S10 401.153-1/2008/2E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde des D.M., vertreten durch RA Dr. BINDER Lennart LL.M., geb. 00.00.1975, StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.06.2008, Zahl: 08 03.293-EAST Ost, zu Recht erkannt:
Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
BEGRÜNDUNG
1. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.1 Der Beschwerdeführer (in der Folge BF) ist nach seinen Angaben Staatsangehöriger der Türkei und gehört der kurdischen Volksgruppe an. Er brachte am 11.04.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Im Zuge der niederschriftlichen Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der PI EAST Ost am selben Tag gab er im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am 06.04.2008 von Istanbul aus per Autostopp mit einem LKW zur bulgarischen Grenze gefahren. Dort habe er seinen Herkunftsstaat verlassen und sei als Beifahrer mit einem Sattelschlepper durch Bulgarien, Serbien, Ungarn und die Slowakei gefahren. Von der Slowakei aus sei er per Autostopp nach Wien gereist. Die Grenze zu Österreich habe er bei Bratislava/Hainburg überquert. Er habe seinen Bruder angerufen, der habe ihn in Wien abgeholt und zum gemeinsamen Onkel (mütterlicherseits) gebracht, beide Verwandte leben in Österreich.
Er sei wegen der Lebensumstände im Heimatstaat geflüchtet, er bekomme dort keine Arbeit. Weiters habe er Schulden und einen Wechsel über 70.000.- EURO unterschrieben. Er könne die Schulden nicht zurückzahlen und befürchte, vom Gläubiger umgebracht zu werden. Belege für dieses Vorbringen hat der BF weder anlässlich der Erstbefragung noch später - im Laufe des Verfahrens oder in der Beschwerde - vorgelegt.
Ein AFIS-Abgleich ergab, dass der BF am 07.11.2005 in Frankreich sowie am 19.10.2005 und am 15.02.2006 in Slowenien einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht hat.
Am 17.04.2008 wurde dem BF seitens der erstinstanzlichen Behörde mitgeteilt, dass seit 15.04.2008 Konsultationen mit Ungarn geführt würden. Mit Erklärung vom 05.06.2008 (eingelangt am 06.05.2008) erklärte sich Ungarn gemäß Art. 9 Abs. 3 lit. c der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO) für zuständig.
Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde dem Asylwerber am 17.04.2008 eine Aktenabschrift ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, in der die Rechtsberatung erfolgte. Überdies wurden dem Rechtsberater die relevanten Aktenbestandteile zugänglich gemacht.
Zur Wahrung des Parteiengehörs gemäß § 29 Abs. 5 AsylG erfolgte am 02.06.2008 im Beisein des Rechtsberaters eine niederschriftliche Einvernahme, in der BF im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:
Er lebe in Wien bei seinem Onkel, die Wochenenden verbringe er bei seinem Bruder, von dem er auch finanziell abhängig sei. Der Bruder sei Taxifahrer und komme für seinen Lebensunterhalt auf, indem er ihm 150.- bis 200.- EURO wöchentlich gebe. Er nehme aus diesem Grund auch nicht die Grundversorgung in Anspruch, er möchte bei seiner Familie leben. Er suche Schutz wegen Lebensgefahr, in Ungarn kenne er niemanden, hier habe er seinen Bruder und er denke, Österreich sei ein sichereres Land als Ungarn. Er sei von seinem Bruder abhängig, er unterstütze ihn finanziell und auch moralisch.
Vor seiner Einreise nach Österreich hätte er im Sommer 2007 den letzten Kontakt zu seinem Bruder gehabt, als dieser in der Türkei seinen Urlaub verbracht habe. Der Bruder habe seit ungefähr 25 Jahren einen Aufenthaltstitel für Österreich. Zur Frage, warum der BF beim Onkel und nicht beim Bruder wohne, gab er an, der Bruder hätte eine Frau und Kinder, da möchte er nicht stören.
Nach Krankheiten oder medizinischen Behandlungen befragt gab der BF an, es gehe ihm gut, er habe keine Beschwerden und leide an keinen Krankheiten, auch nehme er keine Medikamente.
Nach anderweitigen Integrationsverfestigungen und allfälligen Beeinträchtigungen seines Privat- und Familienlebens durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen befragt, sagte der BF, er werde in Ungarn sehr einsam sein, er habe dort niemanden. Sein Onkel unterstütze ihn auch finanziell.
1.2. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 17.06.2008, Zahl: 08 03.293-EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 9 Abs. 3 der Dublin II VO Ungarn zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.
Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Refoulementprüfung und Schubhaftpraxis, zum Zugang zum Asylverfahren nach einer Rücküberstellung, wie auch zur allgemeinen und medizinischen Versorgung in Ungarn und zur Anerkennungsquote.
Festgestellt wurde weiters, dass keine Umstände, die gegen eine Ausweisung des BFs sprechen, ermittelt werden konnten.
Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass die Identität des BF durch den vorgelegten türkischen Reisepass feststehe. Die ungarischen Behörden hätten mit Schreiben vom 06.05.2008 einer Übernahme des BF ausdrücklich zugestimmt. Die Angaben zum Reiseweg seien glaubwürdig, zumal der BF aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als LKW-Fernfahrer über polnische, tschechische, serbische und ungarische Sichtvermerke verfügte. Aus seinem Vorbringen ergäben sich keinerlei Anhaltspunkte für das Bestehen eines Bedrohungsszenarios in Ungarn, vielmehr sei ein reiner Migrationshintergrund anzunehmen.
Ein ungerechtfertigter bzw. unverhältnismäßiger Eingriff in die durch Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in der Folge EMRK) gewährleisteten Rechte durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme liege auch angesichts des Aufenthaltes von Bruder und Onkel des BF im Bundesgebiet und der vom BF behaupteten Abhängigkeit nicht vor.
Nach Ansicht der Erstbehörde war daher bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen in Hinblick auf Art. 3 und Art. 8 EMRK von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen.
1.3 Gegen diesen Bescheid hat der BF fristgerecht mit Schriftsatz ohne Datum, eingelangt mittels Telefax am 19.08.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde erhoben. Darin wurden unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht, sowie die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung und die Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung beantragt.
In der Begründung dazu wurde angegeben, dass die Erstbehörde unrichtig festgestellt hätte, dass der BF über Ungarn nach Österreich eingereist sei, tatsächlich wäre er aber von der Slowakei per Autostopp nach Wien gereist. Es wäre daher nicht einzusehen, weshalb der BF nach Ungarn abgeschoben werden sollte.
Der BF verfüge in Österreich über nahe Angehörige, während er in der Türkei keine mehr hätte. Weiters hätte bei grundrechtskonformer Auslegung der Dublin II VO die humanitäre Klausel zur Anwendung gelangen müssen.
1.4 Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 22.08.2008 beim Asylgerichtshof ein.
2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.
Rechtlich ergibt sich Folgendes:
2.1 Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.
Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.
2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.
2.1.1.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 9 Abs. 3 lit. c der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Ungarn erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den Beschwerdeführer (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).
Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 9 Abs. 3 lit. c der Dublin II VO besteht. Der BF verfügt neben einem Visum für Polen, gültig von 00.00.2007 bis 00.00.2008, und die Tschechische Republik, gültig von 00.00.2007 bis 00.00.2008, auch über ein Visum für Ungarn, gültig von 00.00.2007 bis 00.00.2008. Da letzteres die längste Gültigkeitsdauer der angeführten Visa aufweist, ergibt sich daraus die Zuständigkeit Ungarns für die Führung des materiellen Asylverfahrens.
Weiters liegt eine Zustimmung vom 05.05.2008, eingelangt am 06.05.2008, zur Aufnahme des BF durch die ungarischen Behörden vor. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.
2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.
Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.
Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).
Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).
Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:
Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.
Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.
Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).
Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).
Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.
2.1.2.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK
Ein Bruder, D.H., und ein Onkel des BF, T.S., sind in Österreich aufhältig. Wie aus den Aussagen des BF bei der niederschriftlichen Einvernahme am 02.06.2008 zu entnehmen war, befindet sich sein Bruder seit ungefähr 25 Jahren in Österreich und hat eine Familie mit Frau und Kindern.
Folglich hat der BF zu seinem Bruder seit 25 Jahren lediglich einen losen Kontakt (beispielsweise während eines - wie angegeben - Türkei-Urlaubes des Bruders). Auch der persönliche Kontakt seit der Einreise des BF ins Bundesgebiet beschränkt sich seinen Angaben zufolge auf die Wochenenden. Die angegebene Unterstützung des BF in der Höhe von wöchentlich 150 bis 200 Euro durch den Bruder rechtfertigt auch im Falle ihres Bestehens (neben der Erhaltung einer Familie) nicht die Annahme einer finanziellen Abhängigkeit, zumal der BF für die Dauer seines Verfahrens Anspruch auf Grundversorgung hätte.
Auch der Kontakt zum Onkel des BF, der bereits seit Juli 2002 in Österreich aufrecht gemeldet ist, ist somit aufgrund der anzunehmenden räumlichen Trennung für die zumindest letzten sechs Jahre nicht als eng anzusehen.
Die Erstbehörde hat Ansätze eines Familienverhältnisses bejaht und ein loses familiäres Anknüpfungsmoment nicht gänzlich ausgeschlossen. Ein darüber hinausgehendes familienähnliches Verhältnis des BF zu seinem Bruder, den er die letzten 25 Jahre nur selten und zuletzt nur während der Wochenenden persönlich gesehen hätte, vermag der Asylgerichtshof nicht zu erkennen. Dasselbe gilt für das Verhältnis des BF zu seinem - laut ZMR-Auszug - verheirateten Onkel, bei dem es sich offenbar mehr um eine vorübergehende Hilfestellung unter Verwandten handelt als um ein langfristiges familienähnliches Zusammenleben.
