TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/19 S11 401021-1/2008

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Veröffentlicht am 19.08.2008
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Spruch

S11 401.021-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichterin über die Beschwerde des A.Z., geb. 00.00.2007, vertreten durch die gesetzliche Vertreterin A.A., geb. 00.00.1985, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.07.2008, Zahl: 08 05.751-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

BEGRÜNDUNG

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Bescheiderlassung ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt.

 

Der Beschwerdeführer reiste am 04.07.2008 gemeinsam mit seiner Mutter, illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag vertreten durch seine Mutter einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 04.07.2008 wurde die Vertreterin des Beschwerdeführers erstmals durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen, am 21.07.2008 fand eine weitere Einvernahme beim Bundesasylamt in Gegenwart eines Rechtsberaters statt.

 

Eine Eurodac-Anfrage ergab, dass der Beschwerdeführer bereits am 14.06.2008 durch seine gesetzliche Vertreterin in Polen einen Asylantrag eingebracht hat. Gestützt auf diese Angaben aus dem Eurodac-System stellte das Bundesasylamt am 07.07.2008 ein Wiederaufnahmeersuchen an Polen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-Verordnung). Die zuständige polnische Behörde stimmte einer Wiederaufnahme mit Schreiben vom 08.07.2008, eingelangt am 09.07.2008 gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-Verordnung zu.

 

Am 09.07.2008 bestätigte die Vertreterin des Beschwerdeführers mit ihrer Unterschrift den Erhalt der Mitteilung des Bundesasylamtes gemäß § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG, wonach beabsichtigt sei, den Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit Polen geführt würden. Die Mitteilung über die Führung von Konsultationen wurde sohin innerhalb der 20-Tagesfrist nach Antragseinbringung übermittelt.

 

Der Beschwerdeführer brachte durch seine Vertreterin im Verfahren folgenden entscheidungsrelevanten Sachverhalt vor: Seine Mutter sei 2005 von K./Russische Föderation mit dem Zug gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten nach Kirgistan gereist, wo sie sich bis 2008 in Bischkek aufgehalten hätten. Am 05.06.2008 sei sie gemeinsam mit dem Beschwerdeführer, ihrem 2007 geborenen Sohn, mit dem Zug über Moskau nach Brest/Belarus und weiter nach Teraspol/Polen gefahren, wo sie am 14.06.2008 angekommen sei. Sie habe in Polen einen Asylantrag gestellt und dort in zwei verschiedenen Lagern gelebt, bis sie am 03.07.2008 gemeinsam mit dem Beschwerdeführer mit einem PKW Richtung Österreich gereist sei. Ihr Lebensgefährte sei zwischenzeitlich verschwunden. Am 04.07.2008 sei sie in Traiskirchen eingetroffen, wo sie neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht habe. Sie wolle nicht nach Polen zurück, da in Österreich nahe Verwandte lebten, deren Unterstützung sie benötige.

 

Das Bundesasylamt wies mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.07.2008, Zl: 08 05.751-EAST Ost, den Asylantrag des Beschwerdeführers, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach gleichzeitig aus, dass für die Prüfung des gegenständlichen Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-Verordnung Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei. Feststellungen zur Situation in Polen wurden im Bescheid ausgeführt. Ein besonderes - ein Selbsteintrittrecht bedingendes - Bezugsverhältnis zu den im Bundesgebiet lebenden Verwandten des Beschwerdeführers wurde verneint.

 

2. Gegen diesen am 28.07.2008 zugestellten Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, worin insbesondere darauf hingewiesen wurde, dass keinerlei Erhebungen betreffend die tatsächlich bestehende Intensität der familiären Beziehungen getätigt wurden. Weiters wurde generell angeführt, dass in Polen kein faires Asylverfahren gewährleistet sei.

 

3. Die Beschwerde langte am 13.08.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

1. Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden.

 

Im gegenständlichen Fall wurde der Asylantrag im Februar 2007 gestellt, weshalb § 5 AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005 zur Anwendung gelangt.

 

1.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden. Aufgrund der im Februar 2007 erfolgten Asylantragstellung bezieht sich in casu § 5 AsylG auf die Dublin II-Verordnung, da gemäß Art. 29 leg. cit. diese Verordnung auf Asylanträge anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten - dies ist der 01.09.2003 - gestellt werden.

 

Die Dublin II-Verordnung ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

1.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II-Verordnung) Kriterien der Art. 6 bis 12 beziehungsweise 14 und Art. 15 Dublin II-Verordnung zuständig ist oder die Zuständigkeit bei ihm selbst nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II-Verordnung (erste Asylantragstellung) liegt.

 

Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit von Polen gemäß Art.16 Abs. 1 lit. c Dublin II-Verordnung besteht. Eine solche Zuständigkeit wurde von Polen auch ausdrücklich anerkannt.

 

Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-Verordnung - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, Zl. 2005/20/0444).

