TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/09 S10 400736-1/2008

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Veröffentlicht am 09.09.2008
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Spruch

S10 400.736-1/2008/7E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde des M. U. , vertreten durch RA Dr. Gerhard MORY, geb. 00.00.1967, StA. Russland, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.07.2008, Zahl: 08 04.205-EAST West, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

BEGRÜNDUNG

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

 

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Er hat am 13.05.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Im Zuge der niederschriftlichen Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der PI St. Georgen/Attergau am 14.05.2008 gab er im Wesentlichen Folgendes an:

 

Er sei am 07.02.2008 von Grozny aus per Bahn nach Moskau gefahren. Per Bahn sei er von dort nach Weißrussland und dann nach Polen gereist. In Polen hätte er sich ein Jahr und ein Monat aufgehalten. Die meiste Zeit sei er im Krankenhaus in B. gewesen. Per Bahn sei er nun nach Österreich gekommen.

 

Als Fluchtgrund gab er an, dass er im Jahr 1999 vom russischen Militär festgenommen und geschlagen worden wäre und dass er Schwierigkeiten mit den russischen Behörden gehabt habe. Er dürfe nicht zurück nach Polen, weil er in Polen einem Mann sehr viel Geld schulde, deshalb würde er mit dem Umbringen bedroht. Er hätte in Polen nicht um Asyl angesucht. Auf Grund einer Verurteilung würde er kein normales Leben mehr führen können.

 

1.2. Ein AFIS-Abgleich ergab, dass der BF bereits in Polen erkennungsdienstlich behandelt worden war und am 10.02.2007 einen Asylantrag gestellt hatte. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde dem BF mit Schriftstück vom 16.05.2008, vom BF übernommen am selben Tag, mitgeteilt, dass Konsultationen mit Polen gemäß Dublin II VO geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Es wurde ihm eine Aktenabschrift ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, in der die Rechtsberatung erfolgte. Überdies wurden dem Rechtsberater die relevanten Aktenbestandteile zugänglich gemacht.

 

1.3. Am 16.05.2008 leitete die Erstbehörde ein Konsultationsverfahren mit Polen gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO) ein und ersuchte um Wiederaufnahme. Mit Erklärung vom 16.05.2008 (bei der Erstbehörde eingelangt am 19.05.2008) erklärte sich Polen ausdrücklich gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e der Dublin II VO für zuständig.

 

1.4. Am 16.5.2008 wurde der BF zur TBC-Abklärung ins Krankenhaus gebracht, dort stationär aufgenommen und am 19.06.2008 wieder entlassen. Einem "vorläufigen Arztbrief" vom 19.06.2008 zufolge litt der BF an "Pulmonaler Tuberkulose-fragliche Reaktivierung" und "Sinusitis max. dext. + ethmoidal". Er wurde medikamentös behandelt, die Medikation sei gut verträglich, es sei bereits während des stationären Aufenthaltes eine Gewichtszunahme um 2 kg dokumentiert worden. Eine neunmonatige Weiterbehandlung sei erforderlich.

 

1.5. Am 02.07.2008 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme, in der der BF im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:

 

Er leide an Tuberkulose und an starken Kopfschmerzen im Hinterkopf. Im Krankenhaus hätte auch nicht festgestellt werden können, worum es sich dabei handle. Er fühle sich jetzt besser, er sei in Österreich besser behandelt worden als in Polen. Seine Krankheit sei noch nicht ausgeheilt, er müsse noch Medikamente nehmen, nach einem Jahr sei er dann gesund.

 

Er korrigierte nun seine Aussage bei der Erstbefragung und gab an, schon in Polen um Asyl angesucht zu haben, ebenso wie auch seine Ehefrau und seine Kinder. In Österreich lebten noch eine Schwester in Innsbruck seit 2002 und ein Bruder (ohne Ortsangabe) seit ca. 7 Jahren.

 

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF nun an, dass 1998 sein Bruder in Tschetschenien erschossen worden wäre. Auf dringendes Anraten seines Vaters im Jahr 2006 sei er dann nach Polen gekommen.

