TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/21 D4 316819-1/2008

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Veröffentlicht am 21.08.2008
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Spruch

D4 316.819-1/2008/7E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Scherz als Kammervorsitzende und den Richter Dr. Kuzminski als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Mag. Pfleger über die Beschwerde des A.K., geb. 00.00.1989, StA. Kirgisistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.12.2007, FZ. 07 09.422-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.07.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und A.K. gemäß § 3 AsylG 2005 i. d.g.F. der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Absatz 5 AsylG 2005 i.d.g.F wird festgestellt, dass A.K. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang:

 

Die beschwerdeführende Partei, führt nach eigenen Angaben den im Spruch genannten Namen, ist kirgisischer Staatsangehörige, gehört der russischen Volksgruppe an, ist russisch-orthodoxen Bekenntnisses, war im Heimatstaat zuletzt wohnhaft in B. reiste am 10.10.2007 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.10.2007 einen Asylantrag.

 

Vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle West, am 22.10.2007 sowie vom Bundesasylamt, Außenstelle Graz, am 18.12.2007 im Beisein eines Dolmetschers der russischen Sprache einvernommen, wurde als Fluchtgrund im Wesentlichen angegeben, dass in Kirgisistan um den 25.4.2007 eine Revolution stattgefunden hätte. Er wäre am 25.4.2007 von der Schule nach Hause gekommen und seine Eltern seien sehr aufgebracht gewesen, weil aus dem Auto sämtliche Dokumente gestohlen worden seien. In weiterer Folge - konkret am 25.5.2007 - wäre ein Drohanruf erfolgt, in welchem die Familie zum Verschwinden aufgefordert worden sei. Sein Vater sei zusammengeschlagen worden, als er sich mit den Erpressern getroffen hätte. Der Vater des Beschwerdeführers hätte schließlich die Mutter und die zwei jüngeren Brüder des Beschwerdeführers außer Landes geschickt. Danach sei im Rahmen eines erneuten Treffens der Beschwerdeführer selbst zusammengeschlagen und deshalb von seinem Vater nach Kasachstan gebracht worden. Die Familie würde seiner Ansicht nach durch Uiguren, Aserbaidschaner, Türken und Kirgisen bedroht. Die Kirgisen würden grundsätzlich die Russen aus dem Land vertreiben wollen. Seinem Vater wäre gesagt worden, dass bei der Rückkehr der Familie zuerst die Kinder und dann die Eltern vernichtet werden würden.

 

Mit dem nunmehr angefochtenen oben angeführten Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.12.2007 wurde der Asylantrag im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass nicht festgestellt werden könne, dass dem Beschwerdeführer in Kirgisistan eine asylrelevante - oder sonstige - Verfolgung oder Strafe maßgeblicher Intensität oder Todesstrafe drohen würde. Eine gegen den Beschwerdeführer gerichtete Bedrohung im Sinne des § 50 Abs. 1 und 2 FPG 2005 würde nicht vorliegen. Die Ausweisung aus Österreich und Abschiebung sei somit zulässig.

 

Um Wiederholungen zu vermeiden wird auf die Feststellungen der Erstbehörde zum Herkunftsstaat im angefochtenen Bescheid verwiesen.

 

Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass die Aussagen des Beschwerdeführers nicht geeignet gewesen seien um die Flüchtlingseigenschaft glaubhaft zu machen, da sie nicht ausreichend substantiiert gewesen seien, insbesondere auch deshalb, da er nichts über den der Fluchtgeschichte zentralen Wohnungseinbruch wusste. Außerdem hätte es Widersprüche über den Aufenhaltsort des Beschwerdeführers vor der Flucht gegeben. Die erstinstanzliche Behörde ging davon aus, dass der Beschwerdeführer ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen hätte.

