TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/02 226827/0-XIV/39/02

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Veröffentlicht am 02.09.2008
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Spruch

226.827/0/XIV/39/02/16E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Fischer-Szilagyi als Einzelrichterin über die Beschwerde des G.A., geb. 00.00.1984 StA. Afghanistan, vom 05.03.2002 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.02.2002, FZ. 01 04.757-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.03.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde gegen Spruchteil I. des Bescheides des Bundesasylamtes wird stattgegeben und G.A. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG wird festgestellt, dass G.A. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

Mit angefochtenem Bescheid wurde der Asylantrag des nunmehrigen Beschwerdeführers vom 6.3.2001 gemäß § 7 Asylgesetz abgewiesen; die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan wurde gemäß § 8 Asylgesetz für nicht zulässig erklärt.

 

In der Begründung des erstinstanzlichen Bescheides wurde zur persönlichen Bedrohungssituation des Asylwerbers Folgendes ausgeführt:

 

"Sie haben Afghanistan wegen der Verfolgung durch die Taliban, bzw. wegen des Bürgerkrieges verlassen. Andere Gründe vermochten Sie nicht glaubhaft zu machen bzw. machten Sie solche überhaupt nicht geltend. Es kann nicht festgestellt werden, dass Sie sich weiterhin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb Ihres Heimatlandes befinden. Ihr Fluchtgrund ist nunmehr gegenstandslos, da die Herrschaft der Taliban beendet worden ist."

 

In dem dagegen eingebrachten Rechtsmittel wurde Spruchteil I. des Bescheides angefochten.

 

In der mündlichen Berufungsverhandlung am 21.10.2004, zu welcher die Erstbehörde keinen Vertreter entsandte, wurde der Beschwerdeführer zu den Fluchtgründen einvernommen und die Länderberichte verlesen und erörtert.

 

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 15.12.2004, Zahl: 226.827/0-XIV/39/02, wurde die Berufung gemäß § 7 AsylG abgewiesen. In Erledigung der hiegegen erhobenen Beschwerde wurde der Bescheid vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 24.8.2007, Zahl: 2006/19/0112-7, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

 

Im Rahmen einer weiteren mündlichen Berufungsverhandlung am 18.3.2008, zu welcher die Erstbehörde keinen Vertreter entsandte, wurde der Beschwerdeführer erneut einvernommen und Länderberichte verlesen und erörtert.

 

Im Verfahren wurde eine Bestätigung der Botschaft des Islamischen Staates Afghanistan in Wien vom 3.9.2001 vorgelegt, wonach G.A., geb. am 00.00.1984 in Kabul, Afghanistan, Staatsbürger von Afghanistan ist.

 

Folgender Sachverhalt wird festgestellt:

 

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, war in Kabul aufhältig. Er hat Afghanistan wegen der Taliban verlassen, ist illegal in Österreich eingereist und hat am 6.3.2001 gegenständlichen Asylantrag gestellt.

 

Die Familie des Beschwerdeführers unterhielt freundschaftliche Beziehungen zur Familie eines Führers der Partei Hezb-e Wahdat, K.K., für welchen der Beschwerdeführer Botengänge erledigt und Schriftstücke überbracht hat, da er aufgrund seines Alters als unverdächtig galt. Gemeinsam mit dem Beschwerdeführer wurden vier weitere Jungen als Kuriere tätig. Zwei dieser Jungen - darunter ein Paschtune - wurden bei einem Botengang von den Taliban bei der Übergabe eines Briefes erwischt, woraufhin die Familie des Beschwerdeführers gewarnt wurde und unverzüglich Afghanistan verließ. Der Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner Familie nach Pakistan und von dort alleine weiter nach Österreich. Nach seiner Ankunft in Österreich erfuhr der Beschwerdeführer bei einem Versuch, mit seiner Familie in Pakistan telefonisch Kontakt aufzunehmen, von einem Freund seines Vaters, dass die beiden Jungen von den Taliban getötet worden waren, und dass nach der Ausreise der Familie des Beschwerdeführers der Vater des paschtunischen Mitschülers des Beschwerdeführers gemeinsam mit einer anderen Person in das Haus der Familie gekommen sei und nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers gefragt hätte, wobei sie ihm vorgeworfen hätten, für den Tod des Sohnes verantwortlich zu sein. Der Vater des getöteten Jungen ist nunmehr für den Militärchef H.A. in J. tätig.

