmal den Aufenthalt innerhalb von Herat, flüchtete dann jedoch kurze Zeit später - im Mai 2001 - endgültig aus Afghanistan, wobei sie vorher das Haus und das Geschäft zu einem niedrigen Betrag verkauften.
In der Heimatprovinz des Beschwerdeführers ist dessen Vater aufgrund der Tatsache, dass er über zahlreiche Grundstücke verfügte, sehr bekannt. Außerdem ist sowohl dessen Verwandtschaftsverhältnis zum Beschwerdeführer als auch die tiefe persönliche Feindschaft des Kommandanten G.Y. zur Familie des Beschwerdeführers allgemein bekannt.
Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ist daher zu erwarten, dass der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wegen dieser Feindschaft mit einer Bedrohung seines Lebens zu rechnen hat, ohne bei den Behörden seines Heimatlandes davor wirksamen Schutz finden zu können.
2.2 Zur Lage in Afghanistan wird festgestellt:
Afghanistan befindet sich nach 23 Jahren Bürgerkrieg und kriegerischer Auseinandersetzungen in einem langwierigen Wiederaufbauprozess. Weitere Anstrengungen sind nötig, um die bisherigen Stabilisierungserfolge zu sichern und die Zukunftsperspektiven der afghanischen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern.
Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren (staatliche Sicherheitskräfte und internationale Stabilisierungstruppe [ISAF], regierungsfeindliche Gruppen, rivalisierende Milizen, bewaffnete Stammesgruppen sowie organisierte Drogenbanden) dauern in etlichen Provinzen an oder können jederzeit wiederaufleben. Seit Frühjahr 2007 ist vor allem im Süden und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen von regierungsfeindlichen Kräften haben 2007 erheblich zugenommen.
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaftslage ist weiterhin desolat, auch wenn ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung in manchen Städten (z.B. Kabul, Herat) eingesetzt hat. Erste Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind eingeleitet. Der strenge Winter 2007/2008 hat in weiten Landesteilen (vor allem im Westen und Norden) zu dramatischen Versorgungsengpässen geführt.
Ein funktionierendes Verwaltungs- und Justizwesen fehlt weitgehend. In der Gerichtsbarkeit besteht keine Einigkeit über die Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (staatliche Gesetze, Scharia oder Gewohnheitsrecht). Rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien werden häufig nicht eingehalten.
Die Menschenrechtssituation verbessert sich nur langsam. Dies gilt auch für die Lage der Frauen in Afghanistan, selbst wenn die gegen sie gerichteten Verbote aus der Taliban-Zeit formal aufgehoben sind. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren ("warlords") aus. Die Zentralregierung kann diese Täter nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen und sie vor Gericht bringen. Entscheidend ist es daher, die angestrebte Ausdehnung des Machtbereichs der Zentralregierung auf das gesamte Land zügig voranzutreiben. Noch verfügt die Zentralregierung nicht über das Machtmonopol, um die Bürger ausreichend zu schützen. (Quelle: Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt Zusammenfassung)
Die afghanische Geschichte der letzten Jahrzehnte ist geprägt von der Besatzung durch die Sowjetunion, dem Bürgerkrieg zwischen den Mujaheddin-Gruppen und der Gewaltherrschaft der Taliban. Eine gewachsene Kultur des politischen Diskurses und der friedlichen Beilegung von Konflikten gibt es daher weder auf persönlicher noch auf politischer Ebene. Hinzu kommt, dass Blutrache und Fehden zwischen Familien, Clans und Stämmen, insbesondere in der paschtunischen Stammesgesellschaft des Südens und Ostens des Landes, seit jeher gängige Formen der Auseinandersetzung darstellen.
Auf der Grundlage des Petersberger Abkommens von 2001 wurden zwischenzeitlich vier wesentliche Schritte zum Wiederaufbau staatlicher Strukturen unternommen: Die Einberufung einer Sonderversammlung von "Räten" ("Emergency Loya Jirga"), Einsetzung einer Übergangsregierung, die Durchführung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und die Verabschiedung einer Verfassung. Afghanistan ist damit eine formal funktionierende Demokratie mit Gewaltenteilung. In der Praxis existieren allerdings vielfältige vordemokratische Parallelstrukturen.
