TE AsylGH Bescheid 2008/08/26 C6 200999-4/2008

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Veröffentlicht am 26.08.2008
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Spruch

C6 200.999-4/2008/17E

 

A.N.; geb. 00.00.1973

 

StA: Türkei

 

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG

 

DES VOM UNABHÄNGIGEN BUNDESASYLSENAT IN DER MÜNDLICHEN VERHANDLUNG

AM 8.5.2008 VERKÜNDETEN BESCHEIDS

 

SPRUCH

 

Der unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Mag. Judith PUTZER gemäß § 66 Abs 4 AVG iVm § 38 Abs 1 des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idgF entschieden:

 

Der Berufung von A.N. vom 23.12.2004 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.12.2004, Zahl 97 00.767-BAT, wird stattgegeben und A.N. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg cit wird festgestellt, dass A.N. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

BEGRÜNDUNG

 

I. Bisheriger Verfahrensgang:

 

Am 17.2.1997 stellte der Berufungswerber, seinen Angaben zu Folge türkischer Staatsbürger und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, in Österreich einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.4.1997, Zahl 97 00.767-BAT, gemäß § 3 AsylG 1991, BGBl. Nr. 8/1992, abgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob der Berufungswerber mit Schriftsatz vom 28.4.1997 Berufung. Mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9.1.2004, Zahl 200.999/1-II/28/03 wurde der Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.4.1997 aufgehoben und die Sache an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.12.2004, Zahl: 97 00.767-BAT, wurde der Antrag gemäß § 7 AsylG 1997 idgF abgewiesen. Unter Spruchpunkt II dieses Bescheides wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Berufungswerbers in die Türkei zulässig ist. Das Bundesasylamt beurteilte das Vorbringen des Berufungswerbers nicht als glaubwürdig und begründete dies näher. Weiters verneinte das Bundesasylamt, dass der Berufungswerber iSd § 8 AsylG iVm § 57 Abs. 1 und 2 Fremdengesetz 1997 BGBl. I 75 (in der Folge: FrG) bedroht oder gefährdet sei, und begründete abschließend seine Ausweisungsentscheidung.

 

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Berufung.

 

Der unabhängige Bundesasylsenat erhob Beweis durch Einsicht in die folgenden Dokumente:

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand Jänner 2007);

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei. Zur aktuellen Situation - Oktober 2007;

 

Home Office, Operational Guidance Note Turkey, 11 July 2006;

 

Schweizerisches Bundesamt für Migration, Focus Türkei - Folter und Misshandlung, 8. März 2007;

 

http://de.wikipedia.org/wiki/TKP/ML

 

und führte am 1.3.2007 und am 8.5.2008 eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung gemäß § 67d AVG unter Beiziehung eines Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in der Türkei durch, an der das Bundesasylamt nicht teilgenommen hat.

 

II. Der unabhängige Bundesasylsenat hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt steht fest:

 

1.1. Zur Person des Berufungswerbers:

 

1.1.1. Der Berufungswerber ist türkischer Staatsangehöriger und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er stammt aus dem Dorf D.. Bis zum dritten Lebensjahr lebte der Berufungswerber in seinem Geburtsort; anschließend zog die Familie nach G.. Von 1985 bis zu seiner Ausreise lebte der Berufungswerber - bis auf ein paar Unterbrechungen - in Istanbul. Er besuchte fünf Jahre die Volksschule und drei Jahre die Hauptschule. Die Eltern des Berufungswerbers sind bereits verstorben. Zwei seiner Geschwister leben in der Türkei, drei in Österreich. Den Militärdienst leistete der Berufungswerber 1993/1994 ab; er wurde ua aufgefordert, kurdische Dorfbewohner zu misshandeln. Da der Berufungswerber ein derartiges Vorgehen gegen "seine Landsleute" verweigerte, kam es zu Misshandlungen seiner Person; auch kam es zu Anhaltungen. 1996 wurde er mit weiteren elf Personen auf dem Heimweg von einer Demonstration festgenommen und in weiterer Folge tagelang gefoltert. Gegen den Berufungswerber wurde bei der Staatsanwaltschaft G. ein Haftbefehl erlassen; dieser wurde wegen Unauffindbarkeit des Berufungswerbers an das Sicherheitsgericht in M. weitergeleitet. Beim Sicherheitsgericht wurde eine Anklage wegen Tätigkeit in einer terroristischen Organisation (TKP/ML) erhoben. Seit seiner Ankunft in Österreich ist der Berufungswerber beim Arbeiter- und Jugendkulturverein Mitglied; er nimmt auch an Demonstrationen teil.

