TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/21 D4 315203-1/2008

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Veröffentlicht am 21.08.2008
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Spruch

D4 315.203-1/2008/7E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Scherz als Kammervorsitzende und den Richter Dr. Kuzminski als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Mag. Pfleger über die Beschwerde der N.K., geb. 00.00.1970, StA. Kirgisistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.09.2007, FZ. 07 07.287-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.07.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und N.K. gemäß § 3 AsylG 2005 i. d.g.F. der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Absatz 5 AsylG 2005 i.d.g.F wird festgestellt, dass N.K. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang:

 

Die beschwerdeführende Partei, führt nach eigenen Angaben den im Spruch genannten Namen, ist kirgisische Staatsangehörige, gehört der russischen Volksgruppe an, ist russisch-orthodoxen Bekenntnisses, war im Heimatstaat zuletzt wohnhaft in B. reiste am 10.8.2007 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.8.2007 einen Asylantrag.

 

Vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle West, am 20.8.2007 sowie vom Bundesasylamt, Außenstelle Graz, am 27.9.2007 im Beisein eines Dolmetschers der russischen Sprache einvernommen, wurde als Fluchtgrund im Wesentlichen angegeben, dass in Kirgisistan um den 25.4.2007 eine Revolution stattgefunden hätte und die Familie der Beschwerdeführerin deshalb B. verlassen und zu ihrer Schwiegermutter gefahren wäre. In diesem Zeitraum sei die Wohnung ausgeraubt und sämtliche Dokumente gestohlen worden. Eine Anzeige sei von der Polizei zu diesem Zeitpunkt wegen personeller Engpässe nicht entgegengenommen worden. Später hätte ihr Ehemann Anrufe von unbekannten Personen erhalten, die ihm mitgeteilt hätten, dass er ihnen die Wohnung überlassen solle und dieversucht hätten ihn einzuschüchtern und zu bedrohen. Sie hätten Anzeige bei der Polizei erstattet (um den 20. Juni 2007) und ihr Ehemann sei daraufhin zusammengeschlagen worden, weshalb er die Anzeige wieder zurückgezogen hätte. Von den Anrufern sei ihrem Ehemann eine Frist zur Übergabe der Wohnung gesetzt worden. Aus diesem Grund hätte sie mit ihren zwei minderjährigen Söhnen Anfang Juli Kirgisistan verlassen. Ihr Ehemann und ihr volljähriger Sohn hätten beabsichtigt ihnen zu folgen.

 

Mit dem nunmehr angefochtenen oben angeführten Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.9.2007 wurde der Asylantrag im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass nicht festgestellt werden könne, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin bezüglich einer aktuellen Bedrohungssituation in Kirgisistan als glaubhaft bezeichnet werden kann. Eine gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Bedrohung im des § 50 Abs. 1 und 2 FPG 2005 würde nicht vorliegen. Die Ausweisung aus Österreich und Abschiebung sei somit zulässig. Weiters wurde festgehalten, dass zur Kernfamilie der Beschwerdeführerin die beiden minderjährigen Söhne M.K. (D 4 315.201-1/2008) und V.K. (D 4 315.202-1/2008) zählen würden, deren Asylanträge erstinstanzlich bereits abweisend entschieden worden seien, die Ausweisung beschieden wurde.

 

Um Wiederholungen zu vermeiden wird auf die Feststellungen der Erstbehörde zum Herkunftsstaat im angefochtenen Bescheid verwiesen. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin nicht geeignet gewesen seien um die Flüchtlingseigenschaft glaubhaft zu machen, da sie nicht ausreichend substantiiert gewesen seien. Unter anderem sei die Beschwerdeführerin nicht in der Lage gewesen konkrete Angaben zu ihrer individuellen Verfolgung zu machen. Sie wüsste nicht, wer sie verfolgen würde und könne sie nicht erklären, warum es zu keinen konkreten Handlungen gekommen sei. Darüber hinaus hätte sie in den beiden Einvernahmen unterschiedliche Angaben zum Zeitraum der Drohanrufe gemacht (April bis Juni 2007 bzw. 25. Mai 2007). Die Beschwerdeführerin sei persönlich unglaubwürdig.

