TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/19 B2 257984-0/2008

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Veröffentlicht am 19.08.2008
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Spruch

B2 257.984-0/2008/19E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. MAGELE als Einzelrichter über die Beschwerde des G. E., geb. 00.00.1970, StA.:

Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.02.2005, FZ. 03 23.280-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2008 sowie am 19.06.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde von G. E. vom 15.02.2005 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.02.2005, Zahl: 03 23.280-BAT wird stattgegeben und G. E. gemäß § 7 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idF BG BGBl. I Nr. 126/2002, Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass G. E. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Gang des Verfahrens:

 

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden, ist am 01.08.2003 illegal über den Flughafen Wien ohne gültige Reisedokumente in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am 03.08.2003 beim Bundesasylamt einen Antrag gemäß § 3 AsylG eingebracht. Am 05.08.2003 wurde das Asylverfahren gemäß § 30 Abs. 1 AsylG eingestellt, da die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts aufgrund Abwesenheit des Beschwerdeführers nicht möglich war. Am 16.06.2004 wurde der nunmehrige Beschwerdeführer aufgrund des Dubliner Übereinkommens vom Vereinigten Königreich rückübernommen und wurde am 25.08.2004 das Asylverfahren gemäß § 30 Abs. 3 AsylG erneut eingestellt, da in Ermangelung der Bekanntgabe einer Abgabestelle die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht erfolgen konnte.

 

Am 22.11.2004 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens und wurde er in der Folge am 19.01.2005 vom Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die türkische Sprache vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesasylamtes niederschriftlich befragt.

 

Sein damaliges Vorbringen wurde im Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Traiskirchen, vom 03.02.2005, Zahl: 03 23.280-BAT, richtig und vollständig wiedergegeben, sodass der diesbezügliche Teil des erstinstanzlichen Bescheides auch zum Inhalt des gegenständlichen Bescheides erhoben wird.

 

2. Das Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, hat mit Bescheid vom 03.02.2005, Zahl: 03 23.280-BAT, den Antrag des Asylwerbers gemäß § 7 AsylG abgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zulässig ist. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.

 

3. Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben, die Beweiswürdigung der Erstbehörde kritisiert und vorgebracht, dass er im Rahmen der erstinstanzlichen Einvernahme die gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und Erinnerungslücken offen zugegeben habe.

 

4. Am 11.03.2008 führte der Unabhängige Bundesasylsenat eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung durch, zu welcher der Berufungswerber und sein damaliger rechtsfreundlicher Vertreter trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen sind (siehe Verhandlungsprotokoll OZ 9Z). Das Bundesasylamt verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

 

5. Am 06.05.2008 führte der Unabhängige Bundesasylsenat eine weitere öffentliche mündliche Berufungsverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, sein rechtsfreundlicher Vertreter und der Ländersachverständige für die Türkei, Ö. M., teilgenommen haben (siehe Verhandlungsprotokoll OZ 12Z). Das Bundesasylamt verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

 

Im Rahmen dieser Berufungsverhandlung legte der Beschwerdeführer eine Anzeige in türkischer Sprache (Beilage./A) vor.

 

6. Am 19.06.2008 führte der Unabhängige Bundesasylsenat eine weitere öffentliche mündliche Berufungsverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, sein rechtsfreundlicher Vertreter und der Ländersachverständige für die Türkei, Ö. M., teilgenommen haben (siehe Verhandlungsprotokoll OZ 18Z). Das Bundesasylamt verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers und den amtswegigen Ermittlungen gelangt die Behörde nach unten angeführter Beweiswürdigung zu folgenden Feststellungen:

 

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und wurde am 000.00.1970 in der Provinz Mus, Kreis V., geboren. In V. besuchte er auch die Volksschule. Danach arbeitete er in der elterlichen Landwirtschaft und half seinen Eltern bei der Viehhaltung. Zwischen 1990 und 1992 absolvierte er seinen Militärdienst in Ankara. Ende 1996 zog der Beschwerdeführer mit seinen Eltern nach Adana, wo sein Vater in der Baubranche arbeitete. Der Beschwerdeführer war in Adana zwischen 1996 und Jänner 2003 als Maler und Anstreicher tätig. Im Jänner 2003 zog der Beschwerdeführer nach Istanbul, wo er sich bis zu seiner Ausreise aufhielt. Dort lebte er versteckt bei einem Onkel, der für seine Lebenserhaltungskosten aufkam. Die elterliche Landwirtschaft wird derzeit von einem weiteren Onkel des Berufungswerbers betrieben und besteht aus ca. 20 bis 30 Schafen und Großvieh.