 

Dagegen wurde innerhalb offener Frist im Wesentlichen mit der Begründung berufen, dass aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung eine unrichtige Tatsachenfeststellung erfolgt sei. Es erfolgte eine chronologische Schilderung der Abfolge der Verfolgungshandlungen und es wurde darauf hingewiesen, dass die erduldeten Misshandlungen und Drohungen zwar von Privatpersonen ausgeübt und ausgesprochen worden seien, jedoch in ihrer Volkszugehörigkeit begründet seien und deshalb sehr wohl asylrechtlich relevant seien. Die staatlichen Behörden würden keinen hinreichenden Schutz vor dieser Verfolgung bieten. Darüber hinaus bestehe der begründete Verdacht, dass die drohenden Personen offenbar mit der Polizei zusammenarbeiten würden oder in irgendeinem Naheverhältnis stehen würden. Auch die Länderfeststellung wurde als beschönigend angesehen.

 

Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am Asylgerichtshof am 31.7.2008, zu der sich ein Vertreter der Erstbehörde entschuldigen ließ, führte der rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführer folgendermaßen aus:

 

Der Beschwerdeführer hätte 2007 bei seiner Großmutter gelebt und dort gearbeitet. Seine Eltern seien im April 2007 mit seinen Brüdern zur Großmutter gefahren und hätten dort übernachtet, um den schweren Unruhen in der Stadt zu entgehen. Seine Eltern seien danach zurück zur Wohnung gefahren. Er hätte das aufgebrochene Auto seines Vaters gesehen, nachdem er aus der Schule zurückgekommen sei. Er hätte Gedächtnisprobleme, weil er verprügelt worden sei. Vom Wohnungseinbruch hätte der Beschwerdeführer erst dann erfahren als er am Handy seines Vaters angerufen worden sei. Die Anrufer hätten ihn beschimpft und gefragt, "was sie dort noch machen würden". Die Anrufer hätten ihn mit seinem Vater verwechselt. Er hätte das Gespräch einfach beendet. Am 20. Juni sei sein Vater bei einem Treffen mit diesen "Leuten" zusammengeschlagen worden. Er hätte nichts von dem beabsichtigten Treffen gewusst. Seine Eltern hätten ihn und seine Brüder in diese Angelegenheiten nicht eingeweiht.

 

Er sei deshalb zusammengeschlagen worden, weil er Russe sei. Die Leute in Kirgisistan würden keine Russen mögen und sie vertreiben wollen. Der Beschwerdeführer selbst hätte jedoch nichts über die Angelegenheit der Wohnung und der Dokumente gewusst, weil er vorwiegend bei seiner Großmutter gewesen sei. Sein Vater hätte seine Mutter und seine zwei Brüder nach Kasachstan geschickt, er selbst sei bei seiner Großmutter geblieben.

 

Am 3. Juli 2007 sei er mit seinem Vater unterwegs gewesen. Sein Vater hätte das Auto verlassen und ihn alleine zurückgelassen. Auch er sei aus dem Auto ausgestiegen und dann dort von ca. 3 bis 4 Jahre älteren Leuten zusammengeschlagen worden. Er hätte schwere Kopfverletzungen erlitten und hätte seither Gedächtnisprobleme. Eine Niere würde nicht mehr funktionieren und er würde ständig an Kopfschmerzen leiden. Er hätte damals das Bewusstsein verloren und könne sich deshalb auch nicht mehr erinnern. Es seien jedenfalls Steine und Gummiknüppel benutzt worden. Das Bewusstsein hätte er wiedererlangt als sein Vater ihn gefunden hätte. Er sei ambulant im Krankenhaus gewesen und man hätte ihm Medikamente verschrieben. Sein Vater hätte ihn dann nach Kasachstan gebracht. Als er sich ein bisschen erholt gehabt hätte, hätte er ihn wieder zu seiner Großmutter geholt.

 

Als sein Vater zum zweiten Mal zusammengeschlagen worden sei, hätte man diesem die Zehen verletzt und er sei auch wieder ins Gesicht geschlagen worden. Bei der Rückkehr nach Hause sei das Gesicht seines Vaters blutig gewesen. Vom dritten seinen Vater betreffenden Vorfall wüsste er nichts.

