TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/26 S8 401110-1/2008

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Veröffentlicht am 26.08.2008
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Spruch

S8 401.110-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Büchele als Einzelrichter über die Beschwerde der R.V., geb. 00.00.1967, StA. Kosovo, vertreten durch Mag. Thomas PUTSCHER, Caritas Diözese Eisenstadt, St. Rochus-Straße 15, 7000 Eisenstadt, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.08.2008, Zahl: 08 05.720 EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBL. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Kosovo, ist am 02.07.2008 mit dem Zug von Budapest nach München illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (in der Folge: Asylantrag) gestellt.

 

2. Bei der Erstbefragung am 03.07.2008 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Apetlon in Anwesenheit eines Dolmetschers für Albanisch gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe am 11.06.2008 Pri¿tina mit einem Linienbus verlassen und sei bis zur serbisch-ungarischen Grenze gefahren. Er habe ohne Pass zu Fuß diese Grenze überquert. Er sei dann anschließend nach Budapest gefahren. Dort habe er eine Bahnkarte nach München gelöst. Er habe bereits im Jahr 1992 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Er habe sein Land wegen der schlechten Wirtschaftslage verlassen; er sei arbeitslos. Da er weiters verschuldet sei, befürchte er Schwierigkeiten, da er seine Schulden nicht zurückzahlen könne.

 

3. Am 10.07.2008 richtete das Bundesasylamt gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG)

 

Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) an die zuständige ungarische Behörde. Am 14.07.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG 2005 mitgeteilt, dass mit Ungarn Konsultationen geführt werden und aus diesem Grund die im § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 normierte 20-Tages-Frist nicht gelte; es sei beabsichtigt, seinen Asylantrag wegen Unzuständigkeit Österreichs zurückzuweisen. Am 24.07.2008 langte ein Schreiben der ungarischen Behörden vom 23.07.2008 beim Bundesasylamt ein, worin die Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung bestätigt wurde.

 

4. Am 30.07.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für Albanisch niederschriftlich einvernommen. Es wurde festgestellt, dass ihm vor der Rechtsberatung eine Aktenabschrift mit den entsprechenden Feststellungen zum ungarischen Asylverfahren übergeben wurde. Er gab dabei u.a. wörtlich zu Protokoll:

 

"A: Ich habe im Kosovo Probleme mit einem [NN-1] und [NN-2]. Sie gehören zu den [NN-Mafiaclan]. Ich schulde insgesamt 3 Personen insgesamt 19.000,-- Euro. Ich hatte eine Firma mit 4 Mitarbeitern im Kosovo. [NN-3] und [NN-4] besitzen ein Casino in B.. Und ein Bruder glaublich von [NN-5], dem ich auch Geld schulde, hat ein Casino in F.. Es ist aber nicht DER [NN-6]. Befragt gebe ich an, dass ich das Geld verspielt habe.

 

F: In der Erstbefragung haben Sie angegeben, nach Deutschland wegen ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation reisen zu wollen.

 

A: Ich wurde nur kurz gefragt und habe kurz geantwortet.

 

F: Warum können Sie nicht nach Ungarn zurück?

 

A: Ich habe Angst, dass Sie erfahren, dass ich in Ungarn bin.

 

F: Besteht die Gefahr also auch in Deutschland, wenn dort Verwandte sind?

 

A: Nein, den Bruder interessiert das nicht."

 

Zu Ungarn gab der Beschwerdeführer an, dass er vom Staat nichts zu befürchten habe, er habe aber Angst vor den genannten Mitgliedern des Mafiaclans. Zu seinen familiären Verhältnissen gab er an, dass seine Familie und sein Kind im Kosovo versteckt seien. Er könnte aber in Graz bei seinem Cousin wohnen. Aus den vom Beschwerdeführer vorgelegten Notizzettel ist zu entnehmen, dass er durch Glückspiel Schulden bei verschiedenen Personen angehäuft hat.

 

5. Das Bundesasylamt hat mit dem beim Asylgerichtshof Bescheid vom 01.08.2008, Zahl: 08 05.720 EAST-Ost, ohne in die Sache einzutreten den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung Ungarn zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Ungarn gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.).