 

Dagegen wurde innerhalb offener Frist im Wesentlichen mit der Begründung berufen, dass aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung eine unrichtige Tatsachenfeststellung erfolgt sei. Der Ehemann der Beschwerdeführerin hätte sich bei Verwandten und Bekannten versteckt und würde nicht unbehelligt in Kirgisistan leben. Er würde versuchen Dokumente über die Familie zu erhalten, weil sie sonst nicht einmal ihre Identität beweisen könnten. Sie wüsste nicht wer die Drohanrufe getätigt hätte und warum physische Handlungen erst nach der Anzeigeerstattung erfolgten. Den Zeitpunkt der Anzeigeerstattung sowie der Rückziehung wüsste sie deshalb nicht genau, weil sie selbst nicht währenddessen anwesend war.

 

Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am Asylgerichtshof am 31. Juli 2008, zu der sich ein Vertreter der Erstbehörde entschuldigen ließ, führte die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin folgendermaßen aus:

 

2007 sei es in Kirgisistan zu Unruhen, Demonstrationen und zum Wechsel des Präsidenten gekommen. Da sich die Unruhen bereits am 24. April 2007 angekündigt hätten, sei ihre ganze Familie zu ihrer Mutter gezogen um diesen Unruhen zu entgehen. Zwei Tage später seien die Beschwerdeführerin und ihr Mann zurück in die Wohnung gefahren um Nachschau zu halten. Die Kinder hätten die Schule in der Nähe ihrer Mutter besucht. Sie hätte auch dort in der Nähe gearbeitet. Als sie mit ihrem Mann zur Wohnung gekommen war, hätte sie gesehen, dass die Wohnungstür offen stand. Wertgegenstände, Geld und auch Dokumente (Nachweise über das Eigentum an der Wohnung, Geburtsurkunden, sämtliche Pässe, die Heiratsurkunde) seien verschwunden und die Wohnung verwüstet gewesen.

 

Ihr Mann hätte den Diebstahl bei der Polizei angezeigt. Auf den Vorhalt, dass ihr Mann gesagt hätte, dass er erst im Juni zur Polizei gegangen sei, gab sie an, dass er sich auch bereits früher an die Polizei gewandt hätte. Dort hätte man ihm gesagt, dass er die Situation selbst klären solle - d.h. die Anzeige sei nicht entgegen genommen worden. Ihr Mann hätte versucht neue Dokumente von den Behörden zu bekommen. Ende Mai hätte sie dann erfahren, dass ihr Mann erpresst werden würde, dass man das Überlassen der Wohnung fordern würde. "Sie" hätten die Rückgabe der Dokumente versprochen. Sie hätte ihrem Mann irgendwann im Juni vorgeschlagen eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten, was er dann auch getan hätte. Ca. einen oder zwei Tage nach der Anzeige hätte ihr Mann einen Anruf erhalten. Er sei aufgefordert worden zu einem bestimmten Ort zu kommen. Bei diesem Treffen sei er zusammengeschlagen worden. Ihr Mann hätte ihr erzählt, dass der Vorfall mit der Polizei in Verbindung stehen würde, da die "Leute" von der Anzeige gewusste hätten. Die "Leute" hätten ihm eine Frist gesetzt um die Anzeige zurückzuziehen. Sie hätten keinen anderen Ausweg gesehen und er hätte die Anzeige zurückgezogen. Als er zusammengeschlagen worden sei, hätten die "Leute" auch Drohungen gegen sie und die gemeinsamen Kinder ausgestoßen. Sie hätten gefordert, dass die Familie verschwinden solle und vor allem, dass sie den "Leuten" die Wohnung überlassen sollen und ihr Mann die diesbezüglichen Dokumente für die Wohnungsüberlassung unterschreiben solle. Sie hätte noch ihre Arbeit gekündigt und ihr Mann hätte sie nach Kasachstan geschickt, damit sie nicht mehr in der Nähe dieser "Leute" sei. Zu dem Zeitpunkt des zweiten und dritten Vorfalles ihres Mannes sei sie bereits in Kasachstan gewesen und würde alles nur aus Erzählungen kennen.

 

Sie selbst sei nie körperlich angegriffen worden und hätte auch nie mit diesen "Leuten" gesprochen. Dass ihr Sohn A. zusammengeschlagen worden sei, hätte sie auch erst in Österreich erfahren.