 

Er wüsste, dass es Drohungen gegeben hätte, genauere Details wüsste er nicht. Er wüsste auch nichts über die Vollmacht bzw. den Vertrag. Sein Vater hätte ihn nicht eingeweiht.

 

Sein Vater hat irgendwann eine Anzeige erstattet, deren Inhalt er nicht kennen würde.

 

Nach Vorhalt, dass er bei der ersten und zweiten Einvernahme angegeben hätte nie in Kasachstan gewesen zu sein führte er aus, dass er wohl in Kasachstan gewesen sei. Sein Vater hat ihn dorthin gebracht und wieder abgeholt. Er hätte das auch beim Bundesasylamt gesagt.

 

In der Werkstatt seines Vaters sei er aufgefordert worden zum islamischen Glauben überzutreten.

 

Seine Großmutter würde weiterhin von den "Leuten" besucht werden. Sie würden nach ihnen fragen und wollen "die Abrechnung" zu Ende bringen.

 

Dies sei vielleicht eine Art Vorwarnung, damit die nicht zurückkommen sollen, weil die Familie sonst umgebracht werden würde.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens steht nachstehender entscheidungswesentliche Sachverhalt als erwiesen fest:

 

1. Zur Person:

 

Die beschwerdeführende Partei ist kirgisischer Staatsangehörige, gehört der russischen Volksgruppe an, ist russisch-orthodoxen Bekenntnisses, war im Heimatstaat zuletzt wohnhaft in B. reiste am 10.10.2007 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.10.2007 einen Asylantrag.

 

Der Beschwerdeführer wurde am 00.00.1989 in B. geboren und hat in B. vorwiegend bei seiner Großmutter gelebt. Der Beschwerdeführer und seine Familie (Eltern und zwei minderjährige Brüder) befanden sich zu diesem Zeitpunkt bei seiner Großmutter, um den Unruhen zu entgehen. Zu diesem Zeitpunkt wurde in die Wohnung der Eltern eingebrochen und es wurden sämtliche Dokumente, Wertgegenstände und Geld gestohlen. Der Vater des Beschwerdeführers wurde ab Ende April von denjenigen Personen, die die Wohnung ausgeraubt haben, erpresst und wurde unter Drohungen aufgefordert das Eigentumsrecht an der Wohnung zu übertragen. Weder der Einbruch noch die Drohungen waren war dem Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bekannt.

 

Am 25. Mai 2007 wurde im Zuge eines Anrufes der Beschwerdeführer - er nahm das Gespräch am Handy seines Vaters an - mit Drohungen derjenigen Personen konfrontiert, die die Wohnung der Eltern ausgeraubt hatten. Dies nur deshalb, weil es zu einer Verwechslung zwischen seiner und der Stimme seines Vaters gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt erhielt er Kenntnis vom Einbruch und von den Erpressungsversuchen. Genauere Details weiß der Beschwerdeführer nicht, weil er von seinem Vater nicht eingeweiht worden war. Am 20. Juni 2007 wurde der Vater des Beschwerdeführers bei einem Treffen mit den "Leuten" von diesen zusammengeschlagen. Am 3. Juli 2007 wurde der Beschwerdeführer zusammengeschlagen und erlitt schwere Kopfverletzungen. Seine rechte Niere funktioniert nicht mehr und er leidet seither ständig an Kopfschmerzen. Der Beschwerdeführer verlor das Bewusstsein und leidet an Erinnerungsverlust. Der Vorfall ereignete sich, während der Vater des Beschwerdeführers an einem (dem zweiten) Treffen mit den Erpressern teilnahm.

 

Am 5. oder 6. Juli 2007 wurde der Vater des Beschwerdeführers während eines dritten Treffens, das von den "Leuten" gefordert worden war, wieder zusammengeschlagen. Er wurde mit einem Messer bedroht und unterzeichnete einen Vertrag über den Eigentumsübergang der Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Verletzungen in Kasachstan in Pflege, weshalb ihm dieser Vorfall auch nicht bekannt war.

