TE AsylGH Bescheid 2008/09/04 C6 259638-0/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.09.2008
beobachten
merken
Spruch

C6 259.638-0/2008/8E

 

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG

 

DES VOM UNABHÄNGIGEN BUNDESASYLSENAT IN DER MÜNDLICHEN VERHANDLUNG

AM 15.5.2008 VERKÜNDETEN BESCHEIDS

 

SPRUCH

 

Der unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Mag. Judith PUTZER gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 38 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG), entschieden.

 

Der Berufung von G. P. vom 14.4.2005 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.3.2005, Zahl 05 01.694-BAE, wird stattgegeben und G. P. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg cit wird festgestellt, dass G. P. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

BEGRÜNDUNG

 

I. Bisheriger Verfahrensgang:

 

Am 7.2.2005 stellte die Berufungswerberin, ihren Angaben zu Folge türkische Staatsbürgerin und Angehörige der kurdischen Volksgruppe, in Österreich einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.3.2005, Zahl: 05 01.694-BAE, gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen. Unter Spruchpunkt II dieses Bescheides wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Berufungswerberin in die Türkei zulässig ist. Unter Spruchpunkt III dieses Bescheides wurde die Berufungswerberin "aus dem österreichischen Bundesgebiet" ausgewiesen. Die Abweisung des Asylantrages wird vom Bundesasylamt im Wesentlichen damit begründet, dass nicht glaubhaft sei, dass der Berufungswerberin in ihrem Herkunftsstaat Verfolgung drohe. Die Behörde sei der Ansicht, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass die Berufungswerberin im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden.

 

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Berufung.

 

Der unabhängige Bundesasylsenat erhob Beweis durch Einsicht in die folgenden Dokumente:

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand September 2007);

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei. Zur aktuellen Situation - Oktober 2007;

 

Home Office, Operational Guidance Note Turkey, 11 July 2006;

 

Schweizerisches Bundesamt für Migration, Focus Türkei - Folter und Misshandlung, 8. März 2007;

 

Helmut Oberdiek, Türkei Zur aktuellen Situation - Oktober 2007;

 

und führte am 15.5.2008 eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung gemäß § 67d AVG unter Beiziehung eines Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in der Türkei durch, an der das Bundesasylamt nicht teilgenommen hat.

 

II. Der unabhängige Bundesasylsenat hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt steht fest:

 

1.1. Zur Person der Berufungswerberin:

 

1.1.1. Die Berufungswerberin ist türkische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe und stammt aus B.. Der Großteil ihrer Familie lebt in Österreich. 1997 heiratete sie Herrn S. G.. Der Ehe entstammt eine Tochter, K. G., geboren 1999. 1997 wurde gegen den Ehegatten der Berufungswerberin ein Haftbefehl - wegen des Vorwurfes der Unterstützung und Hilfeleistung einer illegalen terroristischen Organisation sowie wegen Logistik, Rückendeckung und Beschaffung von Material für eine terroristische Organisation - ausgestellt. In weiterer Folge führte der Haftbefehl zur Festnahme ihres Ehegatten und zur Durchführung eines Gerichtsverfahrens. Nach seiner Entlassung wurde der Ehegatten der Berufungswerberin von den Militärbehörden belästigt und unter Druck gesetzt. Der Ehegatte der Berufungswerber stellte am 13.6.2001 in Österreich einen Asylantrag. Nachdem ihr Ehegatte die Heimat verlassen hatte wurde die Berufungswerberin mehrmals von Sicherheitskräften aufgesucht; dabei wurde das gesamte Haus durchsucht und die Berufungswerberin bedroht Auch gab es zu körperlicher Übergriffen gegen die Berufungswerberin.