In weiten Teilen Afghanistans finden nach wie vor militärische Auseinandersetzungen zwischen regierungsfeindlichen Kräften einerseits sowie afghanischen und internationalen Truppen andererseits statt. Präsident Karzai hat wiederholt seinen Willen erklärt, Verhandlungen mit den aufständischen Kräften zu führen. Diese lassen bislang jedoch keine eindeutige Bereitschaft zu Gesprächen erkennen oder stellen Bedingungen, die für die Regierung unannehmbar sind (z.B. Abzug aller ausländischen Streitkräfte). Auch in jenen Teilen des Landes, in denen derzeit keine regierungsfeindlichen Kräfte operieren, kommt es regelmäßig zu politisch motivierter Gewaltanwendung. Nach wie beherrschen lokale Machthaber verschiedene Regionen v. a. im Norden des Landes. Diese bekämpfen die Regierung Karzai zwar nicht mit militärischen Mitteln, wahren aber ihren Macht und Einflussbereich vor Ort immer wieder gewaltsam gegenüber rivalisierenden Gruppen.
Die Verfassung enthält einen umfangreichen Menschenrechtskatalog, der politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst. Gemäß Art. 22 haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten. Artikel 3 der Verfassung enthält einen Islamvorbehalt, wonach Gesetze nicht "dem Glauben und den Bestimmungen" des Islam zuwiderlaufen dürfen. Auf die Scharia wird nicht ausdrücklich Bezug genommen. Die Verfassung sieht in Art. 130 die Anwendung der Scharia in den Grenzen der Verfassung vor, sofern keine andere gesetzliche Norm anwendbar ist.
Die Aufteilung staatlicher Macht zwischen Judikative, Exekutive und Legislative ist in der politischen Wirklichkeit nur in Ansätzen vorhanden. Das Parlament, das - nach vergleichsweise freien und weitgehend fairen Wahlen - im Dezember 2005 erstmals zusammentrat, hat sich bisher nicht als konstruktiver Machtfaktor im politischen Gefüge Afghanistans zu etablieren vermocht. Die Formulierung und Durchsetzung politischer Vorhaben liegt nach wie vor weitgehend in den Händen der Exekutive.
Das Oberste Gericht ist bislang ebenfalls nicht als wirkungsvolle Kontrollinstanz in Erscheinung getreten. Aufgrund seiner langsamen Arbeitsweise hat es mit einem großen Rückstau noch nicht bearbeiteter Fälle zu kämpfen. Die Unabhängigkeit der Justiz und die Justizgrundrechte ("nulla poena sine lege", keine Sippenhaft, Unschuldsvermutung, etc.) sind zwar förmlich in der afghanischen Verfassung verankert. In der Rechtswirklichkeit ist das Justizsystem aber noch nicht funktionsfähig. Trotz bereits laufender Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Richter und Staatsanwälte wird es noch etliche Jahre dauern, bis das Gerichtssystem dem Anspruch der Verfassung genügen wird.
Neben dem formellen staatlichen Gerichtswesen besteht weiterhin die traditionelle Gerichtsbarkeit. Vor allem auf dem Land wird die Richterfunktion weitgehend von lokalen Räten (Schuras) übernommen. Nach Aussage des im November 2007 veröffentlichten "Afghan National Human Development Report" werden nach wie vor 80% aller Rechtsstreitigkeiten im Rahmen dieser informellen Strukturen geregelt. Bei Gericht sind oft nicht einmal Texte der wichtigsten afghanischen Gesetze vorhanden. Einigkeit über die Gültigkeit und Anwendbarkeit von kodifizierten Rechtssätzen besteht meist nicht. Mangelnde Rechtskenntnis und die mangelnde Fähigkeit zur Auslegung verschärfen die Situation. Grundsätze eines fairen Verfahrens nach rechtstaatlichen Prinzipien werden von Gerichten oftmals nicht beachtet. Tatsächlich nehmen Gerichte, soweit sie ihre Funktion ausüben, eher auf Gewohnheitsrecht, auf Vorschriften des islamischen Rechts (Scharia) und auf die (nicht selten willkürliche) Überzeugung des einzelnen Richters Bezug, denn auf staatliche, säkulare Gesetze. Viele Fälle werden schlicht durch das Recht des Stärkeren geregelt. Zudem ist davon auszugehen, dass insbesondere Schuras die Rechte von Frauen nicht achten. Eine Strafverfolgung außerhalb Kabuls wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen ist praktisch nicht möglich. Korruption wird allgemein als großes Problem im Justiz- und Verwaltungsbereich wahrgenommen.