 

Bei den "Leuten" handelte es sich um Polizisten (Kirgisen, Usbeken und Uiguren), weshalb diese auch von der vom Beschwerdeführer erstatteten Anzeige wussten. Weiters wurde der Beschwerdeführer in der Werkstatt aufgefordert, zum islamischen Glauben zu konvertieren, wenn er in Kirgisistan bleiben würde.

 

2. Zur Lage in Kirgisistan wird Folgendes festgestellt:

 

Situation der russischen Minderheit:

 

Ethnische Russen machen 10,3 % und ethnische Kirgisen 67,4 % der Bevölkerung Kigisistans aus. Nichtkirgisische Bürger werden diskriminiert, insbesondere von den Behörden. Betroffen sind die Bereiche Arbeitsmarkt, Wohnungsvergaben und Beförderungen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 hat sich die Lage der Russen in Kirgisistan verschlechtert. Die meisten Russen haben ihre privilegierte Stellung verloren, auch ihr politischer Einfluss ist geschwunden. Seit März 2005 (Sturz der Regierung Akajew) haben ethnische Minderheiten - besonders die Russen - Befürchtungen über gesteigerten kirgisischen Nationalismus geäußert. Russen und Usbeken sind in der Regierung unterrepräsentiert. Während der Plünderungen nach der Stürmung des Gebäudes der Präsidentenverwaltung im März 2005 haben Geschäfte, die Angehörigen ethnischer Minderheiten gehörte, überproportionale Verluste erlitten. Seither verlassen immer mehr Russen auf Grund der instabilen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation, der unsicheren Zukunft des Landes und der Angst vor einem Bürgerkrieg sowie inter-ethnischer Spannungen Kirgisistan. Der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung ist seit 1991 von 22% auf 13% gefallen. Im Bereich der Polizei und Justiz herrscht Korruption. Kriminelle können sich durch die Zahlung von Bestechungen der Strafverfolgung entziehen.

 

Der Präsident, Kurmanbek Bakijew, wurde direkt für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt. Er ernennt den Premierminister, der vom Parlament gebilligt werden muss.

 

Das Parlament, Jogorku Kenesh, hat seit 2003 eine Kammer und 75 Mitglieder, die direkt in Einmandat-Wahlkreisen für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt wurden. Da viele Bürger und auch politische Führungspersönlichkeiten, wie Rosa Otunbajewa, weiterhin davon überzeugt sind, dass die derzeitigen Mitglieder kein echtes Mandat zur Vertretung des Volkes haben, ist die Position des Parlaments geschwächt. Weit verbreitet ist auch die Ansicht, die Abgeordneten seien stark darauf bedacht, persönliche und Interessen des "Clans" zu fördern, statt im nationalen Interesse zu handeln. Derzeitiger Parlamentspräsident ist Marat Sultanow.

 

Im Frühjahr 2006 gründete die Opposition die gemeinsame Plattform Za Reformy ("Für Reformen") und veranstaltete große Demonstrationen. Nach anderthalb Jahren politischer und verfahrensrechtlicher Streitigkeiten kam es im November 2006 zu einem Machtkampf zwischen Exekutive und Parlament. Die regierungsfeindlichen Demonstrationen im Zentrum der Hauptstadt Bischkek nahmen zu und wurden mit der Veranstaltung regierungsfreundlicher Demonstrationen beantwortet. Tausende Angehörige der Truppen des Innenministeriums und der Bereitschaftspolizei wurden mobilisiert, um das Weiße Haus zu schützen und eine Wiederholung der "Tulpenrevolution" zu verhindern.

 

Während die Demonstrationen andauerten, zeigte sich einige Tage später, dass das Parlament weder in der Lage war, einen von Präsident Bakijew eingebrachten Verfassungsentwurf zu erörtern noch einen konkurrierenden Verfassungsentwurf anzunehmen. Die Spannungen auf der Straße eskalierten, die Bereitschaftspolizei löste die Menge mit Schockgranaten und Tränengas auf. Angesichts der Gefahr eines Abdriftens in unkontrollierbare Gewalt und Chaos einigten sich Präsident Bakijew und seine Kontrahenten rasch auf eine neue Verfassung und Präsident Bakijew nutzte diese Gelegenheit, um einige der früheren Befugnisse des Präsidenten wieder einzusetzen, die dem Parlament überlassen worden waren.