 

1.2. Zum Herkunftsstaat der Berufungswerberin:

 

1.2.1. Zur hier relevanten Minderheitensituation:

 

Die Türkei erkennt Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags von 1923 an, der "türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, (...) die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen" (Art. 39) garantiert. Weiterhin sichert er den nichtmuslimischen Minderheiten das Recht zur "Gründung, Verwaltung und Kontrolle (...) karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung" zu (Art. 40). Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der in Art. 37 bis 44 des Lausanner Vertrages niedergelegte, aber nicht auf bestimmte Gruppen festgeschriebene Schutz allerdings nur auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe und die armenisch-apostolische Kirche sowie die jüdische Gemeinschaft.

 

Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei (72 Millionen) - also ca. 14 Millionen Menschen - ist zumindest teilweise kurdischstämmig. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebt die Hälfte bis annähernd zwei Drittel dieser Kurden: ca. drei Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Rund sechs Millionen kurdischstämmige Türken leben in der Ost- und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig.

 

Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus (Deutsches Auswärtiges Amt, S 15).

 

1.2.2. Mit dem Wiedererstarken des PKK-Terrorismus wurde seit Mitte 2005 der Ruf nach einschneidenden Maßnahmen zur Terrorbekämpfung lauter. Am 29.06.2006 hat das Parlament zahlreiche Verschärfungen im Anti-Terror-Gesetz verabschiedet (das Gesetz ist am 18.7.2006 in Kraft getreten). Die von Menschenrechts-Organisationen und den Medien stark kritisierten Änderungen sehen ua eine Rückkehr des abgeschafften Art. 8 Anti-Terror-Gesetz ("separatistische

 

Propaganda"), eine sehr offen formulierte Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Das Anti-Terror-Gesetz in seiner veränderten Form droht die Meinungsfreiheit weiter zu beschneiden und ermöglicht für viele Handlungen, die nicht in Zusammenhang mit Gewaltakten stehen, die Verurteilung als Beteiligung an Terrordelikten. Das veränderte Anti-Terrorgesetz, wird allgemein als Konzession an die türkischen Sicherheitskräfte angesehen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, Stand Juni 2006, S. 14, 15).

 

Sippenhaft:

 

Auch in den letzten Monaten wurden Familienangehörige von staatskritischen AktivistInnen (Reflexverfolgung, Sippenhaft) bedroht. In einem Fall wurden Verwandte von Führungskräften eines kurdischen Vereins festgenommen, in einem anderen Fall wurden die Söhne eines Klägers im Semdinli-Fall festgenommen und gefoltert. Ebenso wurde der Vater eines führenden PKK-Mitglieds vermutlich Opfer einer extra-legalen Hinrichtung; in einem weiteren Fall wurden die Eltern eines in Belgien lebenden kurdischen Aktivisten nach monatelangen Drohungen durch türkische Behörden von Dorfschützern umgebracht. Auch die Angehörigen eines Militärdienstverweigerers wurden Opfer von Drohungen und Demütigungen durch die Gendarmerie (siehe hierzu ua Türkei Zur aktuellen Situation - Oktober 2007, 23).

 

1.2.4. Gutachten des Sachverständigen (= SV), Herrn M. Ö., im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung vom 8.5.2008, dessen Inhalt als Sachverhalt festgestellt wird:

 