 

1.2. Zum Herkunftsstaat des Berufungswerbers:

 

1.2.1. Zur hier relevanten Minderheitensituation:

 

Die Türkei erkennt Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags von 1923 an, der "türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, (...) die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen" (Art. 39) garantiert. Weiterhin sichert er den nichtmuslimischen Minderheiten das Recht zur "Gründung, Verwaltung und Kontrolle (...) karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung" zu (Art. 40). Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der in Art. 37 bis 44 des Lausanner Vertrages niedergelegte, aber nicht auf bestimmte Gruppen festgeschriebene Schutz allerdings nur auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe und die armenisch-apostolische Kirche sowie die jüdische Gemeinschaft...

 

Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei (72 Millionen) - also ca. 14 Millionen Menschen - ist zumindest teilweise kurdischstämmig. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebt die Hälfte bis annähernd zwei Drittel dieser Kurden: ca. drei Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Rund sechs Millionen kurdischstämmige Türken leben in der Ost- und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig.

 

Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus... (Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 11. Jänner 2007, S 15).

 

1.2.1. Exilpolitische Aktivitäten/Tätigkeiten in der Türkei verbotenen Vereinen:

 

1.2.1.1. Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Es ist davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verurteilung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen bezieht, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden (Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 11. Jänner 2007, S 34).

 

1.2.1.2. "Bei jeder Demonstration der kurdischen Vereine wird durch Mittelsmänner oder türkischen Geheimdienstler fotografiert und gefilmt. Bei Demonstrationen, zu denen sich die Türken nicht trauen hinzugehen, versuchen sie über kurdische Zeitungen und Fernsehen die Demonstranten auszuforschen. Diejenigen, die ausgewertet sind, werden der politischen Polizei und der Anti-Terror-Einheit, die über die Informationssammelstelle verfügt, zugeschickt, damit diese im Fall der Rückkehr dieser Personen genügend Material in der Hand haben um gegen diese Leute gerichtlich vorgehen zu können. Personen wie der Berufungswerber - insbesondere aufgrund des Umstandes, dass seine Frau in einer kurdischen Tageszeitung als Demonstrantin, die eine kurdische Fahne trägt, abgelichtet ist - haben im Fall einer Rückkehr in die Türkei damit zu rechnen, dass sie sofort der politischen Polizei übergeben würden, die sie nach einem Verhör und einer dabei entstandenen Aussage der Anti-Terror-Einheit übergeben würde. Das bedeutet Folter und erpresste Aussagen, die von den betroffenen Personen zwangsweise unterschrieben werden müsste. Diese Aussagen werden auch vor den Strafgereichten, die ehemaligen Staatssicherheitsgerichte vertreten, als Beweis zugelassen.

 

Eine Verurteilung nach der Anti-Terror-Gesetzgebung § 314 türk. StGB bedeutet eine Haftstrafe von 7 bis 15 Jahren.

 

Alle kurdischen Vereine im Ausland werden vom türkischen Staat als illegal und terroristisch eingestuft. Auch kurdische Vereine werden regelmäßig vom türkischen Staat beobachtet, teilweise werden auch Mittelsmänner eingeschleust." (Ausführungen des Sachverständigen in der Rechtsache zu C6 218.392).

 

1.2.2. Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten

(TKP/ML)TKP/ML:

 

Die Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten Leninisten (TKP/ML, Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist) ist eine marxistisch-leninistisch-maoistische Partei, die 1972 von Ibrahim Kaypakkaya in der Türkei gegründet wurde. Seit 1974 ist sie auch in Deutschland vertreten. Ziel der TKP/ML und ihrer Splittergruppen ist ein bewaffneter revolutionärer Umsturz in der Türkei und die Schaffung eines "demokratischen Volksstaats" unter Führung des Proletariats.

 

Seit ihrer Gründung hat sich die TKP/ML mehrfach gespalten. Ursprünglich firmierte sie unter der Bezeichnung Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/M-L) (mit Bindestrich). Im Jahr 1994 entstanden aus der TKP/ML zwei konkurrierende Fraktionen, Partizan und Maoistische Kommunistische Partei (MKP, Maoist Komünist Partisi) (bis 2002: Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK)) genannt, die beide die gleiche Ideologie verfolgen. Um ihre Ziele umzusetzen unterhalten beide Fraktionen bewaffnete Guerilla-Gruppen in der Türkei, die TKP/ML die Arbeiter- und Bauern-Befreiungsarmee der Türkei (Türkiye Isçi Köylü Kurtulus Ordusu, TIKKO) und die MKP die Volksbefreiungsarmee (Halk Kurtulus Ordusu, HKO).