Beim BF handelt es sich offensichtlich um einen erwachsenen erwerbsfähigen Mann, der als Kraftfahrer Arbeit finden können sollte.
Da somit weder ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis noch eine besondere familienähnliche Nahebeziehung zu beiden Verwandten des BF vorliegt, würde der BF bei einer Überstellung nach Ungarn in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden.
Aber auch im Fall eines Eingriffs in das Grundrecht ergäbe eine Interessenabwägung nach den Gesichtspunkten des Art. 8 Abs. 2 EMRK, insbesondere der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens (vgl. VwGH 98.09.2000, 2000/19/0043), dass dieser im vorliegenden Fall verhältnismäßig wäre. Der BF reiste erst Mitte April 2008 in das Bundesgebiet ein und sein Aufenthalt in Österreich stützte sich von Anfang an nur auf den vorliegenden Asylantrag.
Zu einem möglichen Eingriff in das Recht auf Privatleben ist auf das Erkenntnis des VwGH vom 26.6.2007, Zahl 2007/01/0479-7 zu verweisen, wonach ein dreijähriger Aufenthalt während des laufenden Asylverfahrens jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte. Umstände, die auf eine besondere Integration in Österreich hinweisen würden, kamen im Verfahren nicht hervor.
Zu der in der Beschwerde monierten Anwendung der Humanitären Klausel wird festgehalten:
Art. 15 Abs. 1 der Dublin II VO ("Humanitäre Klausel") statuiert, dass jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen kann, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. In diesem Fall prüft jener Mitgliedstaat auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats den Asylantrag der betroffenen Person. Die Zustimmung der betroffenen Personen ist erforderlich.
Diese Norm ermöglicht es den Mitgliedstaaten, im Rahmen einer Ermessensentscheidung (arg. "kann") Familienmitglieder oder im Falle eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses auch entferntere Verwandte in einem an sich nicht zuständigen Mitgliedstaat zusammenzuführen, wenn dies im Lichte des Art. 8 EMRK geboten erscheint und von den Betroffenen auch gewünscht wird (vgl. hiezu ausführlich Filzwieser/Liebminger, Dublin II-VO, Art. 15 K1-K6). Auf die Anwendung der Humanitären Klausel besteht kein Rechtsanspruch.
Da im gegenständlichen Verfahren ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis verneint und ein Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte nicht festgestellt wurde, liegen im gegenständlichen Fall die Voraussetzungen für die Anwendung der in der Beschwerde monierten Humanitären Klausel gemäß Art. 15 Dublin II VO nicht vor.
2.1.2.2. Ungarisches Asylverfahren, mögliche Verletzung des Art. 3
EMRK
Im gegenständlichen Fall kann nicht gesagt werden, dass der BF ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm auf Grund der persönlichen Situation ausnahmsweise durch eine Rückverbringung nach Ungarn entgegen der Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde (sog. "real risk"). Der BF beschränkte sich im Wesentlichen darauf vorzubringen, dass zu seinem Bruder eine finanzielle und moralische Abhängigkeit bestehe. In Österreich fühle er sich sicherer und habe Angehörige, in Ungarn wäre er einsam, er habe dort niemanden.
Ein konkretes Vorbringen zu Gründen, die einer Überstellung nach Ungarn entgegenstünden, wurde weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in der Beschwerde vorgebracht.
Die Widerlegung der in § 5 Abs. 3 AsylG normierten Rechtsvermutung ist dem Beschwerdeführer damit nicht gelungen. Auch der Asylgerichthof verfügt darüber hinaus aktuell über kein Amtswissen hinsichtlich solch offenkundiger, besonderer Gründe, die die Annahme rechtfertigen, der Beschwerdeführer wäre in Ungarn einer realen Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung ausgesetzt.
Für das Vorbringen in der Beschwerde, die Solidarität innerhalb der Europäischen Union gebiete es, dass jenes Land mit dem geringsten Kostenaufwand primär das Asylverfahren durchführen solle, im gegenständlichen Fall Österreich, ist keine Rechtsgrundlage bekannt. Der in der Beschwerde vorgebrachten Argumentation bezüglich der Glaubwürdigkeit des BF hinsichtlich seiner Reiseroute kommt keine maßgebliche Bedeutung zu, da sich die Zuständigkeit Ungarns für die Führung des den BF betreffenden Asylverfahrens nicht auf die Reiseroute, sondern gemäß Art. 9 Abs. 3 lit. c der Dublin II VO auf die längste Dauer mehrerer nebeneinander bestehender gültiger Aufenthaltstitel oder Visa gründet.
Im Ergebnis stellt daher eine Überstellung des BFs nach Ungarn weder eine Verletzung des Art. 3 EMRK noch des Art. 8 EMRK dar und besteht somit auch kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO.
2.1.2.3. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art. 8 EMRK zu verpflichten.
2.1.3. Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.
2.2. Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren ebenfalls zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung nach Ungarn in Vollzug der Ausweisung aus Österreich erforderlich erschienen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.
2.3. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.