Problematisch ist auch die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Gerichten, Staatsanwaltschaft und Gefängnissen. Im Herbst 2007 kam es deswegen im Gefängnis Pul-e Charki bei Kabul sowie in Zaranj (Provinz Nimruz) zu Hungerstreiks von Gefangenen wegen überlanger Gerichtsverfahren. Die Proteste gingen v.a. von Kleinkriminellen aus, die nicht die Mittel haben, sich freizukaufen.
In der öffentlichen Verwaltung ist die Situation ähnlich prekär wie im Justizwesen. Weit verbreitete Korruption und mangelnde fachliche Qualifikation bis in die höchsten Ebenen der Verwaltung haben eine hohe Ineffizienz des Verwaltungsapparats zur Folge. Primäres Kriterium bei der Personalauswahl im öffentlichen Dienst ist häufig die Zugehörigkeit zur "richtigen" ethnischen Gruppe oder einem bestimmten Clan. Spitzenpositionen sind, v.a. in den Provinzen, oft käuflich oder Erbhöfe lokaler Machthaber, die ihre Vertrauensleute damit "belehnen". Strukturen bzw. Mechanismen, die Verstöße von Amtsträgern gegen Gesetze oder Unfähigkeit sanktionieren würden, sind innerhalb des Apparates praktisch nicht vorhanden. (Quelle:
Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt I.1)
Wie insgesamt die staatlichen Strukturen befinden sich auch die Sicherheitskräfte im Wiederaufbau. Die Ausbildung polizeilicher Führungskräfte fand seit 2002 unter deutscher Federführung statt und ging im Juni 2007 auf die europäische EUPOL-Mission über. Die Anforderungen, welche an die Polizeikräfte in Afghanistan gestellt werden, unterscheiden sich zum Teil stark von den Aufgaben der Polizei in entwickelten Demokratien. Die Polizei trägt in Afghanistan neben der Armee die Hauptlast bei der Bekämpfung der Aufstandsbewegung im Süden und hat hohe Verluste zu beklagen (über 1.000 Tote im Jahr 2007). Die Afghanische Nationalpolizei (ANP) ist insofern eine primär paramilitärische Organisation. Bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz wird die ANP ihrer Aufgabe nicht gerecht. Der Ausbildungsstand der Polizisten ist niedrig, das Ausmaß der Korruption ist hoch, was auch eine Folge der schlechten Bezahlung sein dürfte. Die Loyalität einzelner Polizeikommandeure gilt oftmals weniger dem Staat als lokalen bzw. regionalen Machthabern. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die ANP daher kein Stabilitäts-, sondern vielmehr oft ein Unsicherheitsfaktor. Es wird noch erheblicher Anstrengungen seitens der internationalen Gemeinschaft bedürfen, bis ein Mindestmaß an professioneller Aufgabenwahrnehmung durch die afghanischen Polizeikräfte gewährleistet werden kann.
Gleiches gilt auch für die Afghanische Nationalarmee (ANA). Die Vereinigten Staaten von Amerika betreiben den Aufbau der ANA mit großem Mitteleinsatz. Es besteht Einigkeit, dass es noch weitere fünf bis zehn Jahre dauern wird, um die ANA in die Lage zu versetzen, selbständig (d.h. ohne unmittelbare Mitwirkung internationaler Streitkräfte) Operationen gegen Aufständische im eigenen Land erfolgreich durchzuführen. Traditionell verfügt die Armee in Afghanistan über ein höheres Ansehen als die Polizei. Auch die Besoldung der ANA-Angehörigen ist höher als die der Polizeikräfte. Internationale Ausbilder beklagen das geringe Bildungsniveau und die verbreitete Disziplinlosigkeit der Armeerekruten. (Quelle: Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt I.3)
Die Machtstrukturen in Afghanistan sind vielschichtig und verwoben. Sie haben teilweise feudale Züge. Die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren ist vor diesem Hintergrund schwierig. Politische Rivalitäten beruhen in aller Regel nicht auf ideologisch-programmatischen Gegensätzen. Ihnen liegen vielmehr meist ethnische Konflikte oder Rivalitäten um Macht und wirtschaftliche Vorteile zu Grunde. Allianzen werden unter pragmatischen Gesichtspunkten geschmiedet. So kommt es für Außenstehende immer wieder zu überraschenden Koalitionswechseln, wenn dies aus Sicht der Beteiligten zur Erreichung ihrer Ziele opportun erscheint.
