TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/20 S8 319900-2/2008

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Veröffentlicht am 20.08.2008
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Spruch

S8 319.900-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Büchele als Einzelrichter über die Beschwerde der E.R., geb. 00.00.1980, StA. Russland, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.07.2008, FZ. 08 02.806-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBL. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, ist am 26.03.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (in der Folge: Asylantrag) gestellt.

 

2. Bei der Erstbefragung am Tag der Antragstellung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Russisch gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie sei gemeinsam mit ihrem Gatten mit der Bahn über Rostof nach Brest gefahren. Von dort aus seien sie am 05.03.2008 bei Terespol nach Polen eingereist. Sie seien im Zug kontrolliert worden und hätten aussteigen müssen. Man habe ihnen die Reisepässe und die Fingerabdrücke abgenommen. Sie habe in Polen einen Asylantrag gestellt. In welchem Stadium sich das Asylverfahren in Polen befunden habe, wisse sie nicht. Sie hätten einen Bekannten getroffen, der sie von Terespol nach Warschau gebracht hätte, da er gemeint habe, dass es in den Flüchtlingslagern in Polen zu gefährlich sei. In Warschau hätten sie einen LKW bestiegen und seien versteckt auf der Ladefläche illegal nach Österreich eingereist. Sie seien in Wien an einem unbekannten Ort angekommen und seien von dort aus mit dem Taxi nach Traiskirchen gekommen.

 

3. Eine Eurodac-Abfrage vom selben Tag ergab, dass die Beschwerdeführerin bereits am 05.03.2008 in Polen einen Asylantrag gestellt hatte. Am 01.04.2008 richtete das Bundesasylamt auf der Grundlage der Eurodac-Anfrage ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) an die zuständige polnische Behörde. Am 02.04.2008 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 29 Abs. 3 AsylG 2005 mitgeteilt, dass mit Polen Konsultationen geführt werden und aus diesem Grund die im § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 normierte 20-Tages-Frist nicht gelte; es sei beabsichtigt, ihren Asylantrag wegen Unzuständigkeit Österreichs zurückzuweisen. Am 04.04.2008 langte ein Schreiben der polnischen Behörden vom 02.04.2008 beim Bundesasylamt ein, worin die Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung bestätigt wurde.

 

4. Bei der am 09.05.2008 stattgefundenen ärztlichen Untersuchung durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, wurde keine krankheitswertige psychische Störung festgestellt. Einer Überstellung nach Polen sei aus medizinischer Sicht möglich.

 

5. Am 13.05.2008 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen. Sie gab dabei im Wesentlichen an, dass sie körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Sie sei gemeinsam mit ihrem Ehegatten nach Österreich gereist. Ihre Schwester lebe seit vier Jahren in Österreich. Mit ihrer Schwester habe sie auch vor deren Ausreise nach Österreich nicht in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Sie sei damals bereits verheiratet gewesen und habe bei ihrem Gatten gelebt. Entfernte Verwandte würden auch in Belgien und Frankreich leben, zu denen habe sie nur ab und zu telefonischen Kontakt. Zur geplanten Ausweisung nach Polen gab die Beschwerdeführerin an, sie wolle nicht Polen, weil ihr Gatte und ihre Schwester in Österreich seien. Sie habe in Polen noch keine Entscheidung über ihren Asylantrag erhalten.

 

6. Das Bundesasylamt hat den Asylantrag der Beschwerdeführerin vom 26.03.2008 mit Bescheid vom 05.06.2008, Zl. 08 02.806-EAST Ost, ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.).

 

7. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Berufung beim Unabhängigen Bundesasylsenat wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 26.06.2008, Zahl:

319.900-1/2E-X/47/08, wurde der Berufung gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben. In der Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag des Ehegatten mit Bescheid des Bundesasylamtes bereits zurückgewiesen worden sei und dieser dagegen fristgerecht Berufung erhoben habe. Die Berufung sei dem Unabhängigen Bundesasylsenat allerdings bislang nicht vorgelegt worden. Da es sich beim Ehegatten um einen Familienangehörigen gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 handle, wäre sohin sein Antrag gemeinsam mit dem der Beschwerdeführerin in einem Familienverfahren zu behandeln gewesen.