"SV: Auch wenn die türkischen Behröden immer wieder behaupten, dass die Türkei ein Rechtsstaat ist und es keine Sippenhaft gibt, hat sich immer wieder bewiesen, dass es bei den Sicherheitskräften sehr wohl eine Sippenhaft besteht. Wegen eines politisch aktiven Familienmitgliedes wird die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen. Erfahrungsgemäß wird die BW3 [= Berufungswerber] bei ihrer Rückkehr in die Türkei einer Routinekontrolle unterzogen und dann werden die zuständigen Behörden oder Sicherheitskräfte in ihrer Heimat verständigt, dass sie bei der Grenzkontrolle festgehalten wird. Da die BW3 den dortigen Sicherheitskräften bekannt ist, wird sie nach ihrer Rückkehr den Sicherheitskräften überstellt und die Misshandlung oder versuchte Vergewaltigung würde ohne Scheu durchgeführt werden. Man wird ihr zu jeder Zeit das Gefühl geben, dass sie jederzeit vergewaltigt werden kann. Sobald die Sicherheitskräfte davon ausgehen, dass sie keine Informationen liefert, wird sie dann vergewaltigt. In der Vergangenheit haben Sicherheitskräfte viele kurdische Frauen und Mädchen vergewaltigt und viele unverheiratete Mädchen und Frauen wurden schwanger. Die, die mit dieser Schande nicht leben wollten, haben sich das Leben genommen. Darüber haben auch die kurdischen Medien berichtet, dass es jedes Jahr tausende solcher Fälle gegeben hat, weil tausende Mädchen sich auch das Leben genommen haben, es gab auch verheiratete Frauen. Verbrecher, die in türkischen Gefängnissen als Özel Tim rekrutiert wurden, um die Frauen zu vergewaltigen und Leute zu foltern oder umzubringen. Gegen diese "Leistung" wurde ihnen die Haft entlassen. Es gibt immer noch sehr viele kurdische verheiratete Frauen, die Kinder von diesen Leuten haben und sich nicht trauen diese Kinder preiszugeben, sich zu entehren. Diese Frauen leiden unter enormen psychischen Belastungen. Deshalb gibt es sehr viele verheiratet Frauen, die unter der Bevölkerung als verrückt dargestellt werden, wobei sie durch diese psychische Belastung in diese Situation geraten sind. Daher gehe ich davon aus, dass die BW3 keine Ausnahme darstellen wird und dass sie auch solchen unehrenhaften Vergewaltigungen ausgesetzt sein würde.

 

Die BW3 könnte sich dem auch nicht entziehen, etwa durch Übersiedelung nach Istanbul. Eine Frau, die weder lesen noch schreiben kann, ist naturgemäß sehr schüchtern und hat auch keine Zivilcourage. Deshalb können solche Frauen mit der Gesellschaft nicht umgehen, sie können sich nicht anpassen. Deshalb ist es faktisch unmöglich einen Arbeitsplatz zu finden, um den Lebensunterhalt zu fristen. Eine allein stehende Frau in einer männerdominierten Gesellschaft kann in der Türkei nicht unbehelligt leben."

 

1.2.3 Behandlung Abgeschobener nach ihrer Rückkehr in die Türkei:

 

Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat.

 

Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte (so die vom BT-Petitionsausschuss übermittelte Falldarstellung nach freiwilliger Ausreise einer kurdischstämmigen Familie, die kurz vor Abschiebung stand und wiederholt über mehrere Tage befragt wurde).

 

Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, Stand Juni 2006, S. 42, 43).

 

2.1. Die zur Person der Berufungswerberin getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Vorfälle in der Türkei basieren auf ihrem Vorbringen im Asylverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung. Es gab für die Berufungsbehörde keine Anhaltspunkte, an der Glaubhaftigkeit des Vorbringens zu zweifeln.

 

Die zum Herkunftsstaat der Berufungswerberin getroffenen Feststellungen basieren auf den unter 1.2. jeweils genannte Quellen. Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen der Berufungswerber nicht substantiiert entgegengetreten ist, besteht für die Berufungsbehörde kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

 

3. Rechtlich folgt:

 

3.1.1. Mit 1.7.2008 wurde der Asylgerichtshof als unabhängige Kontrollinstanz in Asylsachen eingerichtet. Die maßgeblichen verfassungsmäßigen Bestimmungen bezüglich der Einrichtung des Asylgerichtshofes befinden sich in den Art 129c ff B-VG.

 

Gemäß Art 151 Abs 39 Z 1 B-VG wird mit 1.7.2008 der bisherige unabhängige Bundesasylsenat zum Asylgerichtshof. Gemäß Z 4 leg cit sind am 1.7.2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen.