 

Zu seinen Gründen für die Ausreise aus Polen gab er unter anderem an, er wäre dort von Personen bedroht worden, die gesagt hätten, dass sie seinen Bruder umgebracht hätten. Darauf hätte er Angst bekommen und Polen verlassen.

 

In seinem Herkunftsstaat hätte ein Offizier vom FSB seinen Hund ermordet, deswegen habe er diesen Beamten mit der Hand geschlagen. Bei der Rückkehr würde er deswegen wahrscheinlich verhaftet werden. Seine Mutter hätte ihm auch erzählt, dass die Russen öfters zu ihnen nach Hause kämen und nach ihm suchten.

 

Weiters gab der BF an, dass sein Bruder und seine Schwester ihm in Österreich helfen würden. Seine Schwester besuche seine Frau und seine Kinder und gebe ihnen Kleidung und Lebensmittel. Sein Bruder habe ihm ein Handy geschenkt und Lebensmittel gebracht. Seine Kinder wären krank und würden hier sehr gut behandelt.

 

1.6. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 14.07.2008, Zahl: 08 04.205-EAST West, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e der Dublin II VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Person des BF, zur Begründung des Dublin-Tatbestandes, zum Privat- und Familienleben des BF (Ehefrau und vier Kinder sowie Schwester und Halbbruder) und zur Lage im Mitgliedsstaat Polen, insbesondere zum Asylverfahren und zur allgemeinen und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Polen.

 

Festgestellt wurde weiters, dass keine Umstände, die gegen eine Ausweisung und Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen sprechen, ermittelt werden konnten.

 

Die Frau und die vier Kinder des BF, waren zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung ebenfalls bereits aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen worden. In der Zwischenzeit hat der VwGH die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerden abgelehnt.

 

Beweiswürdigend wurde im Bescheid dargelegt, dass sich die Feststellungen zur Person sowie zur Aufnahme im Krankenhaus und die dabei diagnostizierten Krankheiten auf unbedenkliche Urkunden stützten. Die angegebenen Unterstützungshandlungen der Schwester und des Halbbruders seien unter Geschwistern nicht unüblich und stellten kein intensives Familienleben dar. Überdies hätte die Schwester bereits 1988 den gemeinsamen Haushalt im Herkunftsstaat verlassen und sei - wie auch der Halbbruder - schon seit mehreren Jahren in Österreich aufhältig, sodass das Bestehen eines gemeinsamen Familienlebens schon aus diesem Grund ausgeschlossen werden könne.

 

Betreffend die vorgebrachten Krankheiten und die medizinische Versorgung in Polen wurde im Wesentlichen festgestellt, dass aufgrund der bescheidgegenständlichen unbedenklichen Länderfeststellungen zu Polen davon ausgegangen werden könne, dass in Polen grundsätzlich alle Krankheiten uneingeschränkt behandelbar seien und für Personen mit subsidiärem Schutz ein Zugang zu medizinischen und sozialen Basisversorgungen bestehe.

 

Nach Ansicht der Erstbehörde war unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK somit nicht festzustellen, sodass von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen wäre.

 

1.7. Gegen diesen Bescheid hat der BF durch seinen Rechtsvertreter fristgerecht mit Schriftsatz vom 23.07.2008, eingelangt am 25.07.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde erhoben und beantragt, den bekämpften Bescheid aufzuheben und den BF zum Asylverfahren zuzulassen sowie der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

 

In einer ausführlichen Begründung dazu wurden in elf Kapiteln Ausführungen zur persönlichen Vulnerabilität und Situation des BF, zur familiären Situation (in zwei Kapiteln), zum Stand des Asylverfahrens der Ehegattin und der Kinder des BF, zur speziellen Situation in Polen (in mehreren Kapiteln), zur Dublin II VO, zur Glaubwürdigkeit vorgebrachter Fluchtgründe sowie zur beantragten aufschiebenden Wirkung angeschlossen.