 

Diese Feststellungen gründen sich auf den Angaben des Beschwerdeführers sowie den Akteninhalt. Der Beschwerdeführer hat im Wesentlichen im Rahmen der Einvernahme im erstinstanzlichen Verfahren sowie im Berufungsverfahren gleichlautende Angaben gemacht und seine Flucht mit seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und seiner Bekanntschaft und Tätigkeit als Kurier für einen Führer der Hezb-e Wahdat, K.K., begründet. Dieses Vorbringen stimmt auch mit seinen Angaben bei der im Zuge der Antragstellung von der BH Graz-Umgebung aufgenommenen Niederschrift überein.

 

Anzumerken ist weiters, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 5.4.2001 sowie am 18.9.2001 lediglich kurz zu seinen Fluchtgründen befragt wurde, wobei sich seine Ausführungen im Wesentlichen darauf stützten, dass seine Kuriertätigkeit für die Hezb-e Wahdat bekannt geworden sei und ihm Verfolgung durch die Taliban drohe. Zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen im April und September 2001 waren die Taliban in Afghanistan noch an der Macht. Zu diesem Zeitpunkt bestand für den Beschwerdeführer daher noch keine Veranlassung, nähere Ausführungen zur Tätigkeit seiner Freunde bzw. Mitschüler als Kuriere für die Hezb-e Wahdat zu machen, zumal er auch erst nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens erfahren hat, dass er von dem Vater seines paschtunischen Mitschülers für dessen Tod verantwortlich gemacht und deshalb von diesem gesucht wird.

 

Der Beschwerdeführer hat in der Berufungsverhandlung durch sein Auftreten, die bemühte Art seiner Schilderung und die Spontaneität seiner Angaben einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen, das Erzählte tatsächlich erlebt zu haben. Im Gesamtzusammenhang betrachtet ist sohin ein stimmiges und nachvollziehbares Bild seiner Bedrohung entstanden und kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von einer Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers ausgegangen werden.

 

Der Aufenthalt der Familie des Beschwerdeführers, die zuletzt in Pakistan gelebt hat, ist unbekannt.

 

Zur Situation in Afghanistan wird Folgendes ausgeführt:

 

Es handelt sich um eine notorische Tatsache, dass die Taliban zum Entscheidungszeitpunkt als politisches System nicht mehr existieren; sie sind seit Dezember 2001 vollständig abgezogen. In der Folge übernahm die am 19.06.2002 von der Loya Jirga vereidigte Interimsregierung unter Hamid Karzai die Macht. Am 26.01.2004 ist eine neue Verfassung in Kraft getreten. Am 09.10.2004 haben Präsidentschaftswahlen stattgefunden; am 03.11.2004 wurde der Sieg von Hamid Karzai bestätigt.

 

Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren (regierungsfeindliche und terroristische Gruppen, staatliche Sicherheitskräfte und internationale Stabilisierungstruppe [ISAF], rivalisierende Milizen, bewaffnete Stammesgruppen sowie organisierte Drogenbanden) dauern in etlichen Provinzen regional oder lokal fort bzw. können jederzeit wiederaufleben. 2006 war insbesondere im Süden und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Anti-Terror-Koalition und den radikal-islamistischen Kräften im Osten, Südosten und Süden Afghanistans dauern an.

 

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaftslage ist weiterhin desolat, erste Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind allerdings eingeleitet. Die humanitäre Situation stellt das Land vor allem mit Blick auf die etwa 4,5 Millionen - meist aus Pakistan zurückgekehrten - Flüchtlinge vor große Herausforderungen.

 

Die Menschenrechtssituation verbessert sich nur langsam. Dies gilt auch für die Lage der Frauen in Afghanistan, selbst wenn die gegen sie gerichteten Verbote aus der Taliban-Zeit formal aufgehoben sind. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Die Zentralregierung kann diese Täter weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder sie vor Gericht bringen. Entscheidend ist daher die angestrebte Ausdehnung des Machtbereichs der Zentralregierung auf das gesamte Land. Noch verfügt die Zentralregierung nicht über das Machtmonopol, um die Bürger ausreichend zu schützen.

 

Rückkehrer können auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im (westlich geprägten) Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen.

 

Im Raum Kabul bleibt die Sicherheitslage weiter fragil, auch wenn sie aufgrund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufrieden stellend ist. Sie wurde vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) seit Mitte 2002 für freiwillige Rückkehrer als "ausreichend sicher" bezeichnet. Gelegentlich kommt es in Kabul zu Raketenbeschuss. Es gibt Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellen sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen oder Diebstählen heraus.