 

Abgesehen davon sei sie ständig im Bus von Kirgisen beschimpft worden, weil sie Russin sei. Sie seien nach 19:00 Uhr auch nicht mehr auf die Straße gegangen, weil es für alle Nicht-Kirgisen zu gefährlich sei. Nach dem Zerfall der Sowjetunion seien die vorhandenen Grundstücke nur an Kirgisen verteilt worden, die Minderheiten hätten kein Grundeigentum erhalten.

 

Auch die Kinder seien in der Schule ständig verfolgt und zusammengeschlagen worden. Es sei jedenfalls mehr als eine normale Rauferei unter Kindern gewesen. Ihr Sohn M. sei mit einer Schaufel zusammengeschlagen worden und hätte eine ernsthafte Verletzung erlitten. Die kirgisischen Kinder würden russische Kinder schlagen. Sie würden auch von ihren Eltern so erzogen. Solche Vorfälle würden sich meistens nach der Schule ereignen und ihre Kinder hätten bereits Angst in die Schule zu gehen.

 

In den letzten Jahren sei sie oft auf der Straße und im Bus gefragt worden, warum sie die Religion nicht wechseln würde. Man würde das deshalb erkennen, weil sie kein Kopftuch trage, Hosen trage und auch ein christliches Medaillon mit der Abbildung der Mutter Gottes um den Hals trage würde. Sie wären auch aus ihrem Haus geläutet und darauf angesprochen worden. Vom Bundesasylamt sei sie danach nicht gefragt worden. Sie würde keine Möglichkeit sehen wieder zurückzukehren. Sie hätte Angst um ihr Leben, die meiste Sorge würde ihren Kindern gelten.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens steht nachstehender entscheidungswesentliche Sachverhalt als erwiesen fest:

 

1. Zur Person:

 

Die beschwerdeführende Partei ist nach eigenen Angaben kirgisische Staatsangehörige, gehört der russischen Volksgruppe an, ist russisch-orthodoxen Bekenntnisses, war im Heimatstaat zuletzt wohnhaft in B. reiste am 10.08.2007 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte auch am 10.08.2007 einen Asylantrag. Sie wurde am 00.00.1970 in B. geboren und hat mit ihrem Mann, den sie 1988 geheiratet hat, bis zu ihrer Flucht in B. gelebt und gearbeitet.

 

Im April 2007 kam es zu Unruhen in B.. Ungefähr am 24.04.2007 verließ die Familie der Beschwerdeführerin die eigene Wohnung um den Unruhen zu entgehen und zog zur Mutter der Beschwerdeführerin. Im Zuge dieser Unruhen wurde die Wohnung aufgebrochen, verwüstet und es wurden Wertgegenstände, Geld und auch Dokumente (Nachweis über das Eigentum an der Wohnung, Geburtsurkunden, sämtliche Pässe, die Heiratsurkunde) gestohlen. Seit Ende April wurde der Ehemann der Beschwerdeführerin von denjenigen "Leuten", die in die Wohnung eingebrochen waren, erpresst. Sie forderten telefonisch die Übertragung des Wohnungseigentums gegen die Ausfolgung der Dokumente. Die Beschwerdeführerin erfuhr erst Ende Mai davon, konkret dann, als die Erpresser irrtümlich am 25. Mai 2007 ein Telefongespräch mit dem Sohn A. führten - jedoch in der Absicht den Ehemann der Beschwerdeführerin am Telefon zu erpressen. Der Ehemann der Beschwerdeführerin erstattete Anzeige bei der Polizei. Bei einem von den "Leuten" geforderten Treffen wurde der Ehemann der Beschwerdeführerin von diesen zusammengeschlagen. Er wurde aufgefordert, die Anzeige zurückzuziehen und kam der Aufforderung unverzüglich nach. Bei den "Leuten" handelte es sich um Polizisten (Kirgisen, Usbeken und Uiguren), weshalb diese auch von der vom Beschwerdeführer erstatteten Anzeige wussten.