 

9. Mit dem nunmehr beim Asylgerichtshof angefochtenen Bescheid vom 28.07.2008, Zahl: 08 02.806-EAST Ost, hat das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin vom 26.03.2008 wiederum ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.). Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu Polen, insbesondere zum polnischen Asylverfahren. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass aus den Angaben der Asylwerberin keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden seien, dass diese konkret Gefahr liefe, in Polen verfolgt zu werden. Zur Schwester in Österreich bestehe seit Jahren kein gemeinsames Familienleben. Es drohe ihr daher keine Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte.

 

10. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde beim Asylgerichtshof wegen der behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts. Die Behörde habe es unterlassen, abzuklären, wie der Stand seines Asylverfahrens in Polen sei. Durch diese Vorgehensweise habe das Bundesasylamt gegen elementare Verfahrensgrundsätze verstoßen, weil keine Prüfung und Auseinandersetzung mit dem Risiko einer Verletzung des Art. 3 EMRK stattgefunden habe. Weiters habe sich das Bundesasylamt nicht ausreichend mit dem Risiko einer Kettenabschiebung durch Polen beschäftigt und nur pauschal dieses Risiko verneint. Überdies würde eine Abschiebung gegen das Recht auf Familien- und Privatleben nach Art. 8 EMRK verstoßen, da ihre Schwester seit 2004 als anerkannter Flüchtling in Österreich lebe.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat ihr Heimatland verlassen und ist am 26.03.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Asylantrag gestellt. Die Beschwerdeführerin ist gemeinsam mit ihrem Ehegatten nach Österreich gereist. Ihre Schwester lebt seit vier Jahren als anerkannter Flüchtling in Österreich; es besteht jedoch mit dieser seit Jahren kein gemeinsamer Haushalt.

 

1.2. Polen hat sich mit Schreiben vom 02.04.2008 (beim Bundesasylamt eingetroffen am 04.04.2008) gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung ausdrücklich für die Wiederaufnahme der Asylwerberin für zuständig erklärt.

 

Die in § 28 Abs. 2 AsylG 2005 festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG 2005 ist nicht anwendbar, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß Dublin-Verordnung binnen Frist mitgeteilt wurde; es ist somit zu keinem Zuständigkeitsübergang an Österreich wegen Fristüberschreitung gekommen.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben der Beschwerdeführerin bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.03.2008 (Aktenseiten 15 - 23), aus der ärztlichen Untersuchung durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin (Aktenseiten 73 - 77), aus der niederschriftlichen Einvernahme der Beschwerdeführerin vom 13.05.2008 (Aktenseiten 83 - 87), sowie aus der Zuständigkeitserklärung Polens vom 02.04.2008 (Aktenseite 15/Unterlagen zu den Dublin-Konsultationen).

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß § 5 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008, (in der Folge: AsylG 2005) ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

 

§ 5 Abs. 3 AsylG 2005 lautet:

 

"(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet."

 

Mit dieser Regelung wurde eine teilweise Beweislastumkehr geschaffen. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, ihr Beschwerdevorbringen zu untermauern (wobei dem auch durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949); dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung in dieser Bestimmung überhaupt für unbeachtlich zu erklären.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin-Verordnung ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger (eine Person, die nicht Bürgerin oder Bürger der Europäischen Union ist) an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.2. Gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach dem AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Asylantrag zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn dem Fremden entweder im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art.3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG 2005 ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin-Verordnung oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.3. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass die Beschwerdeführerin bereits in Polen einen Asylantrag gestellt hat und, dass Polen einer Übernahme der Beschwerdeführerin auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung am 02.04.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Polens zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG 2005 normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.4. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.

 

3.4.1. Zur möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK:

 

Der Verfassungsgerichtshof sprach - noch zur Vorläuferbestimmung im AsylG 1997 - in seinem Erkenntnis VfSlg 16.122/2001, aus, dass § 5 AsylG 1997 nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 leg.cit. vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG 1997 sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden (diese Ausführungen wurden mit VfSlg. 17.340/2004 auf das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung übertragen). Der Verwaltungsgerichtshof schloss sich mit Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes an.