 

Der Beschwerdeführer war in Adana politisch tätig, und zwar ist er seit Anfang 1997 Mitglied der HADEP. Diese Mitgliedschaft dauerte bis zum Verbot der HADEP im Jahr 2003 an. Innerhalb der Partei war der Beschwerdeführer in der Jugendorganisation tätig und hat für die Partei Wahlwerbung bzw. Propaganda betrieben, indem er in erster Linie Wohngegenden von Kurden besuchte und die dortigen Bewohner für das Wahlkomitee zu gewinnen bzw. diese von den Inhalten der HADEP zu überzeugen versuchte, sodass diese gewählt wird.

 

Die Polizei beobachtete das HADEP Büro in Adana regelmäßig und wurde der Beschwerdeführer seit dem Jahr 1997 beim Verlassen des Büros mehrfach von Polizisten in Zivil mitgenommen. In den Jahren 1997 und 1998 wurde der Beschwerdeführer in kürzeren Abständen mitgenommen, da er bei der HADEP noch sehr aktiv war. Später haben sich die Abstände der Festnahmen etwas vergrößert, da der Beschwerdeführer nicht mehr sonderlich politisch aktiv war. Diese Festnahmen dauerten zwischen zwei und drei Tagen, wobei der Beschwerdeführer bei diesen Festnahmen geschlagen und misshandelt wurde und ihm von den Sicherheitskräften gesagt wurde, er solle aufhören für die HADEP zu arbeiten. Da er nichts Illegales getan hatte, wurde er danach jedes Mal wieder freigelassen.

 

Die letzte Festnahme fand am 21.03.2002 anlässlich der Newroz-Feierlichkeiten statt. Der Beschwerdeführer wurde von zivilen Beamten der Anti-Terror-Einheit festgenommen, zum Polizeistützpunkt gebracht, verhört und misshandelt. Nach zwei oder drei Tagen wurde er freigelassen.

 

Als der Beschwerdeführer mit der HADEP in Adana zusammenarbeitete, wurde er im Jahr 2002 wegen Unterstützung der kurdischen Organisation anonym angezeigt. Aufgrund dieser Anzeige wurde der Beschwerdeführer beim Verlassen des HADEP Büros mitgenommen und das Haus seiner Eltern durchsucht. Da er von der Polizei gesucht wurde, verließ er Adana im Jänner 2003 und zog nach Istanbul.

 

Als Folge eines Streites im Rahmen einer Propagandaveranstaltung in einem Café Ende 2002 / Anfang 2003 wurde der Beschwerdeführer von einem Mitglied der damaligen Regierungspartei ANAP, bei der Staatsanwaltschaft Adana im Jahr 2008 wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation (PKK) angezeigt. Aufgrund dieser Anzeige wurde die elterliche Wohnung des Beschwerdeführers von den Sicherheitskräften mehrfach gestürmt und sein Vater nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers gefragt. Bei dieser Gelegenheit wurde dem Vater des Beschwerdeführers von der Anzeige berichtet. Aus diesem Grund beauftragte der Vater des Beschwerdeführers einen Rechtsanwalt, welcher eine Kopie der Anzeige organisierte und dem Beschwerdeführer übermittelte. Aufgrund dieser Anzeige wurde von der Staatsanwaltschaft einen Suchbefehl über den Beschwerdeführer erlassen, mit welchem er in der Provinzhauptstadt Adana gesucht wurde.

 

Aufgrund dieser Anzeige fand am 16.05.2008 beim Strafgericht Adana eine Gerichtsverhandlung statt. Zwei oder drei Wochen vor diesem Termin erhielt der Beschwerdeführer an die Adresse seiner Eltern die Ladung zu dieser Verhandlung. Da der Beschwerdeführer zu dieser Verhandlung nicht erschienen ist, wurde er vom geladenen Zeugenweiterhin belastet und zwar sagte dieser aus, dass der Beschwerdeführer in seiner Herkunftsprovinz für die PKK tätig sei und man ihn dort suchen solle. Aufgrund dieser Aussage hat das Gericht beschlossen, kein Urteil in Abwesenheit zu fällen, sondern die Generalstaatsanwaltschaft der Provinz Mus verständigt und beauftragt, den Beschwerdeführer mittels Haftbefehl in gesamt Ost-Anatolien zu suchen.

 

Derzeit wird der Beschwerdeführer im gesamten Gebiet von Ost-Anatolien mittels Haftbefehl gesucht. Bei der Einreise in sein Heimatland wird sich bereits an der Grenze herausstellen, dass der Beschwerdeführer mittels Haftbefehl in Ost-Anatolien gesucht wird und man wird sich nach dem Inhalt des Haftbefehls erkundigen. Ferner wird man sich bei den Behörden in der Provinz Adana, wo der Beschwerdeführer zuletzt gemeldet war, nach ihm erkundigen und erfahren, dass er dort ebenfalls gesucht wird und eine Gerichtsverhandlung, an der er nicht teilgenommen hat, stattfand. Aufgrund dieser Ergebnisse der Nachforschungen wird der Beschwerdeführer unverzüglich der politischen Polizei überstellt und nach einem Verhör der Antiterrorpolizei übergeben werden. Danach wird er nach Ost-Anatolien überstellt, wo er dem Strafgericht vorgeführt und nach dem Antiterrorgesetz verurteilt werden würde, wobei die zu erwartende Mindeststrafe sieben Jahre Freiheitsentzug beträgt.