...
Es gibt Hinweise, dass einzelne Regierungsmitglieder und einflussreiche Parlamentsabgeordnete die Verfolgung, Repression und auch Tötung von politischen Gegnern billigen. Von einer organisierten, gezielten oder zentral gesteuerten Verfolgung kann gleichwohl nicht die Rede sein.
Ehemalige Kommunisten können sich in Kabul dann gefahrlos aufhalten, wenn sie über schützende Netzwerke und Kontakte, auch zu Regierungsvertretern, verfügen. (Quelle: Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt II.1.1)
Eine große Gefahr für die Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Menschenrechtsverletzer praktisch keinen Einfluss. Sie kann diese Täter weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder sie verurteilen. Wegen des desolaten Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen häufig ohne Sanktionen.
"Warlords", Drogenbarone, Regionalkommandeure und Milizenführer unterdrücken in ihrem
Machtbereich jegliche Opposition, oft mit harten Sanktionen. Lokale Machthaber (Clanchefs, Milizenführer) inhaftieren politisch Andersdenkende ohne förmliches Gerichtsverfahren und sollen geheime, ¿persönliche' Gefängnisse unterhalten, teilweise um politische Gegner einzuschüchtern, teilweise um Lösegelder zu erpressen. (Quelle: Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt II.2)
In the context of Afghanistan, harmful traditional practices,
including ... blood feuds, impact both men and women. .. The
following groups are deemed to be exposed to a heightened risk of violence, harassment or discrimination:
... and
women and men who might be at risk of becoming victims of a blood feud; in Afghan tradition, blood feuds are conflicts between opposing families, tribes and armed factions emerging from disputes and killings over property or the violation of women's honour.
...
In the context of Afghanistan, a blood feud is a long-running argument or fight, with a cycle of retaliatory violence between parties - often, through guilt by association of individuals or groups of people, especially families or tribes with the relatives of someone who has been killed, or otherwise wronged or dishonoured. In such a situation, the victim's family or tribe members seek revenge by killing, physically injuring and/or publicly shaming the perpetrator(s) or his/her family or tribe members.
Blood feuds are often initiated in reaction to alleged violations to the honour of women, property rights, land and water issues. In accordance with the norms of the Pashtunwali code the causes of blood feuds/culture of revenge are the violation of "zar, zan, zamin" - gold, woman and land. Killing or injuring as a result of a dispute over water and land, or unlawful relations with a woman create blood feuds and usually end with the death of the perpetrator, his/her family or tribe member, or an exchange of girls in compensation of crimes committed. With decades of war and conflict, the tradition of blood feuds has expanded and is now common among armed factions, even including those of non-Pashtun ethnic origin, such as Tajik, Uzbek and Hazara. (Quelle. UNHCR ¿s Eligibility guidelines for assessing the international protection needs of afghan asylum-seekers, Abschnitt III.B.8)
Die Lebensbedingungen sind landesweit schlecht. Die Gefährdung des Einzelnen, zu einem Opfer von Gewalt oder einer Menschenrechtsverletzung zu werden, ist im gesamten Land gegeben. Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar und wirkt sich dementsprechend auf die Gefährdungssituation des Einzelnen aus. Ob eine Person sich einer möglichen Gefährdung durch ein Ausweichen im Land entziehen kann, hängt maßgeblich von dem Grad ihrer familiären, tribalen und sozialen Vernetzung ab. (Quelle:
Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Abschnitt II.3)
3. Beweiswürdigung:
3.1 Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers ergeben sich aus dessen Angaben und aus der im Rechtsmittelverfahren vom Beschwerdeführer vorgelegten Kopie des Staatsbürgerschaftsnachweises seines Vaters. Aufgrund der Übereinstimmung der Angaben zur Person des Vaters in dieser Kopie (Name, Alter, Beruf, Herkunftsregion) und den diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 27.09.2002 und im Rechtsmittelverfahren erscheinen diese Angaben glaubhaft. Auch durch die Sprach- und Lokalkenntnisse des Beschwerdeführers wurden diese Angaben belegt.