 

(Quelle: Bericht des auswärtigen Amtes Berlin über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand: Februar 2007).

 

Ebenso wie es an funktionierenden Verwaltungsstrukturen fehlt, kann bislang auch nicht von einem auch nur ansatzweise funktionierenden Justizwesen gesprochen werden. Es besteht keine Einigkeit über die Gültigkeit und damit Anwendbarkeit von Rechtssätzen. Zudem fehlt es an einer Ausstattung mit Sachmitteln und geeignetem und ausgebildetem Personal. Oft sind noch nicht einmal Texte der wichtigsten afghanischen Gesetze vorhanden. Tatsächlich wird in den Gerichten, soweit sie ihre Funktion ausüben, eher auf Gewohnheitsrecht und Vorschriften des islamischen Rechts als auf weiterhin gültige Gesetze Bezug genommen.

 

Der praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen ist trotz intensiver internationaler Bemühungen und institutioneller Fortschritte (wie z.B. der Einrichtung einer unabhängigen Menschenrechtskommission und deren verfassungs-rechtlicher Verankerung) noch nicht überwunden. Praktisch sichtbar wird er etwa an der Vielzahl meist unbekannt bleibender Menschenrechtsverletzungen oder landesweiten Streitigkeiten um willkürlich besetzte Privatgrundstücke und Wasserquellen (Opfer sind typischerweise Auslandsafghanen / Rückkehrer; es gibt häufig Vorfälle im Nordwesten und in Kabul). Nach dem Skandal über die Räumung wertvoller Grundstücke im Kabuler Stadtteil Sherpur Anfang September 2003, die sich Angehörige des Verteidigungsministeriums angeeignet haben, setzte Staatspräsident Karzai eine Kommission ein. Sie soll diesen Vorfall aufklären sowie generelle Lösungsmodelle entwickeln, wie die Fälle illegaler Landnahme zu handhaben sind. Ein Ergebnis liegt noch nicht vor. Eine Strafverfolgung lokaler Machthaber außerhalb Kabuls wegen Übergriffen ist praktisch nicht möglich. Auf dem Land wird die Richterfunktion in der Regel von lokalen Räten (Shuras) übernommen. Das Verfahren vor dem nationalen Sicherheitsgericht gegen den früheren Milizenführer AbdullahShah wegen mindestens zwanzigfacher Tötung (Oktober 2002; die Hinrichtung erfolgte am 20.04.2004) wurde von der VN-Sonderberichterstatterin zu extralegalen, willkürlichen und summarischen Tötungen, Asma Jahangier, als nicht fair bezeichnet. So habe der Angeklagte gegen seinen Willen über keinen Verteidiger verfügt, es habe keine sorgfältige Vorbereitung der Verhandlung gegeben, die Zeugenvernehmung habe Defizite in der Verfahrensweise aufgezeigt. Die Richter hätten einen juristisch nicht geschulten Eindruck gemacht.

 

Korruption wird allgemein als großes Problem im Justiz- und Verwaltungsbereich wahrgenommen. (Quelle: Bericht des auswärtigen Amtes Berlin über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im islamischen Übergangsstaat, Afghanistan, Stand: Mai 2005).

 

Der Sachverständige Dr. Mostafa Danesch hat in seinem Gutachten vom 24.07.2004 für das sächsische Oberverwaltungsgericht Folgendes ausgeführt:

 

"[...], dass man in Afghanistan in der Realität keineswegs von einem Gewaltmonopol der Übergangsregierung sprechen kann. Das Gutachten des Auswärtigen Amtes erklärt dazu, laut der am 26.01.2004 durch Präsident Karsai unterzeichneten Verfassung liege das Gewaltmonopol bei der Regierung und stellt fest, dass die Verfassung die klassische Gewaltenteilung beinhaltet. Diese in vielen Teilen tatsächlich fortschrittliche und moderne Verfassung spiegelt jedoch keinesfalls die afghanische Realität wieder. An dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass der westliche Beobachter einer Täuschung erliegt, wenn er seine eigenen politischen Erfahrungen und Erwartungen auf die afghanischen Verhältnisse überträgt. Jenseits des oberflächlichen Bildes, das durch Stichworte wie "Demokroatisierung", "Entwaffnung", "neue Verfassung" oder "Koalitionsregierung" suggeriert wird, sind in der afghanischen Gesellschaft aber nach wie vor die Kräfte am Werk, welche die Geschichte des Landes seit Jahrhunderten bestimmen.