 

Ihrer Familie gegenüber wurden Drohungen ausgestoßen und die Leute forderten, dass die Familie aus Kirgisistan verschwinden und insbesondere, dass sie das Eigentum an der Wohnung übertragen soll. Der mittlere Sohn wurde in der Schule auf Grund seiner russischen Volkszugehörigkeit zusammengeschlagen. Die Beschwerdeführerin verließ Anfang Juli mit ihren zwei minderjährigen Söhnen Kirgisistan.

 

Zusätzlich wird sie als Russin diskriminiert. Es wird versucht, die Familie zum Konvertieren zum islamischen Glauben zu bewegen.

 

Folgende Tatsachen ereigneten sich nach der Ausreise der Beschwerdeführerin:

 

Während eines zweiten Treffens des Ehemannes der Beschwerdeführerin mit den "Leuten" am 3. Juli 2007 wurde ihr volljähriger Sohn A. zusammengeschlagen und erlitt eine Gehirnerschütterung. Am 5. oder 6. Juli 2007 wurde der Ehemann der Beschwerdeführerin während eines dritten Treffens, welches von den "Leuten" gefordert worden war, wieder zusammengeschlagen, er wurde mit einem Messer bedroht und unterzeichnete einen Vertrag über den Eigentumsübergang der Wohnung. Der Ehemann der Beschwerdeführerin und ihr volljähriger Sohn A. verließen Kirgisistan im September 2007 Richtung Österreich.

 

2. Zur Lage in Kirgisistan wird Folgendes festgestellt:

 

Situation der russischen Minderheit:

 

Ethnische Russen machen 10,3 % und ethnische Kirgisen 67,4 % der Bevölkerung Kigisistans aus. Nichtkirgisische Bürger werden diskriminiert, insbesondere von den Behörden. Betroffen sind die Bereiche Arbeitsmarkt, Wohnungsvergaben und Beförderungen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 hat sich die Lage der Russen in Kirgisistan verschlechtert. Die meisten Russen haben ihre privilegierte Stellung verloren, auch ihr politischer Einfluss ist geschwunden. Seit März 2005 (Sturz der Regierung Akajew) haben ethnische Minderheiten - besonders die Russen - Befürchtungen über gesteigerten kirgisischen Nationalismus geäußert. Russen und Usbeken sind in der Regierung unterrepräsentiert. Während der Plünderungen nach der Stürmung des Gebäudes der Präsidentenverwaltung im März 2005 haben Geschäfte, die Angehörigen ethnischer Minderheiten gehörte, überproportionale Verluste erlitten. Seither verlassen immer mehr Russen auf Grund der instabilen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation, der unsicheren Zukunft des Landes und der Angst vor einem Bürgerkrieg sowie inter-ethnischer Spannungen Kirgisistan. Der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung ist seit 1991 von 22% auf 13% gefallen. Im Bereich der Polizei und Justiz herrscht Korruption. Kriminelle können sich durch die Zahlung von Bestechungen der Strafverfolgung entziehen.

 

Der Präsident, Kurmanbek Bakijew, wurde direkt für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt. Er ernennt den Premierminister, der vom Parlament gebilligt werden muss.

 

Das Parlament, Jogorku Kenesh, hat seit 2003 eine Kammer und 75 Mitglieder, die direkt in Einmandat-Wahlkreisen für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt wurden. Da viele Bürger und auch politische Führungspersönlichkeiten, wie Rosa Otunbajewa, weiterhin davon überzeugt sind, dass die derzeitigen Mitglieder kein echtes Mandat zur Vertretung des Volkes haben, ist die Position des Parlaments geschwächt. Weit verbreitet ist auch die Ansicht, die Abgeordneten seien stark darauf bedacht, persönliche und Interessen des "Clans" zu fördern, statt im nationalen Interesse zu handeln. Derzeitiger Parlamentspräsident ist Marat Sultanow.

 

Im Frühjahr 2006 gründete die Opposition die gemeinsame Plattform Za Reformy ("Für Reformen") und veranstaltete große Demonstrationen. Nach anderthalb Jahren politischer und verfahrensrechtlicher Streitigkeiten kam es im November 2006 zu einem Machtkampf zwischen Exekutive und Parlament. Die regierungsfeindlichen Demonstrationen im Zentrum der Hauptstadt Bischkek nahmen zu und wurden mit der Veranstaltung regierungsfreundlicher Demonstrationen beantwortet. Tausende Angehörige der Truppen des Innenministeriums und der Bereitschaftspolizei wurden mobilisiert, um das Weiße Haus zu schützen und eine Wiederholung der "Tulpenrevolution" zu verhindern.