 

Der Beschwerdeführer hat sein Heimatland im Sommer 2003 schlepperunterstützt verlassen und am 03.08.2003 gegenständlichen Asylantrag gestellt. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos und hat in Österreich keine Familienangehörigen.

 

Bis vor zwei Jahren hat der Beschwerdeführer in Österreich den Verein Feykom besucht. Derzeit hat er jedoch keinen Kontakt mehr zu diesem Verein.

 

Da der Beschwerdeführer mittels Haftbefehl im gesamten Gebiet von Ost-Anatolien gesucht wird, was bei jedem Grenzübertritt sofort ersichtlich wird, besteht für ihn im konkreten Fall auch keine inländische Fluchtalternative.

 

1.2. Bezüglich Türkei wird Folgendes festgehalten:

 

Das türkische Verfassungsgericht hatte früher in zahlreichen Fällen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Parteien zu verbieten. Die Schließungsverfahren richteten sich entweder gegen islamistische Parteien, z.B. 1998 die "Wohlfahrts-Partei" (Refah Partisi), 2001 die "Tugend-Partei" (Fazilet Partisi), oder die pro-kurdische Parteien, z.B. DEP, HADEP. Mit dem Reformpaket vom 11.01.2003 hat die AKP-Regierung Reformen des Parteien- und Wahlgesetzes beschlossen sowie Partei- und Politikverbote erschwert.

 

Trotzdem wurde 2003 ein Verbotsverfahren gegen die kurdisch orientierte "Demokratische Volkspartei" (DEHAP), die Nachfolge- bzw. Schwesterpartei der HADEP, eingeleitet. Sie hat sich am 19.11.2005 selbst aufgelöst. Die DEHAP stand aufgrund einer mit der PKK und Abdullah Öcalan sympathisierenden Haltung vieler ihrer Mitglieder in der türkischen Öffentlichkeit im Verdacht, Verbindungen zur PKK zu unterhalten. Ihre Nachfolge trat die am 25.10.2005 gegründete "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP) an, zu der sich viele führende kurdische Politiker zusammengeschlossen haben und die zumindest teilweise noch mit der PKK symphatisiert. Ziel der DTP sei die friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes, verlautet aus der Partei, an deren Spitze einige der ehemaligen kurdischen Parlamentsabgeordneten stehen, die enge Kontakte zur Menschenrechtspreis-trägerin Leyla Zana unterhalten.

 

Im Februar 2007 wurden alle angeklagten Parteimitglieder der kurdisch-orientierten "Partei der Rechte und Freiheiten" (HAK-Par) wegen Gebrauchs der kurdischen Sprache verurteilt, fünf Personen zu jeweils einem Jahr Freiheitsstrafe, acht Personen zu jeweils sechs Monaten Freiheitsstrafe, wobei diese Strafe in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Im Falle der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof kündigte das Gericht die Einleitung eines weiteren Verbotsverfahrens gegen die Partei bei der dafür zuständigen Generalstaats-anwaltschaft an.

 

Im Umfeld des DTP-Parteitages vom Februar 2007 wurden insgesamt zehn DTP-Funktionäre in Haft, weitere 55 in Gewahrsam genommen sowie zahlreiche Durchsuchungen von Parteigebäuden durchgeführt. Unter den Festgenommenen, die später teilweise wieder freigelassen wurden, befanden sich auch drei wichtige DTP-Provinzvorsitzende (Diyarbakir, Van, Batman). Die Vorwürfe lauteten überwiegend auf Unterstützung oder Verherrlichung der PKK bzw. Abdullah Öcalans, Anstachelung zum Hass sowie Verstoß gegen das Parteiengesetz wegen Verwendung der kurdischen Sprache auf Flugblättern oder in Reden. Am 26.02.2007, zwei Tage vor dem Beginn des DTP-Parteitages, waren zudem der DTP-Vorsitzende Türk und seine Stellvertreterin Tugluk zu jeweils 18 Monaten Haft verurteilt worden. Sie sollen laut Gerichtsurteil die Verantwortung für ein von einer lokalen DTP-Frauenorganisation herausgegebenes Flugblatt tragen. Gleichwohl konnte der Richter keinen Hinweis finden, dass die beiden vorab Kenntnis von dessen Inhalt hatten. Am 06.03.2007 ist Türk zudem wegen "Verherrlichung" Abdullah Öcalans zu weiteren sechs Monaten Haft verurteilt worden. Er hatte in einer Rede die Isolationshaft Öcalans kritisiert und ihn als Sayin Öcalan (respektvolle Anrede) bezeichnet. Gegen beide Urteile haben die Anwälte Berufung eingelegt. Türk und Tugluk wurden am 22.07.2007 als unabhängige Kandidaten ins türkische Parlament gewählt. Inzwischen hat sich dort eine DTP-Fraktion aus kurdischen unabhängigen Kandidaten gebildet, deren Vorsitzender Ahmet Türk ist.