 

Aus nicht ganz erkennbaren Gründen gab Premierminister Kulow seinen Rücktritt bekannt, offenbar entsprechend einer Abmachung mit Präsident Bakijew, deren Ziel darin bestand, die Zustimmung des Parlaments zu den Änderungen an der Verfassung zu vereinfachen. Die Änderungen wurden angenommen, und Präsident Bakijew unterzeichnete im Januar 2007 die neue Verfassung.

 

Das Parlament lehnte danach zweimal die vom Präsidenten vorgeschlagene Ernennung von Kulow zum Premierminister ab. Den späteren Aussagen Kulows zufolge hatte Bakijew versprochen, ihn auch ein drittes Mal zu nominieren, wodurch das Parlament gezwungen gewesen wäre, entweder zuzustimmen oder sich aufzulösen. Bakijew entschied sich jedoch, einen unauffälligen, loyalen Gefolgsmann namens Azim Isabekow zu nominieren, der gebilligt wurde, jedoch bereits zwei Monate später zurücktrat. Danach wurde der gemäßigte Oppositionspolitiker Almazbek Atambajew Premierminister.

 

Kulow steht heute an der Spitze der Partei Ar-Namys ("Würde"). Im Februar 2007 gab er die Gründung einer neuen Oppositionsbewegung, "Vereinte Front für eine würdige Zukunft Kirgisistans", bekannt. Diese Bewegung drängt auf den sofortigen Rücktritt von Präsident Bakijew und hat die Opposition gespalten. Mitte April 2007 kam es wieder zu regierungsfeindlichen Protesten in Bischkek. Die Opposition forderte erneut Änderungen der Verfassung, um die Befugnisse des Präsidenten einzuschränken. Nachdem es bei den Protesten zu Gewalttätigkeiten gekommen war, griffen die Sicherheitskräfte ein und räumten den Ala-Too-Platz in der Nähe des Weißen Hauses, der als Ausgangspunkt für die Demonstrationen gedient hatte. Später folgten Razzien in einer Druckerei, die mit Unterstützung der USA eingerichtet worden war, und in der Dokumente der Opposition konfisziert wurden, sowie Durchsuchungen im Hauptquartier der Vereinten Front Kulows.

 

Die Judikative gilt in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als äußerst korrupt und weit davon entfernt, unabhängig zu sein. Vorwürfe, die Judikative habe ebenso wie die politische Elite enge Beziehungen zum organisierten Verbrechen, werden im Land immer wieder laut, Experten stimmen dem zumindest teilweise zu. Es herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, dass seit der Revolution das organisierte Verbrechen durch die Spaltungen und Schwächen begünstigt wurde, die heute kennzeichnend für die Staatsbehörden sind. Eine Reihe von Morden steht in Zusammenhang mit dieser Entwicklung. Mehrere Abgeordnete wurden erschossen, was das Parlament dazu veranlasste, Rechtsvorschriften zu erlassen, um seinen Mitgliedern das Tragen von Waffen zu gestatten.

 

Die weit verbreitete Desillusionierung scheint auch das Interesse am radikalen Islamismus zu erhöhen, der sich selbst als Alternative zu Korruption, Kriminalisierung und fehlender Ordnung darstellt. Dieses Interesse und die Schwäche der staatlichen Sicherheitsstrukturen scheinen auch zu einer Zunahme der Tätigkeiten gewalttätiger Gruppen geführt zu haben. Im vergangenen Jahr kam es im Fergana-Tal an oder nahe der Grenze zu Tadschikistan zu einigen Vorfällen, die Opfer forderten, und an denen auch mutmaßliche Terroristen beteiligt waren. Die Ermordung des populären Imams Mohammad Rafah Kamalow im August 2006, dem die Behörden zunächst vorgeworfen hatten, ein Radikaler zu sein, der mit Extremisten zusammenarbeitet, rief großen Zorn hervor.