 

Der Verfassungsgerichtshof ergänzte mit VfSlg. 17.586/2005 zur oben wiedergegebene Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die "entsprechende Vergewisserung" nicht durch die Mitgliedstaaten, sondern durch die Organe der Europäischen Union, im konkreten Fall durch den Rat bei der Erlassung der Dublin-Verordnung erfolgt sei. Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten daher nicht nachzuprüfen, ob ein anderer generell sicher ist. Insofern sei auch der Verfassungsgerichtshof an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden. Eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (das einen Bescheid zur Zuständigkeit Italiens auf der Grundlage des Dubliner Übereinkommen zum Gegenstand hatte) sowie in dem (bereits zur Dublin-Verordnung) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Zuständigkeitsverfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist. Dabei sei zu prüfen, ob eine - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiierte reale Gefahr ("real risk") besteht, dass ein aufgrund der Dublin-Verordnung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz berechtigtem Schutzbegehren, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist. Dabei sei insbesondere zu prüfen, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wurde ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (kurz: EGMR) muss der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EGMR, Entsch. vom 07.07.1987 Nr. 12877/87 [Kalema gegen Frankreich], DR 53, S. 254 [264]; zum Maßstab des "real risk" siehe auch die Nachweise in VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582).

 

Zur Behauptung einer möglichen Bedrohung der Beschwerdeführerin:

 

Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass die Beschwerdeführerin ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Polen die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde. Bei der Befragung der Beschwerdeführerin am 26.3.2008 gab sie an, dass sie deshalb nicht in Polen bleiben wolle, weil dort die Leute von Kadyrow seien; ihr Ehegatte habe Angst von diesen verschleppt zu werden. Bei der Befragung am 13.5.2008 gab die Beschwerdeführerin lediglich an, dass sie deshalb nicht nach Polen zurück wolle, weil ihr Ehegatte und ihre Schwester hier seien.

 

Zu möglichen Bedrohungen der Beschwerdeführerin in Polen bzw. dem dortigen Asylverfahren ist weiters auszuführen:

 

Polen ist ein Rechtstaat mit funktionierender Staatsgewalt. Der Beschwerdeführer kann sich im Falle eventueller Übergriffe gegen seine Person bzw. seine Familie - welche im Übrigen in jedem Land möglich wären - an die polnischen Behörden wenden und von diesen Schutz erwarten. Die Beschwerdeführerin wäre daher allfälligen Übergriffen nicht schutzlos ausgeliefert. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass sich die Beschwerdeführerin nicht an die polnischen Behörden hätte wenden können bzw. dass die polnischen Behörden nicht willens oder nicht in der Lage gewesen wären, Schutz zu gewähren.

 

Zusammengefasst stellt daher eine Überstellung der Beschwerdeführerin nach Polen keine Verletzung des Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung dar.

 

3.4.2. Zur möglichen Verletzung nach Art. 8 EMRK

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayr ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im vorliegenden Fall lebt die Schwester der Beschwerdeführerin in Österreich. Diesbezüglich ist zunächst auszuführen, dass die Beziehung zwischen Schwestern von der oben zitierten Judikatur des EGMR nicht grundsätzlich umfasst wird. Es ist daher zu prüfen, ob die vom EGMR geforderte Beziehungsintensität im gegenständlichen Fall vorliegt. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass die Schwester der Beschwerdeführerin bereits seit vier Jahren in Österreich lebt, während die Beschwerdeführerin selbst erst circa vier Monaten in Österreich aufhältig ist und mit ihrer Schwester nicht in gemeinsamen Haushalt lebt (siehe ZMR-Ausdruck). Ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis ist der Aktenlage ebenfalls nicht zu entnehmen. Der Vollständigkeit halber ist ebenso darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Schwester seit deren Ausreise aus der Russischen Förderation nach eigenen Angaben nicht in gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Es liegen auch sonst keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer, vor (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl. 1802, 1803/06-11).

 

Es kann daher im gegenständlichen Fall nicht von der vom EGMR geforderten Beziehungsintensität gesprochen werden, weshalb eine Ausweisung keinesfalls in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat und Familienleben darstellt.

 

3.4.3. Das Beschwerdeverfahren, welches den Ehegatten der Beschwerdeführerin (vgl. dazu das Erkenntnis des Asylgerichtshof vom heutigen Tag zur Zahl: S8 400.055-1/2008/3E), hat nicht ergeben, dass ihr Verfahren zuzulassen wären. Daher ergibt sich auch daraus nicht, dass das Verfahren des Beschwerdeführers gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 zuzulassen wäre.

 

3.4.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung aufgrund einer drohenden Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte besteht.

 

3.4.5. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG 2005 ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG 2005 gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch die Beschwerdeführerin in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes in dem Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG 2005 schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5. Bei diesem Ergebnis konnte eine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entfallen.

 

3.6. Von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 abgesehen werden.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, Ausweisung, familiäre Situation, Familienverfahren, Intensität, real risk, staatlicher Schutz, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
17.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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