 

Während die Demonstrationen andauerten, zeigte sich einige Tage später, dass das Parlament weder in der Lage war, einen von Präsident Bakijew eingebrachten Verfassungsentwurf zu erörtern noch einen konkurrierenden Verfassungsentwurf anzunehmen. Die Spannungen auf der Straße eskalierten, die Bereitschaftspolizei löste die Menge mit Schockgranaten und Tränengas auf. Angesichts der Gefahr eines Abdriftens in unkontrollierbare Gewalt und Chaos einigten sich Präsident Bakijew und seine Kontrahenten rasch auf eine neue Verfassung und Präsident Bakijew nutzte diese Gelegenheit, um einige der früheren Befugnisse des Präsidenten wieder einzusetzen, die dem Parlament überlassen worden waren.

 

Aus nicht ganz erkennbaren Gründen gab Premierminister Kulow seinen Rücktritt bekannt, offenbar entsprechend einer Abmachung mit Präsident Bakijew, deren Ziel darin bestand, die Zustimmung des Parlaments zu den Änderungen an der Verfassung zu vereinfachen. Die Änderungen wurden angenommen, und Präsident Bakijew unterzeichnete im Januar 2007 die neue Verfassung.

 

Das Parlament lehnte danach zweimal die vom Präsidenten vorgeschlagene Ernennung von Kulow zum Premierminister ab. Den späteren Aussagen Kulows zufolge hatte Bakijew versprochen, ihn auch ein drittes Mal zu nominieren, wodurch das Parlament gezwungen gewesen wäre, entweder zuzustimmen oder sich aufzulösen. Bakijew entschied sich jedoch, einen unauffälligen, loyalen Gefolgsmann namens Azim Isabekow zu nominieren, der gebilligt wurde, jedoch bereits zwei Monate später zurücktrat. Danach wurde der gemäßigte Oppositionspolitiker Almazbek Atambajew Premierminister.

 

Kulow steht heute an der Spitze der Partei Ar-Namys ("Würde"). Im Februar 2007 gab er die Gründung einer neuen Oppositionsbewegung, "Vereinte Front für eine würdige Zukunft Kirgisistans", bekannt. Diese Bewegung drängt auf den sofortigen Rücktritt von Präsident Bakijew und hat die Opposition gespalten. Mitte April 2007 kam es wieder zu regierungsfeindlichen Protesten in Bischkek. Die Opposition forderte erneut Änderungen der Verfassung, um die Befugnisse des Präsidenten einzuschränken. Nachdem es bei den Protesten zu Gewalttätigkeiten gekommen war, griffen die Sicherheitskräfte ein und räumten den Ala-Too-Platz in der Nähe des Weißen Hauses, der als Ausgangspunkt für die Demonstrationen gedient hatte. Später folgten Razzien in einer Druckerei, die mit Unterstützung der USA eingerichtet worden war, und in der Dokumente der Opposition konfisziert wurden, sowie Durchsuchungen im Hauptquartier der Vereinten Front Kulows.

 

Die Judikative gilt in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als äußerst korrupt und weit davon entfernt, unabhängig zu sein. Vorwürfe, die Judikative habe ebenso wie die politische Elite enge Beziehungen zum organisierten Verbrechen, werden im Land immer wieder laut, Experten stimmen dem zumindest teilweise zu. Es herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, dass seit der Revolution das organisierte Verbrechen durch die Spaltungen und Schwächen begünstigt wurde, die heute kennzeichnend für die Staatsbehörden sind. Eine Reihe von Morden steht in Zusammenhang mit dieser Entwicklung. Mehrere Abgeordnete wurden erschossen, was das Parlament dazu veranlasste, Rechtsvorschriften zu erlassen, um seinen Mitgliedern das Tragen von Waffen zu gestatten.