 

Die Lage der Menschenrechte ist in vieler Hinsicht besorgniserregend, zu den größten Problemen gehören politisch motivierte Morde, Folter, sehr schlechte Bedingungen in den Gefängnissen und Gewalt gegen Frauen. Die Durchsetzung der Menschenrechte wird auch durch mangelnde rechtsstaatliche Tradition und eine fehlende unabhängige Justiz erschwert. Es gibt weder eine rechtstaatliche Tradition noch eine unabhängige Justiz. In der Praxis ist die Folter nicht abgeschafft. Die Zustände auf Polizeistationen, in der Untersuchungshaft und in Gefängnissen sind in vielen Fällen menschenwidrig.

 

Kriminalität und Korruption:

 

Als Folge der schwierigen Wirtschaftslage nimmt die Kriminalität stark zu. Korruption, Amtsmissbrauch, Übergriffe durch Staatsorgane, Fehlverhalten und Polizeigewalt sind ein weit verbreitetes Problem. Insbesondere auch aufgrund der herrschenden Unterbezahlung stellt Bestechung und Korruption ein großes Problem in Kirgisistan dar. Seitens der Regierung werden aber auch Schritte zur Bekämpfung der Korruption im Privaten- wie auch im Öffentlichensektor gesetzt, trotzdem stellt Korruption auf allen Ebenen der Gesellschaft weiterhin ein Problem dar.

 

Beweis wurde erhoben durch die Einvernahme des Beschwerdeführers durch die Behörde erster Instanz am 22.10.2007, sowie durch die Befragung des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung des Asylgerichtshofes vom 31.07.2008, weiters durch Einsicht in den amnesty international Jahresbericht 2007, ACCORD- Anfragebeantwortungen vom 15.2.2007 und 27.6.2006, Länderfeststellungen, Mitteilung über die kirgisische Republik des EU-Parlaments vom 09.05.2007, Bericht vom Freedom-House, Kirgisistan (2008).

 

III. Beweiswürdigung:

 

Der Beschwerdeführer erweckt in der mündlichen Berufungsverhandlung einen persönlich glaubhaften Eindruck. Die zentralen fluchtauslösenden Ereignisse vermochte der Beschwerdeführer in der Verhandlung vor dem Asylgerichtshof detailreich, engagiert und anschaulich zu schildern. Er antwortete auf die ihm gestellten Fragen gewissenhaft und detailreich und überzeugend, sodass in einer Zusammenschau sämtlicher Angaben ein detailreiches nachvollziehbares und geschlossenes Bild der fluchtauslösenden Vorfälle entstand. Ungereimtheiten in den Angaben konnten während der Beschwerdeverhandlung nicht festgestellt werden.

 

Zu den Ausführungen des Bundesasylamtes, dass die Aussagen des Beschwerdeführers nicht ausreichend substantiiert gewesen seien, insbesondere da er keine Kenntnis von dem der Fluchtgeschichte zentralen Wohnungseinbruch hatte, wird ausgeführt, dass die Angaben des Beschwerdeführers, dass seine Eltern ihn und seine Brüder nicht in die Angelegenheiten eingeweiht haben um sie zu schützen, glaubwürdig und auch nachvollziehbar sind. Die Ausführungen des Beschwerdeführers sind sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch im Verfahren vor dem Asylgerichtshof durchaus klar, konkret und in hinreichender detailliert. Der Beschwerdeführer schilderte den Sachverhalt in sämtlichen Einzelheiten, die ihm bekannt waren. Er war in der Lage diejenigen Vorfälle, die zu seiner Ausreise und zur Ausreise der restlichen Familie geführt haben, konkret zu beschreiben. Das Vorbringen des Beschwerdeführers entspricht durchaus den allgemeinen Erfahrungen und ist auch mit den politischen historischen Geschehnissen zum Zeitpunkt der Verfolgung in Einklang zu bringen. Ebenso entspricht es auch den glaubwürdigen Angaben der Eltern des Beschwerdeführers, welche sie in den sie betreffenden Asylverfahren getätigt haben. Es erscheint somit keineswegs mit den allgemeinen Verhältnissen in Kirgisistan unvereinbar. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gründe sind als wahrscheinlich anzusehen. Das Vorbringen des Beschwerdeführers ist sowohl im erstinstanzlichen als auch im zweitinstanzlichen Verfahren gleichlautend und es sind keine Abweichungen zu erkennen.