 

Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei (72 Millionen) - also ca. 14 Millionen Menschen - ist zumindest teilweise kurdischstämmig. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebt die Hälfte bis annähernd zwei Drittel dieser Kurden: ca. 3 Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Rund sechs Millionen kurdischstämmige Türken leben in der Ost- und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig.

 

Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus.

 

Allein aufgrund ihrer Abstammung sind und waren türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, auch aus Vor- oder Nachnamen, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Kleinkindern dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden).

 

Neben den Gewahrsamnahmen und Durchsuchungen anlässlich des DTP-Parteitages im Februar 2007 sind weitere Verfahren gegen die Parteiführung der DTP anhängig. Besondere Brisanz kommt hierbei einem Verfahren gegen den Oberbürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, zu. Der 35-jährige Baydemir ist einer der einflussreichsten Führungspersönlichkeiten der kurdisch-nationalen Bewegung in der Türkei. Er verfolgt seinen eigenen politischen Kurs, hält jedoch Distanz zur PKK. Ihm wird gleichwohl im Zusammenhang mit den gewalttätigen Demonstrationen mit mehreren Toten in der Stadt im Frühling 2006 Unterstützung der Terrororganisation vorgeworfen. Nachdem im Frühjahr 2007 verschiedene Verhandlungstermine stattgefunden hatten, wurde das Verfahren auf den Herbst vertagt. Seinen Angaben zufolge sind noch eine Vielzahl weiterer Gerichts- und Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig.

 

Nach dem von Gendarmerieangehörigen begangenen Anschlag auf das Buchhandlung eines ehemaligen PKK-Mitglieds in der Kleinstadt Semdinli im Südosten der Türkei im November 2005 war ein deutlicher Anstieg der Spannungen zu verzeichnen. Die an der Tat beteiligten beiden Unteroffiziere der Jandarma wurden erstinstanzlich verurteilt, das Verfahren jedoch durch das Appellationsgericht zurückverwiesen. Das Urteil gegen den kurdischen Informanten des (offiziell nicht existierenden) Jandarma-Geheimdienstes JITEM wurde bestätigt. Nach schweren Anschuldigungen gegen den damals designierten Generalstabschef der Armee wurde der Staatsanwalt aus seinem Amt entfernt und mit einem Berufsverbot belegt. Begründet wurde dies damit, er habe durch unbewiesene Vorwürfe gegen einen Militärangehörigen die Standesehre der Staatsanwaltschaft verletzt. Das Verbot erstreckt sich auch auf eine Tätigkeit als Rechtsanwalt.

 

2006 kam es nach den friedlich verlaufenden Newroz-Feierlichkeiten zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK sowie türkischen Sicherheitskräften. Auslöser der Unruhen war die Beerdigung von vier in einem Gefecht mit türkischen Sicherheitskräften getöteten PKK-Terroristen. Die Ausschreitungen forderten in der gesamten Türkei mindestens 15 Todesopfer, darunter mindestens drei Kinder unter 10 Jahren, sowie mehr als 350 Verletzte - hierunter knapp 200 Sicherheitskräfte.

 

2007 verlief das Fest, an dem Pressemeldungen zufolge zwischen 50.000 und 100.000 Menschen teilgenommen haben sollen, überwiegend friedlich, es seien jedoch 250 Festnahmen wegen Provokation sowie Öcalan-Postern erfolgt.

 

Nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Es ist davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verfolgung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen bezieht, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden.

 

Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligungen an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nach türkischem Recht nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gemäß der gültigen Fassung des türkischen Strafgesetzbuches gewertet werden können. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes haben die türkischen Strafverfolgungsbehörden in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung. Dazu gehört auch die Mitgliedschaft in der PKK.

 

Das Auswärtige Amt sieht keine Anzeichen dafür, dass Personen, die in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt haben und die z.B. eine strafrechtliche Verfolgung oder Gefährdung durch "Sippenhaft" in der Türkei behaupten, bei Rückkehr in die Türkei eine Gefährdung durch Folter und Misshandlung droht.