 

Die weit verbreitete Desillusionierung scheint auch das Interesse am radikalen Islamismus zu erhöhen, der sich selbst als Alternative zu Korruption, Kriminalisierung und fehlender Ordnung darstellt. Dieses Interesse und die Schwäche der staatlichen Sicherheitsstrukturen scheinen auch zu einer Zunahme der Tätigkeiten gewalttätiger Gruppen geführt zu haben. Im vergangenen Jahr kam es im Fergana-Tal an oder nahe der Grenze zu Tadschikistan zu einigen Vorfällen, die Opfer forderten, und an denen auch mutmaßliche Terroristen beteiligt waren. Die Ermordung des populären Imams Mohammad Rafah Kamalow im August 2006, dem die Behörden zunächst vorgeworfen hatten, ein Radikaler zu sein, der mit Extremisten zusammenarbeitet, rief großen Zorn hervor.

 

Die Lage der Menschenrechte ist in vieler Hinsicht besorgniserregend, zu den größten Problemen gehören politisch motivierte Morde, Folter, sehr schlechte Bedingungen in den Gefängnissen und Gewalt gegen Frauen. Die Durchsetzung der Menschenrechte wird auch durch mangelnde rechtsstaatliche Tradition und eine fehlende unabhängige Justiz erschwert. Es gibt weder eine rechtstaatliche Tradition noch eine unabhängige Justiz. In der Praxis ist die Folter nicht abgeschafft. Die Zustände auf Polizeistationen, in der Untersuchungshaft und in Gefängnissen sind in vielen Fällen menschenwidrig.

 

Kriminalität und Korruption:

 

Als Folge der schwierigen Wirtschaftslage nimmt die Kriminalität stark zu. Korruption, Amtsmissbrauch, Übergriffe durch Staatsorgane, Fehlverhalten und Polizeigewalt sind ein weit verbreitetes Problem. Insbesondere auch aufgrund der herrschenden Unterbezahlung stellt Bestechung und Korruption ein großes Problem in Kirgisistan dar. Seitens der Regierung werden aber auch Schritte zur Bekämpfung der Korruption im Privaten- wie auch im Öffentlichensektor gesetzt, trotzdem stellt Korruption auf allen Ebenen der Gesellschaft weiterhin ein Problem dar.

 

Beweis wurde erhoben durch die Einvernahme des Beschwerdeführers durch die Behörde erster Instanz am 22.10.2007, sowie durch die Befragung des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung des Asylgerichtshofes vom 31.07.2008, weiters durch Einsicht in den amnesty international Jahresbericht 2007, ACCORD- Anfragebeantwortungen vom 15.2.2007 und 27.6.2006, Länderfeststellungen, Mitteilung über die kirgisische Republik des EU-Parlaments vom 09.05.2007, Bericht vom Freedom-House, Kirgisistan (2008).

 

III. Beweiswürdigung:

 

Die Beschwerdeführerin erweckte in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof einen persönlich glaubhaften Eindruck. Die zentralen fluchtauslösenden Ereignisse vermochte sie in der Berufungsverhandlung detailreich, engagiert und anschaulich zu schildern. Sie antwortete auf die ihr gestellten Fragen gewissenhaft und detailreich und überzeugend, sodass ein nachvollziehbares Bild über die fluchtauslösenden Vorfälle entstand. Es konnten keine Ungereimtheiten in den Angaben während der Verhandlung erkannt werden. Keinesfalls kann aus den Angaben der Beschwerdeführerin, dass sie nicht wüsste, wer sie verfolgen würde und warum es in einen gewissen Zeitraum zu konkreten Handlungen gekommen sei, eine Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin abgeleitet werden. Auch die unterschiedlichen Angaben zum Zeitraum der Drohanrufe in den beiden vom Bundesasylamt durchgeführten Einvernahmen kann dadurch erklärt werden, dass die Beschwerdeführerin erst nachträglich von den Anrufen erfahren hat und zum Zeitpunkt der Anrufe selbst über diese nicht informiert war. Im Großen und Ganzen sind die Angaben zum Zeitpunkt der Drohanrufe, insbesondere die konkrete Angabe des 25.05.2007 - der Zeitpunkt zu dem der Sohn A. mit den Erpressern ein Telefonat führte - als ausreichend für die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu sehen. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin, sowohl vor der Erstbehörde wie auch in der Verhandlung vor dem Asylgerichtshof, sind klar, konkret und hinreichend detailliert und stehen auch im Einklang mit den Aussagen des Ehemannes und des volljährigen Sohnes und ist auch mit den politischen historischen Geschehnissen zum Zeitpunkt der Verfolgung in Einklang zu bringen. Die Beschwerdeführerin hat auch ihr Vorbringen im Laufe des Verfahrens niemals ausgewechselt und hatte auch ein Interesse am Verfahrensablauf. Das Vorbringen ist sowohl im erstinstanzlichen als auch im zweitinstanzlichen Verfahren gleichlautend und es sind keine Abweichungen zu erkennen.

