TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/20 A5 311136-1/2008

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Veröffentlicht am 20.08.2008
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Spruch

A5 311.136-1/2008/9E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. SCHREFLER-KÖNIG als Vorsitzende und die Richterin Mag. HÖLLER als Beisitzerin im Beisein der Schriftführerin VB Wilhelm über die Beschwerde der O. Q., geb. 00.00.1983, StA. Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.03.2007, Zl. 06 04.236-BAI in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde von O. Q. vom 23.3.2007 wird der bekämpfte Bescheid des Bundesasylamtes behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Entscheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

Entscheidungsgründe

 

Verfahrensgang

 

I.1.Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von internationalem Schutz vom 19.4.2006 abgewiesen, ihr den Status des Asylberechtigten und den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Nigeria nicht zuerkannt und diese Entscheidung mit einer Ausweisung verbunden.

 

I.2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde. Mit 1.7.2008 wurde gegenständliche Beschwerdeangelegenheit dem nunmehr erkennenden Senat des Asylgerichtshofes zur Entscheidung zugewiesen.

 

I. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

II.1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

II.1.1.Die Identität der Beschwerdeführerin konnte nicht festgestellt werden. Es ist davon auszugehen, dass sie Staatsangehörige von Nigeria ist.

 

II.1.2. Sie reiste am 19.4.2006 illegal nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

 

II.1.3. Am Tag der Antragstellung wurde die nunmehrige Beschwerdeführerin gemäß § 19 AsylG 2005 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen. Im Zuge der Erstbefragung gab die Genannte zu ihren Fluchtgründen an, dass sie nach dem Tod ihres Vaters von den Dorfältesten ausgewählt worden als Opfer für die Götter ausgewählt worden sei. Eines Tages sei sie von Männern aus dem Dorf abgeholt worden und in ein abgesperrtes Zimmer verbracht worden, wo sie sieben Tage lang auf die Opferzeremonie warten sollte. Sie sei ausgewählt worden, weil sie die Erstgeborene sei und ihr Vater keine Söhne gehabt hätte. Am 7. Tag sei die nunmehrige Beschwerdeführerin abgeholt und in den Wald gebracht worden. Dort hätte der Älteste die anderen weggeschickt und sie habe geweint und den Dorfältesten angefleht, sie gehen zu lassen. Dieser habe sie schließlich aufgefordert, das Dorf so schnell wie möglich zu verlassen, ansonsten könnten die Götter sie dort auffinden. Seitdem habe die Beschwerdeführerin ihre Schwestern und ihre Mutter nicht mehr wieder gesehen.

 

II.1.4. Am 24.4.2006 führte die belangte Behörde eine niederschriftliche Einvernahme mit der nunmehrigen Beschwerdeführerin durch. Dabei gab die Genannte zu Protokoll, Angst vor den Dorfbewohnern zu haben. Sie sollte als Opfer dargebracht werden und sei vor der Opferung geflohen. Als Grund, warum sie in keinem anderen Teil Nigerias leben könne, führte die Beschwerdeführerin aus, das Orakel könne sie überall finden. Ihre Mutter habe sich sogar an die Polizei gewandt, sei aber von dieser wieder weggeschickt worden.

 

Im Zuge der Einvernahme wurden der nunmehrigen Beschwerdeführerin Feststellungen zur innerstaatlichen Fluchtalternative vorgehalten, zu denen sich die Genannte dahingehend äußerte, überall gefunden werden zu können.

 

II.1.5. Am 10.5.2006 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme der nunmehrigen Beschwerdeführerin vor der belangten Behörde statt. Die Beschwerdeführerin ergänzte ihre bisherigen Ausführungen dahingehend, von den Männern im Schrein vergewaltigt worden zu sein. Sie könne noch bis heute die Stimmen der Männer hören, die ihr verboten hätten, jemandem von der Vergewaltigung zu erzählen und ihr mit dem Tod gedroht hätten, sollte sie sich an diese Vorgabe nicht halten. Sie gehöre den Göttern, weil sie das Essen zu sich genommen habe und sie sei weggeschickt worden, nachdem sie ihre Jungfräulichkeit verloren habe und daher für die Götter nicht brauchbar sei.

 

II.1.6. Die Beschwerdeführerin wurde in der Zeit von 30.4.2006 bis 5.5.2006 im Krankenhaus stationär aufgrund urologischer Probleme behandelt. Im Zuge des Krankenhausaufenthaltes wurde sie operiert.

 

II.I.7. Am 11.5. 2006 wurde die nunmehrige Beschwerdeführerin einer amtsärztlichen Untersuchung unterzogen. Dabei stellte die Ärztin fest, dass bei der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen des § 30 AsylG 2005 vorliegen. Bei der am selben Tag durchgeführten Einvernahme durch die belangte Behörde gab die Beschwerdeführerin, konfrontiert mit dem Untersuchungsergebnis, zu Protokoll, es gehe ihr gut, aber sie denke viel über ihre Probleme nach, sei aber nicht verrückt.