 

Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind weiterhin durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt. Der Abwanderungsdruck aus dem Südosten in den Süden und Westen der Türkei und in das Ausland hält an. Angesichts einer Beruhigung der Lage in Teilen des türkischen Südostens in den vergangenen Jahren und wegen der schwierigen Lebensbedingungen und hohen Arbeitslosigkeit in den Armutsgebieten der großen Städte nahm zuletzt jedoch auch die Zahl der Rückkehrer in die Provinzstädte und Dörfer im Osten und Südosten der Türkei wieder zu.

 

Das Wirtschaftswachstum betrug für das Jahr 2006 6% (im Jahr 2005 lag es bei 7,6%). Kumuliert hat der permanente Aufschwung der türkischen Wirtschaft seit der Wirtschaftskrise vor sechs Jahren ein Wachstum von 50% eingebracht. Die Inflation ist im Jahr 2006 auf 9,65% gestiegen, nachdem sie 2005 mit ca. 7,7% (Verbraucherpreise) den niedrigsten Wert seit über 30 Jahren erreicht hatte.

 

Das BSP pro Kopf betrug im Jahr 2006 ca. 5.000 US $. Dies entspricht einer Steigerung von 20% gegenüber dem Vorjahr. Allerdings ist das BSP sehr ungleich verteilt - allein auf die Metropole Istanbul und ihr Einzugsgebiet entfallen etwa 50% des BSP des ganzen Landes, was deren Anziehungskraft noch erhöht.

 

Nach den Angaben des türkischen Statistikamts (TÜIK) lag die Armutsgrenze Ende 2005 (neueste Zahlen) für einen Vier-Personenhaushalt bei 487 YTL (z.Zt. ca. 285 Euro) und die "Hungergrenze" (ebenfalls Vier-Personenhaushalt) bei 190 YTL (110 Euro). Dagegen lag nach Untersuchungen des Gewerkschaftsdachverbandes Türk Is die so genannte Hungergrenze für einen 4-Personenhaushalt im April 2007 bei ca. 340 ¿ (damals 600 YTL), die Armutsgrenze bei ca. 890 ¿ (1.600 YTL). Das Staatliche Statistische Institut gibt an, dass nach Überwindung der Wirtschaftskrise im Jahr 2003 über 12,6 (von 70,6) Millionen Einwohner, d.h. ca. 18% unterhalb der Armutsgrenze von 2 US$ verfügbares Einkommen pro Tag leben --und weitere 14 Millionen bzw. ca. 20% knapp darüber liegen (2,6 US $ verfügbares Einkommen pro Tag).

 

In der Industrieregion Kocaeli (Marmara-Region) bei Istanbul als "reichster" Provinz ist das Einkommen acht- bis zehnmal höher als in den Agrarprovinzen Mus, Agri und Bitlis im Osten des Landes. Einkommensniveau und Lebensstandard sind aber auch in den Großstädten Gaziantep und Kayseri mit großen Industriezonen hoch und entsprechen weitgehend mitteleuropäischem Standard. Es ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Schattenwirtschaft weiterhin sehr hoch ist und daher die realen Durchschnittseinkommen wesentlich höher liegen dürften als die offiziellen statistischen Angaben. Der für das Jahr 2006 gültige Netto-Mindestlohn beträgt (umgerechnet) ca. 240 ¿.

 

Die Arbeitslosenquote liegt deutlich über den offiziell angegebenen 9,1%. Schätzungen gehen von landesweit neun Millionen Arbeitslosen aus, was einem Anteil von über 30% entspräche. In vielen Gegenden des Südostens liegt die Arbeitslosigkeit de facto bei 70%. Seit Anfang des Jahres 2002 werden in begrenztem Maße Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausgezahlt. Viele Familien in den Städten profitieren weiterhin von Unterstützung durch Verwandte auf dem Land in Form von "Naturalien" (landwirtschaftliche Produkte aus eigener Produktion) und könnten ansonsten die gestiegenen Lebenshaltungskosten kaum aufbringen.

 