 

Die Feststellungen zur Lage in Kirgisistan ergeben sich aus den zuvor zitierten Unterlagen.

 

Da die Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Situationsdarstellungen zu zweifeln. Auch seitens der Parteien wurden hinsichtlich der herangezogenen Quellen keine Einwände erhoben.

 

IV. Rechtliche Beurteilung:

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG sind beim Unabhängigen Bundesasylsenat am 01.07.2008 anhängige Verfahren in denen bis zu diesem Zeitpunkt keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, vom dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat des Asylgerichtshof weiterzuführen.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 besagt:

 

Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

 

Gemäß Abs. 5 leg. cit. ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die

 

Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "begründete Furcht vor Verfolgung."

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in

 

dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.

 

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht, (zB VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998, 98/01/0262). Im Hinblick auf die die Beschwerdeführerin treffenden Ereignisse des Frühling/Sommer 2007 ist die Furcht vor Verfolgung der Beschwerdeführerin - insbesondere aufgrund der massiven Misshandlungen ihres Ehemannes - objektiv nachvollziehbar.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtssprechung ausgeführt, dass als Fluchtgründe unter dem Gesichtspunkt der Schwere des Eingriffes nur solche Maßnahmen in Betracht kommen, die einen weiteren Verbleib im Heimatland aus objektiver Sicht unerträglich erscheinen lassen (VwGH vom 16.09.1992, 92/01/0544, VwGH vom 07.10.2003, 92/01/1015, 93/01/0929, u.a.).

 

Die vom Asylwerber vorgebrachten Eingriffe in seine vom Staat zu schützende Sphäre müssen in einem erkennbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise aus seinem Heimatland liegen. Die fluchtauslösende Verfolgungsgefahr bzw. Verfolgung muss daher aktuell sein (VwGH 26.06.1996, Zl. 96/20/0414) - Verfolgung im Frühling/Sommer 2007 - Flucht Juli 2007. Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

 

Die Würdigung der Erstbehörde, die Beschwerdeführerin hätte keine Verfolgung im Sinne der GFK glaubhaft machen können, ist jedenfalls verfehlt und kann auch hinsichtlich der getroffenen Länderfeststellungen im konkreten Fall der Beschwerdeführerin von keiner hinreichenden Schutzfähigkeit bzw. -willigkeit des kirgisischen Staates ausgegangen werden.

 

Die Verfolgungsgefahr beruht auch auf einem in der GFK anerkannten Verfolgungsgrund, nämlich aufgrund einer speziellen Mischlage aus ethnischen (Zugehörigkeit zur russischen Minderheit) und religiösen (Zugehörigkeit zum christlich-orthodoxen Glauben) Elementen. Im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin keinesfalls mit einem effektiven staatlichen Schutz rechnen kann - im Gegenteil scheint die Verfolgung durch Vertreter staatlicher Einrichtungen zu erfolgen - ist nicht davon auszugehen, dass für die Beschwerdeführerin die Möglichkeit besteht in irgendeinem Teil der Republik Kirgisistan Schutz vor der gegenständlichen Verfolgung zu finden, weshalb die Annahme einer innerstaatlichen Flucht- bzw. Schutzalternative ausscheidet.

 

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Kirgisistan mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe von sehr hoher Intensität in ihre zu schützende persönliche Sphäre (Leben, Gesundheit, Freiheit) drohen und zwar aus einem in der GFK angeführten Verfolgungsgrund.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
ethnische Verfolgung, gesamte Staatsgebiet, Religion, Schutzunfähigkeit, Schutzunwilligkeit, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
11.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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