 

1.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen sein, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11 festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-Verordnung erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich richtigerweise an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in bezog auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0449).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II-Verordnung). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-Verordnung, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-Verordnung), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen hat, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-Verordnung umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

1.1.2.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Es leben nach Angaben der Vertreterin des Beschwerdeführers keine Angehörigen der Kernfamilie in Österreich. Jedoch leben hier seit 2004 die Großmutter, eine Tante und zwei Onkel des Beschwerdeführers, deren Asylstatus seit 2005 rechtskräftig positiv ist. Eine außergewöhnliche Nahebeziehung im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses zu diesen Personen wurde vom Bundesasylamt im erstinstanzlichen Bescheid nicht festgestellt. Eine solche sei von der Vertreterin des Beschwerdeführers nicht vorgebracht worden.

 

Dazu ist jedoch auszuführen, dass die Mutter des Beschwerdeführers in der niederschriftlichen Einvernahme vom 21.07.2008 angab, dass sie von ihrer Familie unterstützt werde und diese Unterstützung auch brauche, insbesondere, da ihr Lebensgefährte verschwunden sei. Das Bundesasylamt wäre nun sehrwohl gemäß § 18 Abs. 1 AsylG gehalten gewesen, die Mutter in dieser Richtung weiterzubefragen und festzustellen, ob und inwieweit ein dublinrelevantes Familienverhältnis tatsächlich besteht, nachdem von der Mutter Vorbringen in dieser Richtung gemacht wurden. Weder wurde jedoch hinterfragt, ob in der Heimat seinerzeit einen Familiengemeinschaft bestand, noch wurde - auch unter Würdigung des längeren getrennten Aufenthaltes der Familienmitglieder und im Hinblick auf die nunmehrige Abwesenheit des Lebensgefährten der Mutter - näher darauf eingegangen, inwieweit die behauptete Unterstützung tatsächlich nun notwendig wäre und auch tatsächlich stattfinde.

 

Die letztendliche Feststellung im erstinstanzlichen Bescheid, dass kein relevantes Familienverhältnis bestehe, ist so nicht aus dem angeführten Sachverhalt nachvollziehbar, der Sachverhalt ist nach Ansicht des Asylgerichtshofs nicht ausreichend genug ermittelt, um ihn einer Entscheidung zugrundezulegen..

 

1.1.2.2. Kritik am polnischen Asylwesen

 

Im konkreten Fall wurde weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in der Beschwerde ein konkretes Vorbringen in Bezug auf eine mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat getätigt.

 

Konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische AsylwerberInnen unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist gleichfalls nicht erstattet worden. Der bloße Umstand, dass eine Reihe von Asylverfahren negativ endet (wobei in Polen notorischerweise AntragstellerInnen aus Tschetschenien zumindest tolerierten Aufenthalt erhalten) ist mangels Bestehen eines allgemeinen Konsens über eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Russland (auch in Österreich wird eine solche in der Regel nicht bejaht) und mangels verifizierbarer Angaben über ein Fehlverhalten polnischer Behörden im vorliegenden Fall kein ausreichendes Argument die Regelvermutung des § 5 Abs 3 AsylG erschüttern zu können.

 

Die aktuellen auf Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation beruhenden Feststellungen des Bundesasylamtes zu Polen, werden diesem Erkenntnis zugrunde gelegt.

 

2. Im fortgesetzten Verfahren wird die Erstbehörde (sofern eine neuerliche Erlassung einer Unzuständigkeitsentscheidung nach § 5 AsylG beabsichtigt ist), nach Durchführung des ergänzten Beweisverfahrens die daraus gewonnenen Erkenntnisse der neuerlichen Entscheidung mit einer entsprechend nachvollziehbaren Würdigung zugrundelegen.

 

Auf die Notwendigkeit der Wahrung des persönlichen Parteiengehörs in einer Einvernahme ist zu verweisen.

 

3. Als maßgebliche Determinante für die Anwendbarkeit des § 41 Abs 3 AsylG in diesem Zusammenhang ist die Judikatur zum § 66 Abs 2 AVG heranzuziehen, wobei allerdings kein Ermessen des Asylgerichtshofes besteht.

 

Auch der Asylgerichtshof ist zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (vgl. dazu VwGH 21.11.2002, 2002/20/0315 und 21.11.2002, 2000/20/0084; ferner VwGH 21.09.2004, Zl. 2001/01/0348). Eine kassatorische Entscheidung darf vom Asylgerichtshof nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt, wie dargestellt, keine ordnungsgemäß begründete Entscheidung (vgl Art. 19 Abs 2 1. Satz Dublin II-Verordnung und Art. 20 Abs 1 lit. e 2. Satz Dublin II-Verordnung) erlassen. Der Asylgerichtshof war auf Basis eines so gestalteten erstinstanzlichen Verfahrens praktisch nicht mehr in der Lage innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Entscheidungsfristen (§ 37 Abs. 3 AsylG) eine inhaltliche Entscheidung zu treffen. Der angefochtene Bescheid konnte daher unter dem Gesichtspunkt des § 41 Abs. 3 AsylG keinen Bestand mehr haben.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

 

Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs 4 AsylG entfallen.

Schlagworte
Familienverfahren, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
20.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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