 

II.1.8. Am 28.2.2007 führte die belangte Behörde eine weitere niederschriftliche Befragung mit der nunmehrigen Beschwerdeführerin durch. Dabei wiederholte die Beschwerdeführerin, es ginge ihr gut und sie habe keine Beschwerden, die der Einvernahme entgegenstünden. Sie habe am 27.3. 2006 Benin City mit dem Bus verlassen und nach Lagos gefahren. Von dort habe sie sich mit dem LKW nach Cotounou begeben und ein gewisser Mr. B. habe ihr dann die Ausreise mit dem Schiff ermöglicht. Auf dem Schiff habe sie sich ca. 3 Wochen aufgehalten und letztlich habe sie Österreich zu Fuß und mit dem Taxi erreicht. Über Vorhalt, dass die Beschwerdeführerin ihre Reiseroute offensichtlich verschleiern wolle, meinte sie, dass sie die Wahrheit sage.

 

Zu ihren Lebensumständen in Nigeria führte die Beschwerdeführerin aus, zwei Schwestern im Alter von sechs und 17 Jahren zu haben. Ihr Vater habe nicht gearbeitet, sondern als chief priest dem Orakel gedient. Das Dorf, in dem sie gemeinsam mit ihren Eltern und Schwester in einer Hütte gelebt habe, hieße U.. Sie habe sechs Jahre die Grundschule besucht, danach sei sie gelegentlich von einer Frau im Dorf privat unterrichtet worden und habe außerdem in Benin City, wo sie sich insgesamt 3, 5 Jahre aufgehalten habe, den Beruf einer Friseurin erlernt. Nachdem sie aber gekündigt worden sei, sei sie zu ihrer Mutter zurückgekehrt und habe Früchte verkauft. Ihr Vater sei 2006 verstorben. Nach dessen Tod sei die Mutter der Beschwerdeführerin aufgefordert worden, sie dem Orakel als Opfer zu übergeben. Während sie am Markt gewesen sei, um dort Waren zu verkaufen, seien Männer aus dem Dorf bei ihrer Mutter erschienen und hätten sie aufgefordert, die Beschwerdeführerin für die Götter frei zu geben. Zwei Tage später seien sie neuerlich erschienen, es sei Nacht gewesen und hätten die Beschwerdeführerin und ihre Mutter schon geschlafen. Es habe sich um sechs Männer gehandelt, die sie mitgenommen hätten. An Armen und Beinen festgebunden, sei sie zum Schrein gebracht worden. Die Leute hätten getrunken und das Orakel angebetet und zudem für die Götter getanzt. Die Opferzeremonie dauere sieben Tage. Am sechsten Tag seien die Männer wieder gekommen und ihr angekündigt, dass sie am folgenden Tag geopfert würde. Erst nach ihrem Tod könne ihr Vater beerdigt werden. Sie habe die letzte Nacht im Hauptraum des Schreins verbracht. Einer der Wachen habe ihr versprochen, sie gehen zu lassen, wenn sie mit ihm schliefe. Sie habe eingewilligt, dem Mann aber gleichzeitig gesagt, ihre Jungfräulichkeit nicht an ihn verlieren zu wollen. Er solle sie daher entweder umbringen oder gehen lassen. Er habe aber auf seinem Vorschlag bestanden und so habe sie mit ihm geschlafen. Es seien noch zwei weitere Wachen erschienen und hätten ebenfalls mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt. Danach sei sie frei gekommen und etwa zwei Stunden gelaufen. Der Jäger, dem sie auf ihrer Flucht begegnet sei, habe ihr etwas zum Anziehen gegeben und sie sei mit einem weißen Mann namens Mr. B. in dessen LKW nach Lagos und dann nach Cotounou gefahren. Während sie im Schrein gewesen sei, habe ihre Mutter versucht, Hilfe bei Mr. B. zu bekommen; dies sei aber nicht gelungen.

 

Über Vorhalt ihrer bisherigen anders lautenden Angaben meinte die Beschwerdeführerin im Zuge der Einvernahme, sie habe zu Beginn des Verfahrens nicht die Wahrheit gesagt, zumal sie den Männern, die sie vergewaltigt hätten, versprochen habe, nichts weiter zu erzählen. Zu ihrem Gesundheitszustand gab die Genannte zu Protokoll, keine psychischen Probleme zu haben und weder in Behandlung zu stehen noch Medikamente einzunehmen. Sie höre auch keine Stimmen; die Amtsärztin habe ihr geraten, nicht zuviel nachzudenken.