Die Türkei kennt bisher keine staatliche Sozialhilfe nach EU-Standard. Der "Förderungsfonds für Sozialhilfe und Solidarität" (Sosyal Yardimlasma ve Dayanismayi Tesvik Fonu) hilft auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 3294 vom 29.05.1986 für einige Monate bei sozialen Notlagen. Unter vorübergehenden Maßnahmen können dabei z.B. die Übernahme der Wohnmiete, Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung, mit Heizmaterial für den Winter oder mit medizinisch erforderlichen Geräten für Behinderte fallen. Gemäß Art. 2 des Gesetzes sind Leistungen an türkische Staatsangehörige möglich, die sich in Armut oder Not befinden, nicht sozialversichert sind und von keiner Einrichtung für Sozialsicherheit Gehalt oder Einnahmen beziehen. Da die Auszahlung und Gewährleistung der unterschiedlichen Hilfsangebote lokal vorgenommen werden, ist die Entscheidungsfindung oft an subjektiven Kriterien orientiert, personenabhängig und uneinheitlich. Die bisherige Gesetzesänderung beinhaltet aber noch keine Einführung einer einheitlichen Sozialhilfe. Vor Inanspruchnahme wird die Mittellosigkeit des Antragstellers innerhalb von ca. fünf Tagen geprüft - vergleichbar mit der Prüfung eines Antrages für eine "Grüne Karte" (Yesil Kart). Zur Überbrückung der schlimmsten Not kann eine Soforthilfe von zurzeit bis zu 60 ¿ gezahlt werden. Anlaufstelle zur Beantragung der sozialen Leistungen sind die Stadt- bzw. Gemeindeverwaltungen.

 

Da der hohe Anteil informeller Beschäftigung und der aktuelle Mindestlohn von 380,46 YTL (223 Euro) die Versorgung der Familie durch Erwerbseinkommen oft nicht gewährleistet und die soziale Unterstützung durch den Staat nur unzureichend ist, sind Bedürftige darüber hinaus im wesentlichen auf die Unterstützung der Großfamilie und religiöser Stiftungen angewiesen.

 

Die Analphabetenrate liegt im landesweiten Durchschnitt bei etwa 15 - 20%. Der Unterschied der Alphabetisierungsrate zwischen Frauen und Mädchen einerseits und Männern bzw. Jungen andererseits ist groß. So gibt es etwa 6 Millionen Analphabetinnen (ca. 19%), aber im Verhältnis dazu können nur 1,8 Millionen Männer (ca. 6%) nicht lesen und schreiben. Auf dem Lande, bei Frauen und Mädchen und in Familien, in denen nur Kurdisch gesprochen wird, ist die Analphabetenrate überdurchschnittlich hoch.

 

In der Türkei gibt es neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiert, mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standard entsprechen. Das türkische Gesundheitssystem verbessert sich laufend.

 

Die Behandlung in 1.150 staatlichen Krankenhäusern mit ca. 175.000 Betten ist für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten unentgeltlich. Für ärztliche Behandlungen ist je Erkrankungsfall eine Zuzahlung des Patienten vorgesehen. Medikamente sind in der Türkei meist erheblich preiswerter als in Deutschland - für manche werden die Kosten teilweise von den Versicherten getragen (20% bei Versicherten und deren Familienangehörigen, 10% bei Rentnern und deren Familienangehörigen). In der staatlichen Krankenversicherung sind Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen versichert. Die Behandlung in den staatlichen "Zentren für Mutter und Kind sowie Familienplanung" ist generell unentgeltlich. Sowohl staatliche als auch private Krankenhäuser werben mit Erfolg im Ausland für Behandlungen in der Türkei. Die stationären Kosten liegen oft nur bei 25% der Kosten in westlichen Industrieländern, sind aber in Relation zu den türkischen Einkommensverhältnissen höher als dort.

 

Während die Versorgung in den modernen privaten Einrichtungen westlichen Standards entspricht, gilt dies nicht immer für öffentliche Krankenhäuser. Vor allem auf dem Land sind erhebliche Defizite festzustellen. Geräte- und personelle Ausstattung reichen oft nicht aus, um Behandlungen rechtzeitig durchzuführen. In diesen Fällen besteht die Möglichkeit, die Patienten in Behandlungszentren der nächstgelegenen größeren Städte zu überweisen.

 

Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" (Yesil Kart) ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Die Voraussetzungen, unter denen mittellose Personen in der Türkei die Grüne Karte erhalten, ergeben sich aus dem Gesetz Nr. 3816 vom 18.06.1992 und aus dem Änderungsgesetz Nr. 5222 vom 14.07.2004. Als mittellos gilt, wer einerseits nicht in einer Sozialversicherungsanstalt versichert ist, andererseits über ein monatliches Einkommen unter 130 YTL verfügt. Weiteres Vermögen, z.B. KFZ, Bankguthaben oder Immobilien werden angerechnet. Aufgrund neuerer Vorschriften wurde das Prüfungsverfahren für die Vergabe der Yesil Kart neu geregelt. Rückkehrer aus dem Ausland unterliegen dem gleichen Prüfungsverfahren hinsichtlich ihrer Mittellosigkeit wie im Inland lebende türkische Staatsangehörige. Nach Angaben der zuständigen Stellen gibt es in der Türkei ca. zwölf Mio. Inhaber einer "Grünen Karte".