 

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde beim Asylgerichtshof wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhalts. Das Ehrgefühl im Kosovo sei sehr ausgeprägt; Blutrache sei immer noch präsent. Der Beschwerdeführer habe bei seiner Einvernahme konkrete Angaben zu dem Bedrohungsszenarion gemacht. Er führte aus, dass er Probleme mit [NN-1] und [NN-2], die dem bekannten Mafia- Clan der [NN] angehören, hat und insgesamt drei Personen in Summe ¿ 19.000,-- schulde. Zwei Angehörige dieses Clans [NN-3] und [NN-4] besäßen ein Casino in B.. Da es sich dabei um einen über Grenzen hinweg agierenden Mafiaclan handle, sei jedoch davon auszugehen, dass eine reale Gefahr des fehlenden Schutzes bestehe.

 

Der Beschwerdeführer sei weiters in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt. Bei dem bei der Einvernahme angeführten Verwandten handle es sich in Wirklichkeit nicht um seinen Cousin, sondern um seinen Bruder; darauf deute schon der gemeinsame Familienname. Der Beschwerdeführer sei mit seinem Bruder aufgewachsen und stehe mit diesem in stetem engen Kontakt; er werde von diesem auch finanziell unterstützt. Weiters habe der Beschwerdeführer viele Jahre im deutschen Sprachraum verbracht; er könne kein Ungarisch. Würde er nach Ungarn überstellt, könnte er keine zwischenmenschliche Beziehungen zu anderen Kosovaren oder anderen serbisch sprechenden Ungarn, Flüchtlingen oder Asylwerbern aufbauen. Er müsse jederzeit fürchten, dass diese den Mafiaclan von seiner Anwesenheit in Ungarn informieren könnten. Der Beschwerdeführer sei auch deshalb in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Kosovo, hat sein Heimatland verlassen und ist am 02.07.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Asylantrag gestellt. Sein eigentliches Reiseziel war Deutschland.

 

1.2. Ungarn hat sich mit Schreiben vom 23.07.2008 (beim Bundesasylamt eingetroffen am 24.07.2008) gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung ausdrücklich für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

Die in § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG 2005 ist nicht anwendbar, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß Dublin-Verordnung binnen Frist mitgeteilt wurde; es ist somit zu keinem Zuständigkeitsübergang an Österreich wegen Fristüberschreitung gekommen.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.07.2008 (Aktenseiten 33 - 41), aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers am 30.07.2008 (Aktenseiten 105 - 111 samt Beilage zum Protokoll Aktenseiten 113 - 115), sowie aus der Zuständigkeitserklärung Ungarns vom 23.07.2008 (Aktenseite 79).

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß § 5 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008, (in der Folge: AsylG 2005) ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

 

Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach § 5 Abs. 1 AsylG 2005 Schutz vor Verfolgung findet (§ 5 Abs. 3 AsylG 2005). Mit dieser Regelung wurde eine teilweise Beweislastumkehr geschaffen. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, ihr Beschwerdevorbringen zu untermauern (wobei dem auch durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949); dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung in dieser Bestimmung überhaupt für unbeachtlich zu erklären.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin-Verordnung ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger (eine Person, die nicht Bürgerin oder Bürger der Europäischen Union ist) an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.2. Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung lautet:

 

"(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts."

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach dem AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Asylantrag zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn dem Fremden entweder im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art.3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG 2005 ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin-Verordnung oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.3. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer in Ungarn illegal in die EU eingereist ist und, dass Ungarn einer Übernahme des Beschwerdeführers auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung am 23.07.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Ungarn zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

3.4. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.

 

3.4.1. Zur möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK:

 

Der Verfassungsgerichtshof sprach - noch zur Vorläuferbestimmung im AsylG 1997 - in seinem Erkenntnis VfSlg 16.122/2001, aus, dass § 5 AsylG 1997 nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 leg.cit. vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG 1997 sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden (diese Ausführungen wurden mit VfSlg. 17.340/2004 auf das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung übertragen). Der Verwaltungsgerichtshof schloss sich mit Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes an.