 

II.1.9. Die Beschwerdeführerin wurde seitens der BPD Linz wegen Ausübung von Prostitution angezeigt.

 

II.1.10. Die belangte Behörde wies den Antrag der nunmehrigen Beschwerdeführerin auf Gewährung von internationalem Schutz ab und begründete ihre Entscheidung zusammengefasst mit der fehlenden Glaubwürdigkeit von deren Angaben. In Bezug auf die Nichtgewährung des subsidiären Schutzes setzte sich die belangte Behörde sowohl mit der seitens der Amtsärztin diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung als auch mit der Nierenerkrankung der Beschwerdeführerin im Verhältnis zu den Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria und der Frage einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK auseinander.

 

II.1.11. Die Beschwerdeführerin bekämpfte die Entscheidung der belangten Behörde fristgerecht mittels Berufung (ab 1.7.2008: Beschwerde) und monierte unrichtige Beweiswürdigung, Verfahrensmängel und unrichtige rechtliche Beurteilung. Die in der Begründung des bekämpften Bescheides dargelegten Widersprüche seien die Folge des posttraumatischen Schockzustandes. Die belangte Behörde habe nur allzu bereitwillig jener Aussage der Beschwerdeführerin in Bezug auf ihren psychischen Gesundheitszustand Glauben geschenkt, wonach es ihr gut gehe. Dem gegenüber müsste sich die belangte Behörde aber bewusst sein, dass unbehandelte Traumata nicht plötzlich verschwinden und wäre daher gehalten gewesen, eine nochmalige ärztliche Untersuchung der Beschwerdeführerin zu veranlassen.

 

II.3. Rechtliche Beurteilung und Beweiswürdigung

 

II.3.1. Gemäß § 28 Abs. 1 AsylGHG, BGBl. I Nr. 2008/4, nimmt der Asylgerichtshof mit 1.7.2008 seine Tätigkeit auf. Das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat (UBASG), BGBl. Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2005, tritt mit 1.7.2008 außer Kraft.

 

II.3.2.Gemäß § 23 AsylGHG sind auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof, sofern sich aus dem Bundes- Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. I/1930, dem Asylgesetz 2005, AsylG 2005, BGBl. Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985- VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991- AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs " Berufung" der Begriff " Beschwerde" tritt.

 

II.3.3.Gemäß § 9 leg.cit. entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.

 

II.3.4. Gemäß § 61 Abs. 1 AsylG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes. Gemäß Abs. 3 entscheidet der Asylgerichtshof durch Einzelrichter über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4, wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5 und wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG sowie über die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung.

 

II.3.5. Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG 2005 sind am 1.7.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren sind vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:

 

1. Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

2. Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.

 

3. Verfahren gegen abweisende Bescheide, die von nicht zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannten Mitgliedern des Unabhängigen Bundesasylsenates geführt wurden, sind nach Maßgabe der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes vom zuständigen Senat weiterzuführen.

 

II.3.6. Gemäß § 41 Abs.7 AsylG 2005 kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 67d AVG.

 

II.3.7. Gemäß § 18 Abs. 1 AsylG 2005 haben das Bundesasylamt und der Asylgerichtshof in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amtswegen beizuschaffen. Gemäß Abs. 2 ist im Rahmen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers auf die Mitwirkung im Verfahren Bedacht zu nehmen.

 

II.3.8. Gemäß § 15 AsylG 2005 hat ein Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken; insbesondere hat er ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Weiters hat er bei Verfahrenshandlungen und Untersuchungen durch einen Sachverständigen persönlich und rechtzeitig zu erscheinen, und an diesen mitzuwirken sowie unter anderen auch dem Bundesasylamt oder dem Asylgerichtshof alle ihm zur Verfügung stehenden Dokumente und Gegenstände am Beginn des Verfahrens, oder soweit diese erst während des Verfahrens hervorkommen oder zugänglich werden, unverzüglich zu übergeben, soweit diese für das Verfahren relevant sind.

 

II.3.9. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen. Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

Auch der Asylgerichtshof ist zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (vgl. dazu VwGH 21.11.2002, 2002/20/0315 und 21.11.2002, 2000/20/0084). Eine kassatorische Entscheidung darf von der Berufungsbehörde nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als "unvermeidlich erscheint". Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa VwGH 14.3.2001, 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG siehe VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084).

 

II.3.10. Die Beschwerdeführerin rügt durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter im Beschwerdeschriftsatz, dass die belangte Behörde selektiv jenen Aussagen der Genannten in Bezug auf ihren psychischen Gesundheitszustand Glauben schenkt, deren Wahrheitsgehalt aber gerade in Frage stünde. Mit diesem Vorbringen ist die Beschwerdeführerin im Recht.