 

Eine "Grüne Karte" kann nur in der Türkei beantragt werden. Die Mittellosigkeit des Antragstellers wird seit dem 06.12.2006 unter Beteiligung verschiedener Behörden von Amts wegen festgestellt. Die zuständige Kommission des Landratsamtes entscheidet über die Anträge, wobei sich die Bearbeitungszeiten erheblich verkürzt haben.

 

Inhaber der "Grünen Karte" haben grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung. Mittlerweile könne Yesil-Kart-Empfänger Medikamente in allen Apotheken beziehen. In der Übergangszeit zwischen Beantragung und Ausstellung der "Grünen Karte" werden bei einer Notfallerkrankung sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden Ausgaben übernommen. Stationäre Behandlung von Inhabern der "Grünen Karte" umfasst die Behandlungskosten sowie Medikamentenkosten in Höhe von 80%. Für Leistungen, die nicht über die "Grüne Karte" abgedeckt sind, stehen ergänzend Mittel aus dem jeweils örtlichen Solidaritätsfonds zur Verfügung (Sosyal Yardim ve Dayanisma Fonu).

 

Eine medizinische Versorgung sowie die Behandlungsmöglichkeit psychischer Erkrankungen ist grundsätzlich türkeiweit gegeben.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die Feststellungen zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers ergeben sich aus den glaubwürdigen Aussagen des Beschwerdeführers anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 19.01.2005 und in den beiden Berufungsverhandlungen vom 06.05.2008 und vom 19.06.2008. Ferner ergeben sich diese Feststellungen aus dem in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 19.06.2008 erstatteten Gutachten des Sachverständigen Ö. M., welches dieser unter anderem auch auf der Grundlage der vom Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung vom 06.05.2008 vorgelegten Anzeige (Beilage./A) erstattet hat.

 

Die Feststellung zur HADEP Mitgliedschaft und den damit zusammenhängenden Tätigkeiten des Beschwerdeführers ergibt sich ebenfalls aus dessen Aussage. Auch wenn der Sachverständige in diesem Zusammenhang - gemäß seinem Gutachten - bei seinen Recherchen keine Bestätigung für eine HADEP Mitgliedschaft des Beschwerdeführers finden konnte, folgt der Asylgerichtshof hier den Angaben des Beschwerdeführers, da sich die Anzeige und der Haftbefehl, die nach dem Sachverständigengutachten tatsächlich existent sind, unmittelbar aus der angeführten HADEP Mitgliedschaft ergeben.

 

Darüber hinaus ergeben sich die Feststellungen zur Anzeige, zum Such- sowie zum Haftbefehl und zur Gerichtsverhandlung am 16.05.2008 sowie zu deren Folgen, insbesondere bei einer eventuellen Einreise in die Türkei für den Beschwerdeführer aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen Ö. M., erstattet in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 19.06.2008 sowie aus der vorgelegten Beilage./A.

 

Ganz allgemein ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer in der Berufungsverhandlung durch sein Auftreten und die Spontaneität seiner Antworten den Eindruck vermittelte, das Erzählte tatsächlich erlebt zu haben. Im Übrigen erscheinen die vom Beschwerdeführer geschilderten Vorkommnisse sowie die damit zusammenhängenden Befürchtungen auch vor dem Hintergrund der oben getroffenen Länderfeststellungen als plausibel.

 

2.2. Die Feststellungen zur Türkei ergeben sich aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom September 2007, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, und den darin angeführten Quellen.

 

3. In rechtlicher Hinsicht ist dazu Folgendes auszuführen:

 

3.1. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 idF der AsylG-Novelle 2003 sind Verfahren über Asylanträge, die bis zum 30.04.2004 gestellt worden sind, nach den Bestimmungen des AsylG idF BGBl. I 126/2002 zu führen. Der Beschwerdeführer hat seinen Asylantrag vor dem 1. Mai 2004 gestellt; das Verfahren war am 31. Dezember 2005 anhängig; das Verfahren ist daher nach dem AsylG idF BGBl. I 126/2002 zu führen.

 

3.2. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

3.3. Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 23 AsylG (bzw. § 23 Abs. 1 AsylG idF der AsylGNov. 2003) ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden. Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

3.4. Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling im Sinne des AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG 1997 zugrunde liegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0034). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; VwGH vom 21.09.2000, Zl. 2000/20/0241 sowie VwGH vom 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 19.04.2001, Zl. 99/20/0273 sowie VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 sowie VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

 

Rechtlich folgt aus dem festgestellten Sachverhalt, dass der Beschwerdeführer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist, da ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine asylrechtlich relevante Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung bzw. wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit drohen würde. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird (vgl. VwGH vom 06.05.2004, Zl. 2002/20/0156 sowie VwGH vom 17.09.2003, Zl. 2001/20/0303). Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist (vgl. VwGH vom 30.09.1997, Zl. 96/01/0891 und VwGH vom 12.09.2002, Zl. 2001/20/0310), oder dass die Strafe für ein im Zusammenhang mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient (vgl. in diesem Sinne etwa die Erkenntnisse des VwGH vom 17.09.2003, Zl. 2001/20/0303, und vom 06.05.2004, Zl. 2002/20/0156; jeweils mwN).