 

Daneben besteht derzeit noch die 1987 als Abspaltung der TKP/ML entstandene kleine Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten Leninisten (Maoistische Partei-Zentrale) (Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (Maoist Parti Merkezi)), welche der RIM angehört.

 

Die deutschen Gruppierungen der TKP/ML werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Dieser schätzt die Zahl der Anhänger beider Gruppierungen in Deutschland auf insgesamt 1.300 (Stand 2005). Laut Verfassungsschutz unterhielten verschiedene maoistische Gruppierungen aus der Türkei "Tarnorganisationen" in Deutschland, die hauptsächlich der Spendensammlung dienten. Der TKP/ML (Partizan) wird beispielsweise ATIK zugeordnet, während die ADHK (Konföderation für Demokratische Rechte in Europa) als verlängerter Arm der MKP gilt (http://de.wikipedia.org/wiki/TKP/ML).

 

1.2.3. Rückkehrproblematik:

 

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder, auch Ab- und Zurückgeschobene sowie abgelehnte Asylbewerber, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Dokument besitzen, können die Grenzkontrolle normalerweise ungehindert passieren. Wird der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird sie einer Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhaltet (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, S 34).

 

2. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die zur Person des Berufungswerbers und zu seinem familiären und politischen Hintergrund getroffenen Feststellungen basieren auf seinem Vorbringen im Asylverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung. Es gab für die Berufungsbehörde keine Anhaltspunkte, an der Glaubhaftigkeit des Vorbringens zu zweifeln.

 

Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen den Berufungswerber wurde vom der mündlichen Verhandlung beigezogenen Sachverständigen als den Gegebenheiten im Herkunftsstaat des Berufungswerbers entsprechend beurteilt:

 

" ... Frage des Haftbefehls: Gem. dem Auftrag habe ich meinen Vertrauensanwalt angerufen und ihn gebeten, dass er Recherchen über die Fragen, ob der BW [= Berufungswerber] durch einen Haftbefehl in der Türkei gesucht wird, und ob er registriert wurde wegen der Tätigkeit bei der TKP/ML und ob es verifizierbar ist, dass der BW 12 Tage von der Polizei festgenommen worden ist. Ich habe weiters gebeten, dass der Anwalt Rücksicht auf Datenschutz des BW nimmt und die Daten nicht an Privatpersonen oder Behörden, die ihn gefährden könnten, weitergibt. Nach seinen Recherchen war es nicht verifizierbar, dass der BW 12 Tage bei der Polizei in Haft gewesen war und auch diesbezüglich keinerlei Polizeiprotokolle angefertigt wurden. Er hat feststellen können, dass von der Staatsanwaltschaft G. ein Haftbefehl vorliegt, und zwar wegen Tätigkeit in einer illegalen terroristischen Organisation TKP/ML wurde in diesem Haftbefehl nicht genannt. Durch die Unauffindbarkeit des BW hat die Staatsanwaltschaft seinen Akt dem Staatssicherheitsgericht M. weitergeleitet, wo eine Anklage wegen Tätigkeit in einer terroristischen Organisation, und zwar TKP/ML erhoben wurde.

 

Das heißt, der BW wird weiterhin gesucht, die Haftbefehle bzw. Anklagen, die vom Staatssicherheitsgericht übernommen wurden, unterliegen keiner Verjährung. Deshalb gehe ich davon aus, dass der BW im Falle seiner Rückkehr in die Türkei direkt von der politischen Polizei übernommen würde, und anschließend der Antiterroreinheit überstellt würde. Das bedeutet, wie es dort üblich ist, bekannterweise eine erpresste Aussage, die vor den Strafgerichten die jetzt die ehemaligen Staatssicherheitsgerichte vertreten, als Beweis gewürdigt werden. Das bedeutet auch Folterungen, wie man zuletzt am 01.Mai in der Türkei über türkische und internationale Medien gesehen hat, dass die Lage sich verschärft hat, dass die Sicherheitskräfte brutal gegen jeden vorgegangen sind, die an Demonstrationen teilgenommen haben oder sogar auch gegen kranke Personen, die mit den Demonstrationen nichts zu tun hatten. Man hat sogar eine Gasbombe in ein Krankenhaus geworden, wo ältere und kranke Leute nicht mehr atmen konnten. Dabei sind auch viele Touristen von der Polizei niedergeschlagen worden. Es war ein sehr brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen zivile Personen. Deshalb ist es auch nicht auszuschließen, dass immer noch Folterungen an der Tagesordnung sind.

 

Der BW wird wahrscheinlich nach der Antiterrorgesetzgebung verurteilt (§ 314 türk. StGB), das bedeutet, dass er das höchste Strafausmaß bekommt (15Jahre).