 

Im Zuge der amtsärztlichen Untersuchung im Mai 2006 wurde bei der Beschwerdeführerin ein posttraumatisches Belastungssyndrom diagnostiziert. Es ist diesfalls im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht nach dem Dafürhalten des Asylgerichtshofes nicht ausreichend, ein Jahr nach dieser Diagnose lediglich die Aussagen der Beschwerdeführerin als Maßstab für die Beurteilung heranzuziehen, ob eine Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung im Lichte des Art. 3 EMRK zulässig ist. Zwar befasst sich die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid mit der allgemeinen medizinischen Versorgungslage in Nigeria, stellt aber keinen konkreten Bezug zum aktuellen - amtswegig durch Fachleute zu überprüfenden - Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin her.

 

Die Frage des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin hat im konkreten Fall nicht nur Auswirkungen auf die Entscheidung der Gewährung von subsidiärem Schutz, sondern darüber hinaus auch für die Frage der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens. So ist der belangten Behörde zwar grundsätzlich darin zuzustimmen, dass die Beschwerdeführerin völlig unterschiedliche Angaben zu den Flucht auslösenden Ereignissen gemacht hat und insbesondere auch die konkreten Abläufe völlig divergierend dargestellt hat, dennoch kann aber im vorliegenden Fall erst durch ein aktuelles und aussagekräftiges medizinisches Gutachten abschließend beurteilt werden, ob und inwieweit diese widersprüchlichen Darstellungen tatsächlich (auch) mit der seitens der Amtsärztin diagnostizierten Erkrankung zusammenhängen können.

 

II.3.11. Das erstinstanzliche Verfahren erweist sich daher insgesamt als mangelhaft, so dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, wobei es für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG unerheblich ist, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine bloße Einvernahme erfolgt (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084 mwN; 21.11.2002, 2002/20/0315; VwGH 11.12.2003, 2003/07/0079).

 

Im Rahmen einer solchen Verhandlung bzw. Einvernahme wäre zur vollständigen Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes auch die Erörterung der Ermittlungsergebnisse mit dem Berufungswerber notwendig, um diesem auch das in § 43 Abs. 4 AVG verbürgte Recht zur Stellungnahme zu gewährleisten.

 

II.3.12. Von der durch § 66 Abs. 3 AVG eingeräumten Möglichkeit, die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme selbst durchzuführen, wenn "hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist", war im vorliegenden Fall schon deshalb nicht Gebrauch zu machen, weil das Verfahren vor dem Asylgerichtshof - anders als das erstinstanzliche Asylverfahren - sich als Mehrparteienverfahren darstellt (vgl. § 67b Z 1 AVG), sodass schon aufgrund der dadurch bedingten Erhöhung des administrativ-manipulativen Aufwandes bei Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung, dies unter Berücksichtigung der §§ 51a bis d AVG und der Notwendigkeit der Ladung mehrerer Parteien, keine Kostenersparnis zu erzielen wäre. Hinzu kommt, dass die Vernehmung vor dem Bundesasylamt dezentral durch die Außenstellen in den Bundesländern erfolgt, während der Asylgerichtshof als zentrale Bundesbehörde in Wien (mit einer Außenstelle in Linz) eingerichtet ist, sodass auch diesbezüglich eine Kostenersparnis nicht ersichtlich ist. Im Übrigen liegt eine rechtswidrige Ausübung des Ermessens durch eine auf § 66 Abs. 2 AVG gestützte Entscheidung schon dann nicht vor, wenn die beteiligten Behörden ihren Sitz am selben Ort haben (VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084, unter Verweis auf VwGH 29.01.1987, Zl. 86/08/0243).

 

II.2.11. Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall dem diesbezüglichen Antrag in der Beschwerde Rechnung zu tragen und das dem Asylgerichtshof gemäß § 66 Abs. 2und 3 AVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass im Fall eines gemäß § 66 Abs. 2 AVG ergangenen aufhebenden Bescheides die Verwaltungsbehörden (lediglich) an die die Aufhebung tragenden Gründe und die für die Behebung maßgebliche Rechtsansicht gebunden sind (vgl. z.B. VwGH 22.12.2005, Zl. 2004/07/0010, VwGH 08.07.2004, Zl. 2003/07/0141); durch eine Zurückverweisung nach § 66 Abs. 2 AVG tritt das Verfahren aber in die Lage zurück, in der es sich vor Erlassung des aufgehobenen Bescheides befand (VwGH 22.05.1984, Zl. 84/07/0012), sodass das Bundesasylamt das im Rahmen des Beschwerdeverfahrens erstattete weitere Parteivorbringen zu berücksichtigen und gemäß § 18 Abs. 1 AsylG gegebenenfalls darauf hinzuwirken haben wird, dass dieses ergänzt bzw. vervollständigt wird.

Schlagworte
gesundheitliche Beeinträchtigung, Glaubwürdigkeit, Gutachten, Identität, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
15.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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