 

In verschiedenen Landesteilen herrschen große wie kleine Kriegsfürsten und Kommandanten, die sich teilweise ihre eigenen staatsähnlichen Institutionen geschaffen haben. Der ausgeprägten Stammesmentalität entsprechend, wähnt sich jeder von ihnen als souveräner Herr über sein Territorium, gleich ob dies eine Stadt oder eine ganze Provinz umfasst. Traditionell bedeutet dies, dass ein solcher Herrscher sowohl eigene Krieger unterhält als auch für die praktische Umsetzung des Rechts und die Einhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich ist; mithin also eine eigene Armee unterhält und in seinem eigenen Gebiet auch Polizeiaufgaben wahrnimmt und Gefängnisse unterhält. Das "Gewaltmonopol" liegt also nach traditioneller Auffassung in den Händen des jeweiligen Lokalherrschers.

 

Jahrzehnte des Bürgerkrieges haben dazu geführt, dass alle diese "Stammesfürsten" sowie die afghanischen Parteien - die noch immer im Großen und Ganzen den ehemaligen Mujaheddin-Fraktionen entsprechen - heute über eine modern bewaffnete Privatarmee und zum Teil auch finanzkräftige ausländische Finanziers verfügen. In den von ihnen dominierten Gebieten übern sie de facto das Gewaltmonopol aus.

 

Die Machtbasis des Präsidenten liegt vor allem in Kabul, wo er von der etwa 6000 Mann starken ISAF-Truppe gestärkt wird, und in den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten des Landes, wo 11 000 US-Soldaten stehen. Die nicht-paschtunischen Fraktionen halten dagegen und versuchen in erster Linie, ihre politische und militärische Macht vor allem in den Nordprovinzen auszuweiten. Auch für Kabul und Umgebung ist die Frage nach dem Gewaltmonopol der Karsai-Regierung nicht ganz eindeutig zu beantworten: Karsai kann sich auf die ISAF-Truppe stützen, die seine Weisungen unumstritten anerkennt. Damit sind seine Machtposition und seine Möglichkeit, die staatliche Gewalt auch tatsächlich auszuüben, hier ungleich stärker als in den Provinzen. Man kann also für Kabul und Umgebung im Prinzip von einem Gewaltmonopol von Präsident Karsai sprechen. Auf der anderen Seite muss man berücksichtigen, dass [...] sein Kabinet keineswegs homogen ist und seine Kontrahenten über Möglichkeiten verfügen, sehr stark in die Armee, die Polizei und die Justiz hineinzuwirken. Zudem existieren gerade in Kabul eine Anzahl "grauer Eminenzen", meist alte Größen aus der Mujaheddin-Zeit wie Ex-Präsident Rabbani oder der extreme Fundamentalistenführer Abdul Rasul Sayyaf. Sie haben ebenfalls die Möglichkeit, auf informellem Wege starken Einfluss auszuüben. Sollte beispielsweise ein Minister aus Karsais Kabinett oder jemand, der über Beziehungen zu einer der so genannten Koalitionsparteien verfügt, beispielsweise den Polizeiapparat oder die Justiz dazu einsetzen wollen, einen persönlichen oder politischen Gegner zu vernichten, so ist das durchaus möglich.

 

Auf Grund der geschilderten Verhältnisse kann man auch in Kabul und Umgebung nicht eigentlich ein Gewaltmonopol der "Regierung Karsai" konstatieren, da es sich dabei - wie ebenfalls ausführlich belegt - nicht um eine Regierung mit einem einheitlichen politischen Willen handelt. Eher kann man von einem durch die internationale Friedenstruppe gestützten Gewaltmonopol des Präsidenten sprechen, das stark beeinflusst und unterwandert ist durch die Einwirkung seiner politischen und militärischen Kontrahenten."

 