 

Die Feststellungen zur Lage in Kirgisistan ergeben sich aus den zuvor zitierten Unterlagen.

 

Da die Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Situationsdarstellungen zu zweifeln. Auch seitens der Parteien wurden hinsichtlich der herangezogenen Quellen keine Einwände erhoben.

 

IV. Rechtliche Beurteilung:

 

Gemäß § 61 AsylG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes, soweit nicht etwas anders in § 61 Abs 3 AsylG vorgesehen ist.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG sind beim Unabhängigen Bundesasylsenat am 01.07.2008 anhängige Verfahren in denen bis zu diesem Zeitpunkt keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, vom dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat des Asylgerichtshof weiterzuführen.

 

§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 besagt:

 

Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

 

Gemäß Abs. 5 leg. cit. ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "begründete Furcht vor Verfolgung."

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in

 

dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.

 

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht, (zB VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998, 98/01/0262). Im Hinblick auf die den Beschwerdeführer treffenden Ereignisse des Frühling/Sommer 2007 ist die Furcht vor Verfolgung des Beschwerdeführers objektiv nachvollziehbar.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtssprechung ausgeführt, dass als Fluchtgründe unter dem Gesichtspunkt der Schwere des Eingriffes nur solche Maßnahmen in Betracht kommen, die einen weiteren Verbleib im Heimatland aus objektiver Sicht unerträglich erscheinen lassen (VwGH vom 16.09.1992, 92/01/0544, VwGH vom 07.10.2003, 92/01/1015, 93/01/0929, u.a.).

 

Die vom Asylwerber vorgebrachten Eingriffe in seine vom Staat zu schützende Sphäre müssen in einem erkennbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise aus seinem Heimatland liegen. Die fluchtauslösende Verfolgungsgefahr bzw. Verfolgung muss daher aktuell sein (VwGH 26.06.1996, Zl. 96/20/0414) - Verfolgung im Frühling/Sommer 2007 - Flucht September 2007. Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

 

Die Würdigung der Erstbehörde, der Beschwerdeführer hätte keine Verfolgung im Sinne der GFK glaubhaft machen können, ist jedenfalls verfehlt und kann auch hinsichtlich der getroffenen Länderfeststellungen im konkreten Fall des Beschwerdeführers von keiner hinreichenden Schutzfähigkeit bzw. -willigkeit des kirgisischen Staates ausgegangen werden.

 

Die Verfolgungsgefahr beruht auch auf einem in der GFK anerkannten Verfolgungsgrund, nämlich aufgrund einer speziellen Mischlage aus ethnischen (Zugehörigkeit zur russischen Minderheit) und religiösen (Zugehörigkeit zum christlich-orthodoxen Glauben) Elementen. Im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer keinesfalls mit einem effektiven staatlichen Schutz rechnen kann - im Gegenteil scheint die Verfolgung durch Vertreter staatlicher Einrichtungen zu erfolgen - ist nicht davon auszugehen, dass für den Beschwerdeführer die Möglichkeit besteht in irgendeinem Teil der Republik Kirgisistan Schutz vor der gegenständlichen Verfolgung zu finden, weshalb die Annahme einer innerstaatlichen Flucht- bzw. Schutzalternative ausscheidet.

 

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Kirgisistan mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe von sehr hoher Intensität in ihre zu schützende persönliche Sphäre (Leben, Gesundheit, Freiheit) drohen und zwar aus einem in der GFK angeführten Verfolgungsgrund.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
ethnische Verfolgung, gesamte Staatsgebiet, Religion, Schutzunfähigkeit, Schutzunwilligkeit, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
11.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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