 

Die politischen Häftlinge werden in neue E-Typen Gefängnissen gebracht, dort gibt es Isolationshaft und psychische Folterungen, Verbot Bücher oder Zeitschriften zu lesen und monatelang mit niemandem zu reden. Sogar monatelang in einer dunklen Zelle, die auf einem Quadratmeter beschränkt ist, sich aufhalten zu müssen. ... Auf Nachfrage der BWV gibt SV an: Bei Fällen, die die Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation oder Terrorismus betreffen, hat die Polizei uneingeschränkte Zeit. Damit konnte die Polizei durch Folterungen und Einschüchterungen die Gefangenen soweit bringen, dass sie mit ihnen kooperieren oder eine Aussage machen, die von der Polizei vorbereitet war, zu unterschreiben. Außer in Fällen, die durch Anwälte bekannt geworden sind und vertreten waren, hier gab es eine Beschränkung auf 7 Tage. Diese 7 Tage wurden auf Ersuchen der Polizei bei der Staatsanwaltschaft immer wieder verlängert, jedoch höchstens auf drei Wochen. Nur über solche Fälle gab es Polizeiprotokolle, ansonsten gab es nur interne Aufzeichnungen, zu denen niemand Zugang hat, außer der Polizei selbst."

 

2.2. Die zum Herkunftsstaat des Berufungswerbers getroffenen Feststellungen basieren auf den unter 1.2. jeweils genannte Quellen.

 

3. Rechtlich folgt:

 

3.1.1. Mit 1.7.2008 wurde der Asylgerichtshof als unabhängige Kontrollinstanz in Asylsachen eingerichtet. Die maßgeblichen verfassungsmäßigen Bestimmungen bezüglich der Einrichtung des Asylgerichtshofes befinden sich in den Art 129c ff B-VG.

 

Gemäß Art 151 Abs 39 Z 1 B-VG wird mit 1.7.2008 der bisherige unabhängige Bundesasylsenat zum Asylgerichtshof. Gemäß Z 4 leg cit sind am 1.7.2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen.

 

Bereits aufgrund der genannten Bestimmungen und der in ihnen erkennbar vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Kontinuität ergibt sich, dass der Asylgerichtshof auch für die schriftliche Ausfertigung von mündlich verkündeten Bescheiden des unabhängigen Bundesasylsenates zuständig ist. Da die ausfertigende Richterin des Asylgerichtshofes dieselbe Person wie das für das Berufungsverfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat zuständige Senatsmitglied ist, ergeben sich auch aus dem Grundsatz der richterlichen Unmittelbarkeit keine Bedenken. Im vorliegenden Fall wurde der Berufungsbescheid mit oa Spruch am 8.5.2008 und damit vor Einrichtung des Asylgerichtshofes beschlossen und öffentlich verkündet.

 

3.1.2. Gem § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Der verwiesene Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention lautet: Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck "Flüchtling" auf jede Person Anwendung, die ... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Gesinnung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; ...

 

3.2. Die Furcht des Berufungswerbers vor Verfolgung ist begründet:

 

Gegen den Berufungswerber liegt von der Staatsanwaltschaft G. ein Haftbefehl wegen Tätigkeit in einer illegalen Organisation vor, der an das Staatssicherheitsgericht M. weitergeleitet wurde. Beim Staatssicherheitsgericht wurde eine Anklage wegen Tätigkeit in einer terroristischen Organisation, der TKP/ML, erhoben; dh, dass der Berufungswerber weiterhin gesucht wird, da Haftbefehle bzw. Anklagen keiner Verjährung unterliegen.

 

Darüber hinaus nimmt der Berufungswerber seit mehreren Jahren in Österreich regelmäßig an politischen Kundgebungen und Veranstaltungen teil. Diese Veranstaltungen haben überwiegend Kritik an der Vorgangsweise des türkischen Staates gegenüber politisch anders denkenden Personen - insbesondere Mitgliedern kurdischer Organisationen - zum Inhalt gehabt. Es ist den Ausführungen im Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes zu entnehmen, dass vom türkischen Staat Informationen über die Teilnahme an solchen Veranstaltungen dann systematisch gesammelt und ausgewertet werden, wenn die betreffende Person in einer exponierten Weise daran teilnimmt. Darunter ist - in Abgrenzung zum bloßen "Mitläufertum" - die aktionistische Teilnahme als Redner zu verstehen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Photos von Veranstaltungen aufgenommen und ausgewertet werden ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei der der türkischen Polizei zur Verfügung stehenden Informationssammelstelle Daten über den Berufungswerber seit seiner aktiven und im eben geschilderten Sinn exponierten Teilnahme an Demonstrationen vorhanden sind.