 

Der Beschwerdeführer war von 1997 bis zum Jahr 2003 Mitglied der HADEP und alleine aufgrund dieser Mitgliedschaft insbesondere in den Jahren 1997 und 1998 bereits mehrfach zwei- bis dreitägigen Festnahmen durch die Polizei ausgesetzt, im Rahmen derer er misshandelt, geschlagen und ihm gesagt wurde, er solle aufhören, für die HADEP zu arbeiten. Die letzte Festnahme erfolgte im Jahr 2002 anlässlich einer Newroz-Feier und dauerte wieder zwei- bis drei Tage an. Der Beschwerdeführer wurde zweimal - einmal anonym und einmal von einem politischen Gegner - wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation [gemeint: die PKK] angezeigt und wurde zunächst in Zusammenhang mit diesen Anzeigen die elterliche Wohnung des Beschwerdeführers von den Sicherheitskräften gestürmt, durchsucht und nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers gefragt. Am 16.05.2008 fand eine Gerichtsverhandlung in Abwesenheit des Beschwerdeführers statt, bei welchem der Beschwerdeführer durch den Zeugen (und Anzeiger) schwer belastet wurde. Aufgrund dieser Verhandlung sowie Beschluss des Gerichtes wird der Beschwerdeführer nunmehr im gesamten Gebiet Ost-Anatoliens mittels Haftbefehl gesucht. Der Beschwerdeführer ist sohin ins Blickfeld der türkischen Behörden geraten und würde bei einer Einreise in die Türkei aufgrund des Haftbefehls unverzüglich festgenommen und in der Folge nach dem Antiterrorgesetz zu einer mindestens siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Festnahmen nicht nur wegen der HADEP Mitgliedschaft, sondern auch aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers erfolgt sind. Weiters wird der Beschwerdeführer - wie bereits oben erwähnt - mittels Haftbefehl im gesamten Gebiet Ost-Anatoliens gesucht, sodass ihm eine legale Einreise in die Türkei nicht möglich ist, und ihm daher keinesfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. Wie dem Sachverständigengutachten zu entnehmen ist, würde er im Falle einer Rückkehr in die Türkei jedenfalls der politischen Polizei überstellt und nach einem Verhör der Antiterrorpolizei übergeben werden. In der Folge würde er aufgrund des Haftbefehls für Ost-Anatolien dem Strafgericht vorgeführt und nach dem Antiterrorgesetz verurteilt werden, wobei die Strafe mindestens sieben Jahre Freiheitsentzug beträgt.

 

Aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer - wie vorhin ausführlich dargestellt - bereits in der Türkei Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt war und nunmehr auch mittels Haftbefehl im gesamten Gebiet von Ost-Anatolien gesucht wird, hat er bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit großer Wahrscheinlichkeit eine asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten.

 

Schlussendlich bleibt noch zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer eventuell eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Würde dem Beschwerdeführer eine gefahrlose Einreise in Landesteile seines Landes offen stehen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies auch zumutbar, so bedarf es des asylrechtlichen Schutzes nicht (vgl. VwGH vom 08.09.1999, Zl. 98/01/0503; sowie VwGH vom 25.11.1999, Zl. 98/20/0523).

 

Im konkreten Fall besteht jedoch - wie bereits oben erwähnt - für den Beschwerdeführer keine inländische Fluchtalternative, da bei seiner Einreise an der Grenze Nachforschungen angestellt werden und man sofort die Informationen über den Haftbefehl für Ost-Anatolien erhalten würde. Daher wird der Beschwerdeführer bei der Rückkehr am Flughafen unverzüglich festgenommen und der politischen Polizei übergeben werden.

 

Zusammenfassend ist sohin festzuhalten, dass im Sinne einer Gesamtbetrachtung der höchstgerichtlichen Judikatur die Furcht des Asylwerbers vor einer politischen bzw. ethnischen Verfolgung zu Recht begründet ist und der Beschwerdeführer bei einer eventuellen Rückkehr in die Türkei mit großer Wahrscheinlichkeit mit asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu rechnen hätte, wobei dem Beschwerdeführer eine inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung steht, weshalb ihm die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zukommt.

 

Gemäß § 12 AsylG ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen oder auf Grund Asylantrages Asyl gewährt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
ethnische Verfolgung, gesamte Staatsgebiet, Misshandlung, politische Aktivität, politische Gesinnung, strafrechtliche Verfolgung, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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