In Afghanischen hat es bis zum Regierungsantritt Dawuds 1973 nie eine unabhängige Justiz als dritte Gewalt im Staat gegeben. Die Grundlage der Justiz war seit jeder die Scharia. 1964 hatte König Zahir mit der Verkündigung einer neuen Verfassung erstmals versucht, eine unabhängige Justiz zu schaffen, doch auch deren Grundlage waren weiterhin die religiösen Gesetze der Scharia. Immerhin wurde unter Zahir eine juristische Fakultät gegründet, die Juristen in zweierlei Richtungen ausbildete: Im Strafrecht und für den diplomatischen Dienst. Präsident Dawud Khan versuchte nicht nur, die Unabhängigkeit der Justiz zu erreichen, sondern auch eine nicht religiös gebundene Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zu begründen. Eine moderne Justiz mit einer Staatsanwaltschaft und einem obersten Gerichtshof wurde geschaffen. Damit allerdings zog er bereits die Gegnerschaft der traditionellen Kräfte auf sich, die weiterhin die Scharia als einzige Rechtsquelle sehen wollten. Unter den "kommunistischen" Regimen wurde formell eine unabhängige Justiz als dritte Gewalt etabliert, wenngleich sich diese, wie unter dieser Konstellation nicht anders denkbar, am politischen Gängelband der Regierungen bewegte. Auch wurden Familiengerichte geschaffen, die vor allem die Rechte der Frauen bei Streitigkeiten und Scheidungen wahren sollten, sowie Arbeitsgerichte. Najibullah versuchte in der letzten Phase seiner Herrschaft, in der er eine Aussöhnungspolitik mit den Mujaheddin betrieb, zwar die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken, aber auch zunehmend wieder das islamische Gesetz zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen.

 

Alle Entwicklungen hin zu einem modernen Justizsystem wurden mit der Machtübernahme der Mujaheddin zerstört. Von einer unabhängigen Justiz konnte fortan keine Rede sein; vielmehr setzte eine islamische Justiz, die nach der Scharia richtete, die Ideologie der herrschenden Mujaheddin in der Rechtspraxis um. Für die Herrschaft der Taliban trifft das oben über die Polizeikräfte Gesagte zu: Alle Aufgaben, die mit Justiz und Gerichtsbarkeit zu tun hatten, wurden durch das "Amt für die Förderung der Tugend und die Bekämpfung des Lasters" übernommen. Italien hat den Aufbau einer modernen Justiz in Afghanistan übernommen. Ziel ist es, wie in der Verfassung vorgesehen, ein Justizsystem mit einem Obersten Gerichtshof als höchster Instanz, mit zwei Instanzen, mit Zivil- und Strafrecht, Familien-, Handels- und Arbeitsgerichten usw. zu errichten. In der Realität erscheint dies aber sehr problematisch: Zum einen werden zukünftige Juristen nur in Schnellkursen ausgebildet und sind daher nicht sehr qualifiziert, zum anderen können sie sich gegenüber den Fundamentalisten, die das Justizsystem dominieren, kaum durchsetzen.

 

Auf dem Papier existieren moderne Institutionen, werden Funktionen benannt, die uns aus westlichen Gemeinwesen bekannt sind. In der Realität allerdings sitzen überall die diversen, untereinander um Einfluss ringenden Mujaheddin-Fraktionen an den Schalthebeln der Macht. Auch auf Provinzebene gilt sinngemäß, was oben dargelegt wurde: In den Gebieten, in denen der Einfluss der Zentralregierung gering ist, haben die Lokalherrscher innerhalb der von ihnen geschaffenen staatsähnlichen Strukturen ihre eigenen Justizorgane begründet, die auf Grund des feudalistischen Charakters ihrer Herrschaft keine Möglichkeit haben, unabhängig zu agieren. Die Kabuler Regierung hat nur geringe Möglichkeiten, dort ihr eigenes Personal durchzusetzen. Zum anderen ist gerade in den Provinzen der absolute Vorrang der Scharia vor den Vorschriften der Verfassung festzustellen.

 

Neben der Frage nach der Existenz staatlicher bzw. quasistaatlicher Strukturen spielt in Asylverfahren auch stets die Frage nach der Existenz eines funktionierenden und auf einheitlichen Grundsätzen beruhenden Justizwesens eine Rolle. Ebenso wie in der ersteren Frage ist für das Justizwesen eine Art Doppelung festzustellen: Das moderne Justizwesen, wie es in der Verfassung beschrieben wird und wie es sich die Übergangsregierung und die ausländischen Experten wünschen, existiert tatsächlich nicht.

 

Auf der anderen Seite aber gibt es sehr wohl ein in der Realität funktionierendes Justizwesen, und zwar sowohl in Kabul als auch auf der Provinzebene, wo lokale Herrscher quasi-staatliche Strukturen geschaffen haben und in deren Rahmen die Macht ausüben. In allen diesen Strukturen besteht Einigkeit sowohl über die Gültigkeit als auch die Anwendung von Rechtssätzen. Diese beruhen allerdings nicht auf geschriebenen Gesetzen oder der neuen afghanischen Verfassung, sondern auf den Vorschriften der Scharia und auf althergebrachtem Gewohnheitsrecht.