Im angefochtenen Bescheid wurde den Angaben des Beschwerdeführers über seinen Fluchtgrund und Fluchtweges bereits vom Bundesasylamt Glaubwürdigkeit zugebilligt, die Abweisung seines Asylantrages aber - infolge einer auf eine Bedrohung seitens der Taliban durch Zwangsrekrutierung reduzierenden Betrachtung seines Vorbringens, die sich wohl aus der am 27.09.2002 in der Dauer von nur 35 Minuten eher kursorisch erfolgten Einvernahme zu den Fluchtgründen ergeben hat - damit begründet, dass aufgrund der aktuellen allgemeinen und politischen Situation eine konkrete asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht anzunehmen ist.
Die im Rechtsmittelverfahren erfolgte Ergänzung des Vorbringens des Beschwerdeführers über seine Bedrohungssituation ist der Beurteilung zugrunde zu legen. Es ist die vom Beschwerdeführer im Verfahren gegeben Begründung für den Umstand, warum er den Verfolger erst in der mündlichen Verhandlung am 25.01.2007 namentlich bezeichnet hat, glaubhaft, wonach er aufgrund der Gespräche seines Vaters mit den Schleppern davon ausgehen musste, dass er seinen Asylantrag erst in England stellen müsse. Zusätzlich ist zu bemerken, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Verfahrens noch minderjährig war und ihm daher auch der Umstand, dass er über den Ablauf eines Asylverfahrens in Europa keine konkreten Kenntnisse hat, nicht zum Nachteil gereichen kann. So ist es verständlich, dass der Beschwerdeführer sich hinsichtlich der in den einzelnen Verfahrensschritten erforderlichen Verfahrenshandlungen auf die Aussagen seiner Betreuer verlassen hat. Bestärkt wurde der Beschwerdeführer in dieser Einschätzung aber auch darin, dass für die schriftliche Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 27.09.2002 vor dem Hintergrund der Komplexität der allgemeinen Situation in Afghanistan und einiger unpräziser Ausführungen des Beschwerdeführers, die wohl auf Unschärfen zurückzuführen sein dürften, welche sich durch die Heranziehung eines aus dem Iran stammenden Dolmetschers für Farsi ergeben haben, für die Ausführungen über seinen Fluchtgrund trotz des Erfordernisses der Übersetzung laut der Niederschrift nur 35 Minuten aufgewendet wurden.
Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Erklärungen des Beschwerdeführers in der mündlicen Verhandlungen wird auch berücksichtigt, dass er aktiv versucht hatte, die vollständigen Hintergründe seiner Bedrohungssituation nach einem aufklärenden Gespräch mit seinem Vater ca. 4 Monate nach Ergehen des angefochtenen Bescheids der Rechtsmittelbehörde mitzuteilen. Dass schlussendlich eine eingehende ergänzende Darstellung seine Vorbringens vor der ersten mündlichen Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat nur deshalb unterblieben ist, weil sein Betreuer - wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem unabhängigen Bundesasylsenat am 05.06.2008 auf Befragen bestätigte - die Einbringung eines ergänzenden Schriftsatzes unterlassen hat, zeigt ebenfalls die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer hat seine Ausführungen im Rahmen der ersten mündlichen Verhandlung am 25.01.2007 nicht immer stringent formuliert und mitunter auf gestellte Fragen in einer Art reagiert, die an seiner Glaubwürdigkeit Zweifel aufkommen ließ. Mit Fortdauer der Einvernahme wurde aber ersichtlich, dass es dem Beschwerdeführer allgemein schwer fällt, konkrete Aussagen klar und strukturiert darzustellen. Dieser Umstand kann dem Beschwerdeführer aber nicht zuletzt aufgrund seiner Ausbildung - der Beschwerdeführer kann nur auf eine sechsjährige Schulausbildung zurückgreifen - und wegen seines jugendlichen Alters zum Zeitpunkt der Asylantragstellung in der Beweiswürdigung nicht nachteilig angelastet werden. So ist insbesondere auch auf die Tatsache Rücksicht zu nehmen, dass eine behördliche Einvernahme für einen Jugendlichen, der bis dato noch nie einer solchen Situation ausgesetzt war, durchaus eine Ausnahmesituation darstellen kann. Mit zunehmender Dauer der Einvernahme war auch festzustellen, dass der Beschwerdeführer nach geeigneter Anleitung und auf kurze Fragestellungen leichter auf den Inhalt der Frage eingehen konnte und sich so der von ihm dargelegte Sachverhalt als nachvollziehbar darstellte.