 

1.8. Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 29.07.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

1.9. Mit Bescheid des Asylgerichtshofes vom 01.08.2008, GZ: S10 400.736-1/2008-2Z, wurde der Beschwerde des BF aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.1.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 16 Abs. 1 lit. e der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Polen erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den BF (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e der Dublin II VO besteht. Polen hat mit Schreiben vom 16.05.2008, eingelangt am 19.05.2008, ausdrücklich der Wiederaufnahme des BF zugestimmt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.1.2.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Die Ausführungen der Erstbehörde betreffend die in Österreich lebenden Geschwister, die Schwester und den Halbbruder des BF, treffen zu. Aus den Ausführungen in der Beschwerde ergeben sich keine neuen Anhaltspunkte, die ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere familienähnliche Nahebeziehung zum BF belegen würden.

 

Der in der Beschwerde monierten Beachtung des Ergebnisses der Asylverfahren der Ehegattin und der Kinder des BF wurde entsprochen. Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens hatte der Asylgerichtshof daher auch mit Beschluss vom 01.08.2008 der Beschwerde antragsgemäß aufschiebende Wirkung zuerkannt. Da in der Zwischenzeit der VwGH die Behandlung ihrer Beschwerden abgelehnt hat und somit bei einer Überstellung des BF gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinen Kindern nach Polen ein Fortbestehen der Kernfamilie gewährleistet bliebe, wäre auch aus diesem Grund bei gemeinsamer Überstellung nunmehr keine Verletzung des durch Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienlebens gegeben.

 

Da auch sonst im Verfahren keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer, hervorgekommen sind (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl. 1802, 1803/06-11), ist daher im Ergebnis den Feststellungen der Erstbehörde zu folgen, wonach der BF bei einer Überstellung nach Polen in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt würde.

 

Aber auch im Fall eines Eingriffs in das Grundrecht ergäbe eine Interessenabwägung nach den Gesichtspunkten des Art. 8 Abs. 2 EMRK, insbesondere der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens (vgl. VwGH 98.09.2000, 2000/19/0043), dass dieser im vorliegenden Fall verhältnismäßig wäre. Der BF reiste erst im Mai 2008 in das Bundesgebiet ein und sein Aufenthalt in Österreich stützte sich von Anfang an nur auf den vorliegenden Asylantrag. Zu einem möglichen Eingriff in das Recht auf Privatleben ist auf das Erkenntnis des VwGH vom 26.6.2007, Zahl 2007/01/0479-7 zu verweisen, wonach ein dreijähriger Aufenthalt während des laufenden Asylverfahrens jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte.

 

2.1.2.2. Polnisches Asylverfahren, mögliche Verletzung des Art. 3

EMRK

 

Im gegenständlichen Fall kann nicht gesagt werden, dass der BF ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm auf Grund der persönlichen Situation ausnahmsweise durch eine Rückverbringung nach Polen entgegen der Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde (sog. "real risk"). Der BF hat ausführliche Berichte aus verschiedensten Quellen zusammengestellt um darzutun, dass im Falle einer Überstellung von tschetschenischen Asylwerbern nach Polen die Bestimmungen der maßgeblichen Vorschriften ( Dublin II VO, EMRK) verletzt würden.

 

Die Widerlegung der in § 5 Abs. 3 AsylG normierten Rechtsvermutung ist dem BF damit nicht gelungen.

 

Nicht nur, dass der BF mit seinem Vorbringen, wie bereits dargelegt, die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG nicht widerlegen konnte, verfügt der Asylgerichthof darüber hinaus aktuell über kein Amtswissen hinsichtlich solch offenkundiger, besonderer Gründe, die die Annahme rechtfertigen, der BF wäre in Polen einer realen Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung ausgesetzt. Im Gegenteil erfolgten die von der Erstbehörde getroffenen Feststellungen auf der Grundlage unbedenklicher und glaubwürdiger Quellen, sodass im Ergebnis eine Überstellung des BF nach Polen daher weder eine Verletzung des Art. 3 EMRK noch des Art. 8 EMRK darstellt und somit auch kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO besteht.

 

2.1.2.3. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art. 8 EMRK zu verpflichten.

 

2.1.3. Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

2.2. Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung nach Polen in Vollzug der Ausweisung aus Österreich erforderlich erschienen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

2.3. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, Ausweisung, familiäre Situation, gesundheitliche Beeinträchtigung, Intensität, medizinische Versorgung, real risk
Zuletzt aktualisiert am
24.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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