 

Der Verfassungsgerichtshof ergänzte mit VfSlg. 17.586/2005 zur oben wiedergegebene Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die "entsprechende Vergewisserung" nicht durch die Mitgliedstaaten, sondern durch die Organe der Europäischen Union, im konkreten Fall durch den Rat bei der Erlassung der Dublin-Verordnung erfolgt sei. Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten daher nicht nachzuprüfen, ob ein anderer generell sicher ist. Insofern sei auch der Verfassungsgerichtshof an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden. Eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (das einen Bescheid zur Zuständigkeit Italiens auf der Grundlage des Dubliner Übereinkommen zum Gegenstand hatte) sowie in dem (bereits zur Dublin-Verordnung) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Zuständigkeitsverfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist. Dabei sei zu prüfen, ob eine - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiierte reale Gefahr ("real risk") besteht, dass ein aufgrund der Dublin-Verordnung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz berechtigtem Schutzbegehren, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist. Dabei sei insbesondere zu prüfen, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wurde ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (kurz: EGMR) muss der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EGMR, Entsch. vom 07.07.1987 Nr. 12877/87 [Kalema gegen Frankreich], DR 53, S. 254 [264]; zum Maßstab des "real risk" siehe auch die Nachweise in VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582).

 

Zur Behauptung einer möglichen Bedrohung des Beschwerdeführers:

 

Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Ungarn die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde. Das Beschwerdevorbringen erschöpft sich zu einer möglichen Verletzung von Rechten nach dieser Bestimmung dahingehend, dass er Angehörigen eines Mafiaclans ausgeliefert sein könnte. Dass er bei seinem Aufenthalt in Ungarn bedroht worden wäre oder ihm eine Verfolgung bevorstehe, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen. Warum ihm in Deutschland, seinem eigentlichen Reiseziel, keine solche Verfolgung drohe ist nicht plausibel; dies obwohl nach seinen eigenen Angaben auch in Deutschland Mitglieder dieses Mafiaclans tätig sind und er in der Beschwerde selbst ausführt, dass es sich beim Mafiaclan um eine grenzüberschreitende Organisation handelt.

 

Ungarn ist ein Rechtstaat mit funktionierender Staatsgewalt. Der Beschwerdeführer kann sich im Falle eventueller Übergriffe gegen seine Person - welche im Übrigen in jedem Land möglich wären - an die ungarischen Behörden wenden und von diesen Schutz erwarten. Der Beschwerdeführer wäre daher allfälligen Übergriffen nicht schutzlos ausgeliefert. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass sich der Beschwerdeführer nicht an die ungarischen Behörden hätte wenden können bzw. dass die ungarischen Behörden nicht willens oder nicht in der Lage gewesen wären, Schutz zu gewähren.

 

Zusammengefasst stellt daher eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Ungarn keine Verletzung des Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung dar.

 

3.4.2. Zur möglichen Verletzung nach Art. 8 EMRK

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayr ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im vorliegenden Fall behauptet der Beschwerdeführer, dass sein Bruder in Österreich lebt. Diesbezüglich ist zunächst auszuführen, dass die Beziehung zwischen Brüdern von der oben zitierten Judikatur des EGMR nicht grundsätzlich umfasst wird. Es ist daher zu prüfen, ob die vom EGMR geforderte Beziehungsintensität im gegenständlichen Fall vorliegt. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass der Bruder des Beschwerdeführers nach seinen Angaben bereits seit Jahren in Österreich lebt. Der Beschwerdeführer wollte aber nicht zu seinem Bruder wegen seiner engen Verbundenheit zu diesem, sondern durch Österreich nach Deutschland durchreisen. Der Vollständigkeit halber ist ebenso darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer mit seinem Bruder seit vielen Jahren nicht mehr im gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Es liegen auch sonst keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer, vor (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl. B 1802/06).

 

Es kann daher im gegenständlichen Fall nicht von der vom EGMR geforderten Beziehungsintensität gesprochen werden, weshalb eine Ausweisung keinesfalls in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat und Familienleben darstellt.

 

Es kann somit auch dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem Verwandten des Beschwerdeführers in Graz in Wirklichkeit um seinen Cousin handelt.

 

3.4.3. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung aufgrund einer drohenden Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte besteht.

 

3.4.5. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG 2005 ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG 2005 gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes in dem Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Ungarn anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG 2005 schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5. Bei diesem Ergebnis konnte eine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entfallen.

 

3.6. Von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, familiäre Situation, Intensität, Rechtsschutzstandard, Sicherheitslage, staatlicher Schutz
Zuletzt aktualisiert am
14.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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