Bei der Beurteilung des Vorbringens war auch zu berücksichtigen, dass angesichts der Jugend des Beschwerdeführers - er war im fraglichen Zeitraum der Vorfälle in seinem Herkunftsland noch unmündig und reiste bereits im Alter von 17 Jahren aus Afghanistan aus - und wegen der traditionellen Prägung der afghanischen Gesellschaft nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Vater des Beschwerdeführers sämtliche relevanten Ereignisse in allen Details mit seinem minderjährigen Sohn erörtert hat. Auch kann von einem Jugendlichen nicht erwartet werden, dass er die seine Familie betreffenden Ereignisse in seiner vollen Tragweite erkennt und in selber Art und Weise wie der von den Vorfällen betroffene Vater wiedergeben kann. Das Bemühen des Beschwerdeführers, seine Angaben möglichst umfassend entsprechend seinem Informationsstandes wiederzugeben, war auch daraus ersichtlich, dass er nach dem aufklärenden Gespräch mit dem Vater sofort versuchte, die erhaltenen Informationen in das Verfahren einzubringen.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers steht letztlich auch im Einklang mit der festgestellten Situation im Herkunftsstaat.
3.2 Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf den Inhalt der genannten aktuellen Quellen. Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der Plausibilität der übereinstimmenden Aussagen, denen die Parteien des Verfahrens nicht entgegengetreten sind, besteht kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.
II. Rechtliche Beurteilung:
1.1 Gemäß Art. 151 Abs. 39 Z 1 B-VG wird mit 1. Juli 2008 der bisherige unabhängige Bundesasylsenat zum Asylgerichtshof. Nach Art. 151 Abs. 39 Z 4 B-VG sind am 1. Juli "beim unabhängigen Bundesaylsenat" anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen. Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor dem nunmehr zuständigen Richter stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.
1.2 Gemäß § 23 AsylGHG (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
Die mit Schreiben vom 19.12.2002 erhobene Berufung gegen den angefochtenen Bescheid gilt daher nunmehr als Beschwerde und es ist der Rechtmittelwerber als Beschwerdeführer zu bezeichnen.
1.3 Gemäß § 75 Abs. 1 erster und zweiter Satz AsylG 2005 sind alle am 31.12.2005 anhängigen Asylverfahren nach dem Asylgesetz 1997 (AsylG) zu Ende zu führen. § 44 AsylG gilt.
Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 sind Verfahren über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die - wie der vorliegende - bis zum 30.04.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 zu führen. Nach § 44 Abs 3 sind die §§ 8, 15, 22, 23 Abs. 3, 5 und 6, 36, 40 und 40a idF BGBl. I Nr. 101/2003 auch auf Verfahren gemäß Absatz 1 anzuwenden.
Nach § 44 Abs.2 AsylG werden Asylanträge, die ab dem 1. Mai 2004 gestellt werden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 in der jeweils geltenden Fassung geführt.
Gemäß § 23 AsylG (bzw. § 23 Abs. 1 AsylG idF der AsylGNov. 2003) ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden.
Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.
2.1 Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.2.1997, 95/01/0454; 9.4.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.4.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.2.2000, 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 9.3.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.6.1994, 94/19/0183; 18.2.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 9.3.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233). Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine inländische Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.3.1999, 98/01/0352). Das einer "inländischen Fluchtalternative" innewohnende Zumutbarkeitskalkül setzt voraus, dass der Asylwerber im in Frage kommenden Gebiet nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).
2.2 Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung von Seiten eines lokalen Mujaheddin-Kommandanten und dessen Anhängern in seiner Herkunftsregion zu befürchten hat. Die damit Bedrohung des Lebens des Beschwerdeführers weist unzweifelhaft asylrelevante Intensität auf.
2.3 Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von "offizieller" Seite dar, sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet. Da das Asylrecht als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist (VwGH 13.11.2001, 2000/01/0098) kommt es aber nicht darauf an, ob die Verfolgungsgefahr vom Staat bzw. Trägern der Staatsgewalt oder von Privatpersonen (zB von lokalen Machthabern, die Machtbefugnisse missbrauchen) ausgeht, sondern vielmehr darauf, ob im Hinblick auf eine bestehende Verfolgungsgefahr ausreichender Schutz besteht (vgl. dazu VwGH 16.4.2002, 99/20/0483; 14.10.1998, 98/01/0262). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshof ist zur Feststellung, ob ein solcher ausreichender Schutz vorliegt - wie ganz allgemein bei der Prüfung des Vorliegens von wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung
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ein "Wahrscheinlichkeitskalkül" heranzuziehen (zB VwGH 22.03.2000, 99/01/0256). Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob es dem Beschwerdeführer möglich ist, angesichts des ihn betreffenden Sicherheitsrisikos ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen bzw. ob der Eintritt des zu befürchtenden Risikos
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trotz Bestehens von Schutzmechanismen im Herkunftsstaat - wahrscheinlich ist. Es ist nicht hervorgekommen, dass es der afghanischen Zentralregierung möglich wäre, Verfolgungshandlungen durch lokale Machthaber oder Gewaltakte durch Angehörige von Mujaheddinfraktionen zu unterbinden. In Afghanistan besteht derzeit kein funktionierender Polizei- oder Justizapparat und es ist nach den getroffenen Feststellungen davon auszugehen, dass die Angehörigen von Mujaheddingruppierungen innerhalb dieser Strukturen Einfluss ausüben können. Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall des Beschwerdeführers daher davon auszugehen, dass er in Afghanistan den Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus der befürchteten Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat.
2.4 Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Im Fall des Beschwerdeführers geht das oben dargestellte Verfolgungsrisiko auf seine Familienangehörigeneigenschaft zum Vater zurück, der einen örtlichen Mujaheddin-Kommandanten G.Y. gegenüber den Taliban verraten hat und so verantwortlich dafür ist, dass zwei Cousins und ein naher Freund dieses örtlichen Mudjaheddinführers bei diesem Überfall getötet wurden. Die Verfolgung des Vaters besteht darin, dass der oben genannte Kommandant nach diesem Vorfall den Vater und die Familie dafür zur Verantwortung ziehen und dessen beiden Söhne töten wollte. Diese Absicht richtet sich hinsichtlich des Vaters des Beschwerdeführers auf einen persönlichen Racheakt. Es ist im Hinblick auf den Beschwerdeführer davon auszugehen, dass die Drohungen und Angriffe gegen den Beschwerdeführer ausschließlich auf dessen Angehörigenverhältnis zu seinem Vater zurückzuführen sind, zumal der Beschwerdeführer selbst niemals einen Angriff oder eine sonstige gegen den lokale Mujaheddinkommandanten gerichtete Handlung gesetzt hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 12.03.2002, Zahl 2001/01/0399, unter Verweis auf sein Erkenntnis vom 26.02.2002, Zahl 2000/20/0517, festgehalten, dass "eine im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie drohende Verfolgung dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unterfallen" würde.
2.5 Zu einer möglichen inländischen Fluchtalternative ist festzuhalten, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (vgl. VwGH vom 8.10.1980, Slg Nr 10.255/A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatlandes offen, in denen er frei vor Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht.
Solches ist im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen; sondern es ist eine inländische Fluchtalternative für den Beschwerdeführer auf Grund der katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Situation im gesamten Herkunftsland sowie wegen der schlechten Sicherheitslage nicht in Betracht zu ziehen, nachdem ihm deshalb bereits durch Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheids Refoulementschutz eingeräumt worden war. Daher besteht keine inländische Fluchtalternative.