 

Mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit ist dies jedoch schon deshalb der Fall, da gegen Berufungswerber ein aufrechter Haftbefehl bzw eine Anklage in der Türkei vorliegt, die darauf gestützt wird, dass er der TKP/ML zugehörig sei. Es ist den Ausführungen des Sachverständigen zu Folge davon auszugehen, dass Personen, die bei dieser Organisation tätig sind, von Seiten des türkischen Staates als "Terroristen" bzw. als Mitglieder einer in der Türkei als gefährlich qualifizierten Organisation angesehen werden. Bei einer Gesamtschau dieser Umstände ist davon auszugehen, dass der Berufungswerber als "auffällig regimekritisch" einzustufen ist und dass der türkische Staat davon Notiz genommen hat.

 

Im Fall seiner Rückkehr in die Türkei ist weiters davon auszugehen, dass über den Berufungswerber gesammelte Informationen auf Grund der routinemäßig durchgeführten Recherchen bei der Grenzkontrolle bereits der Grenzpolizei bekannt würden. Der Berufungswerber hat bereits bei der Einreise in die Türkei mit seiner Anhaltung, Festnahme und Befragung bzw. Überstellung an der für die Staatssicherheit zuständigen Polizeieinheit zu rechnen. Im Rahmen einer daran anknüpfenden Überstellung an die Anti-Terroreinheit ist das Risiko einer Misshandlung gegeben; Eingriffe in die psychische oder physische Integrität sind nicht auszuschließen, was sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergibt, der davon spricht, dass es zu Folterungen und erzwungenen Aussagen kommen wird.

 

3.3. Der hier in seiner Intensität zweifellos erhebliche Eingriff - Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit - in die vom Staat schützende Sphäre des Einzelnen ist dann asylrelevant, wenn er an einem in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Unter politischer Gesinnung als Ursache eines drohenden Eingriffes ist alles zu verstehen, was auf die staatliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung und ihre konkrete sachliche und personelle Ausgestaltung bezogen ist, alles, was der Staat gegen sich, seine Ordnung, seinen Bestand, eventuell gegen seine Legitimität gerichtet erachtet. Im Fall des Berufungswerbers knüpft die Verfolgungsgefahr an seine politische Gesinnung an. Es ist davon auszugehen, dass seine Gesinnung vom türkischen Staat jedenfalls als eine gegen den Bestand des Staates gerichtete qualifiziert wird. Die unter 3.2. dargestellten spezifischen Gefährdungsrisiken stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Annahme einer bestimmten (staatsfeindlichen) politischen Gesinnung von Seiten des türkischen Staates. Die vom Berufungswerber zu befürchtende Verfolgungsgefährdung knüpft somit eindeutig an den Tatbestand der "politischen Gesinnung" an.

 

3.4. Eine inländische Fluchtalternative steht dem Berufungswerber aus folgenden Gründen nicht offen: Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes trägt der Begriff "inländische Fluchtalternative" dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss. Steht dem Asylwerber die gefahrlose Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht (VwGH 08.09.1999, 98/01/0503; 25.11.19999, 98/20/0523). Das einer "inländischen Fluchtalternative" innewohnende Zumutbarkeitskalkül setzt voraus, dass der Asylwerber im in Frage kommenden Gebiet nicht in eine ausweglose Lage gerät (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614). Im konkreten Fall kann nicht angenommen werden, dass sich der Berufungswerber der dargestellten Bedrohung durch Ausweichen in einen anderen Teil seines Herkunftsstaates entziehen kann; dies schon deshalb, weil sich die Gebiets- und Hoheitsgewalt der türkischen Regierung auf das gesamte Gebiet erstreckt und Informationen über die im Ausland stattgefundenen politischen Tätigkeiten des Berufungswerbers den türkischen Behörden zur Verfügung stehen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass es dem Berufungswerber möglich wäre, sich über einen längeren Zeitraum hindurch erfolgreich versteckt zu halten (vgl dazu auch Home Office, Operational Guidance Note Turkey, p. 3.10).

 

3.5. Zusammenfassend wird festgehalten, dass sich der Berufungswerber aus wohlbegründeter Furcht, wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb der Türkei befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren und auch keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- und Ausschlussgründe vorliegt.

 

Gemäß § 12 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Bescheid wurde in der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 8.5.2008 verkündet.

Schlagworte
Demonstration, exilpolitische Aktivität, Folter, gesamte Staatsgebiet, Misshandlung, politische Aktivität, politische Gesinnung, strafrechtliche Verfolgung, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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