 

(Gutachten Dr. Mostafa Danesch vom 24.07.2004 für das sächsische Oberverwaltungs-gericht)

 

Rechtlich ist auszuführen:

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und sich nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG unterliegenden, in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 06.12.1999, Zl. 99/01/0279).

 

Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. So ist dem Herkunftsstaat eine Verfolgung sowohl dann zuzurechnen, wenn sie von dessen Organen direkt gesetzt wird, als auch, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt ist, die von anderen Stellen ausgehende Verfolgungshandlung hintanzuhalten (vgl. VwGH vom 06.10.1998, Zl. 96/20/0287; VwGH vom 23.07.1999, Zl. 99/20/0208).

 

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit Verfolgung von Seiten der Familie eines von den Taliban getöteten paschtunischen Mitschülers des Beschwerdeführers zu rechnen hat, dessen Vater im Militär in J. eine einflussreiche Position innehat und den Beschwerdeführer für den Tod seines Sohnes verantwortlich macht. Auch wenn eine solche Verfolgung nicht von staatlichen Stellen ausgeht, sondern als persönlich motivierte Verfolgung einer Privatperson zu qualifizieren ist, ist darauf zu verweisen, dass das Asylrecht auch als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist, und es daher nicht darauf ankommt, ob die Verfolgungsgefahr vom Staat bzw. Trägern der Staatsgewalt oder von Privatpersonen ausgeht, sondern vielmehr darauf, ob im Hinblick auf eine bestehende Verfolgungsgefahr ausreichender Schutz besteht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zur Feststellung, ob ein solcher ausreichender Schutz vorliegt, ein "Wahrscheinlichkeitskalkül" heranzuziehen. Im vorliegenden Fall ist nicht hervorgekommen, dass es der afghanischen Zentralregierung oder auch den lokalen Machthabern möglich ist, Verfolgungshandlungen durch Privatpersonen zu unterbinden. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich vielmehr, dass kein funktionierender Polizei- und Justizapparat bestehen und daher ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan den Eintritt eines asylrelevante Intensität erreichenden Nachteils aus politisch motivierter Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. "Politisch motiviert" ist die Verfolgung durch die Privatpersonen, weil diese und der Beschwerdeführer unterschiedlichen Volksgruppen angehören.

 

Die asylrelevante Intensität ist nach Ansicht der erkennenden Behörde gegeben, da das Haus des Beschwerdeführers vom Vater des getöteten Mitschülers, der für das in J. stationierte afghanische Militär arbeitet, sowie einer weiteren Person aufgesucht wurde und nach dem Beschwerdeführer gefragt wurde.

 

Wenngleich der afghanische Staat Sippenhaftung nicht duldet, sind innerhalb der afghanischen Gesellschaft Racheakte aus entstandenen Feindschaften nicht ausgeschlossen, insbesondere wenn einflussreiche Familien involviert sind, da diese zumeist über ein Netzwerk von Gleichgesinnten verfügen. Vor dem Hintergrund der weiterhin bestehenden angespannten Sicherheitslage, die - wie auch die Informationsunterlagen und Berichte anerkannter Medien, Institutionen und Organisationen bestätigen - trotz der Präsenz afghanischer und insbesondere internationaler Sicherheitskräfte immer noch vereinzelt Morde und/oder Raubüberfälle aus Gründen der Vergeltung oder der Blutrache zulässt, ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen, dass der Beschwerdeführer wegen der instabilen Lage in Afghanistan Verfolgungshandlungen durch den Vater des getöteten paschtunischen Mitschülers des Beschwerdeführers, der überdies eine einflussreiche Position im afghanischen Militär innehat, wegen dessen Kuriertätigkeit für die Hazara-Partei Hezb-e Wahdat und der daraus resultierenden Ermordung des Mitschülers ausgesetzt sein kann.

 

Eine inländische Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer aus diesen Gründen sowie mangels Zumutbarkeit ebenfalls nicht zur Verfügung, zumal der Beschwerdeführer weder über eine Berufsausbildung noch über Familienangehörige in Afghanistan verfügt.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

 

Das Verfahren war gemäß der Bestimmung des § 75 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, des § 75 Abs. 7 Z 1 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 4/2008 und der Bestimmung des § 23 Asylgerichtshofgesetz, BGBl I Nr. 4/2008, zu führen.

Schlagworte
gesamte Staatsgebiet, private Verfolgung, Racheakt, Schutzunfähigkeit, Sicherheitslage, Sippenhaftung, Zurechenbarkeit
Zuletzt aktualisiert am
06.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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