 

Bereits aufgrund der genannten Bestimmungen und der in ihnen erkennbar vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Kontinuität ergibt sich, dass der Asylgerichtshof auch für die schriftliche Ausfertigung von mündlich verkündeten Bescheiden des unabhängigen Bundesasylsenates zuständig ist. Da die ausfertigende Richterin des Asylgerichtshofes dieselbe Person wie das für das Berufungsverfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat zuständige Senatsmitglied ist, ergeben sich auch aus dem Grundsatz der richterlichen Unmittelbarkeit keine Bedenken. Im vorliegenden Fall wurde der Berufungsbescheid mit oa Spruch am 15.5.2008 und damit vor Einrichtung des Asylgerichtshofes beschlossen und öffentlich verkündet.

 

Gemäß § 75 Abs. 1 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden: AsylG 2005) sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG i.d.F. BGBl. I Nr. 129/2004 (im Folgenden: AsylG) gilt. Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG sind Asylanträge, die bis zum 30.04.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 16/2002 zu führen.

 

Gemäß § 38 Abs. 1 AsylG entscheidet der unabhängige Bundesasylsenat über Rechtsmittel gegen Bescheide des Bundesasylamtes.

 

3.1.2. Gem § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Der verwiesene Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention lautet: Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck "Flüchtling" auf jede Person Anwendung, die ... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Gesinnung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; ...

 

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH E vom 19.10.2000, Zl 98/20/0233).

 

Im gegenständlichen Fall ist bei der Beurteilung der Frage einer gegebenen begründeten Furcht vor Verfolgung darauf abzustellen, dass der Ehemann der Berufungswerberin wegen seiner politischen Gesinnung, insbesondere durch anhängige Gerichtsverfahren und eines aufrechten Haftbefehls aufgrund wegen des Vorwurfes der Unterstützung und Hilfeleistung einer illegalen terroristischen Organisation sowie wegen Logistik, Rückendeckung und Beschaffung von Material für eine terroristische Organisation in das Blickfeld der türkischen Behörden geraten ist.

 

Dem Ehegatten der Berufungswerberin wird - wie ausgeführt - vorgeworfen illegale terroristische Organisation zu unterstützen (siehe hierzu auch den Bescheid des erkennenden Gerichts vom heutigen Tag zu Zahl C6 224.485-0/2008/15E); weswegen ihn deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei eine Anklage nach dem Anti-Terror-Gesetz zu erwarten hätte.

 

Aus den oben getroffenen Sachverhaltsfeststellungen sind auch Familienangehörige von politischen Aktivisten gefährdet, Repressalien erleiden zu müssen.

 

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312, zur Gefahr einer "Sippenhaftung" ausführte, entspräche diese Form der "stellvertretenden" (oder - in anderen Fällen - zusätzlichen) Inanspruchnahme eines Familienmitgliedes dem Modell des - oft als "Sippenhaftung" bezeichneten - "Durchschlagens" der Verfolgung eines Angehörigen auf den Asylwerber, wobei in den hier in der Praxis im Vordergrund stehenden Fällen eine Verfolgung des Angehörigen wegen politische Aktivitäten für die Asylrelevanz dieses "Durchschlagens" nicht gefordert wird, dass der potentielle Verfolger auch dem Asylwerber eine entsprechende politische Gesinnung unterstellt. Die Rechtsgrundlage für das Absehen vom Erfordernis einer dem Asylwerber selbst zumindest unterstellten politischen Gesinnung in den Fällen der "Sippenhaftung" ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in der Anerkennung des Familienverbandes als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK in Verbindung mit § 7 AsylG zu sehen.

 

Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen ist festzuhalten, dass die Berufungswerberin wegen den dem Ehegatten unterstellten Aktivitäten ebenso in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten wird, sodass bei der Berufungswerberin eine als asylrelevant zu qualifizierende Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Familienverband als soziale Gruppe) vorliegt.

 

Gemäß § 12 AsylG ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen, auf Grund eines Asylantrages oder auf Grund eines Asylerstreckungsantrages Asyl gewährt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass der Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Schlagworte
Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, politische Gesinnung, Verfolgungsgefahr, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten