TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/10 S8 401306-1/2008

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Veröffentlicht am 10.09.2008
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Spruch

S8 401.306-1/2008/3E 10.09.2008

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. BÜCHELE als Einzelrichter über die Beschwerde des S.Z., geb. 00.00.1992, StA. Russland, vertreten durch die Rechtsberaterin Maga. Ölsböck, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.08.2008, FZ. 08 06.374 EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBL. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger und inguschetischer Volksgruppenzugehörigkeit, ist am 22.07.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (in der Folge: Asylantrag) gestellt.

 

2. Bei der Erstbefragung am Tag der Antragstellung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen in Anwesenheit eines Dolmetschers für Tschetschenisch gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei gemeinsam mit seiner Mutter, drei Brüdern und seiner Schwester mit der Bahn nach Moskau gefahren, wohin sie dann weitergefahren seien, wüsste er nicht. Er erinnere sich, dass ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden seien. Dann seien sie zu einem anderen Haus gefahren wo sie gewohnt hätten. Er sei auf der Straße gewesen; als er zurückkam, war seine Mutter nicht mehr hier. Als die die Mutter nach zwei bis drei Tagen nicht mehr in der Wohnung gekommen sei, habe er diese mit seinem älteren Bruder verlassen. Sie seien dann gemeinsam mit einem kleinen Bus bis nach Österreich gefahren. Seine Mutter und seine übrigen Geschwister seien noch in Polen. In Polen sei ihm auf den Kopf geschlagen worden.

 

3. Eine Eurodac-Abfrage vom 24.07.2008 ergab, dass der Beschwerdeführer bereits am 19.06.2008 in Polen einen Asylantrag gestellt hatte. Das Bundesasylamt stellte auf der Grundlage des Eurodac-Treffers ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) an die zuständige polnische Behörde. Am 28.07.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG 2005 mitgeteilt, dass mit Polen Konsultationen geführt werden und aus diesem Grund die im § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 normierte 20-Tages-Frist nicht gelte; es sei beabsichtigt, seinen Asylantrag wegen Unzuständigkeit Österreichs zurückzuweisen. Am 29.07.2008 langte ein Schreiben der polnischen Behörden vom Vortag beim Bundesasylamt ein, worin die Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung für die Wiederaufnahme des Beschwerdeführers bestätigt wurde.

 

4. Bei der am 11.08.2008 stattgefundenen ärztlichen Untersuchung durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, wurde keine krankheitswertige psychische Störung festgestellt. Einer Überstellung nach Polen sei aus medizinischer Sicht möglich.

 

5. Am 25.08.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für Tschetschenisch niederschriftlich einvernommen. Er gab dabei im Wesentlichen an, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Verwandtschaftliche Beziehung habe er - außer mit dem mit ihm reisenden Bruder - keine.

 

Zur geplanten Ausweisung nach Polen gab der Beschwerdeführer an, dass ihm dort auf den Kopf geschlagen worden sei; er wisse aber nicht mehr wer und wo das war. Seine Mutter und die übrigen Geschwister befänden sich noch in Polen. Er habe in Polen noch keine Einvernahme zu seinem Asylantrag gehabt; auch seine Mutter die noch in Polen sei, habe vermutlich noch keine solche gehabt.

 

6. Mit dem beim Asylgerichtshof angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Asylantrags gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführer zulässig sei (Spruchpunkt II.). Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu Polen, insbesondere zum polnischen Asylverfahren und zur Versorgung von Flüchtlingen. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass aus den Angaben des Asylwerbers keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden seien, dass dieser konkret Gefahr liefe, in Polen verfolgt zu werden. Es drohe ihm keine Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte; ein Selbsteintritt Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung sei daher nicht geboten.

 

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde beim Asylgerichtshof, da das Verfahrens mangelhaft und der Inhalt rechtswidrig sei. Das Bundesasylamt als belangte Behörde habe gegen die in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierte Offizialmaxime verstoßen; dies treffe hier auf die Situation minderjähriger Asylwerber in Polen zu. Wäre das Bundesasylamt seiner Ermittlungspflicht nachgekommen, hätte es nach der aktuellen Quelle von "European Council on Refugees and Exiles, April 2008" nach wie vor Verbesserungsbedarf bzgl. der Situation von AsylwerberInnen in polnischen Flüchtlingslagern besteht. Im Rahmen eines Besuchs einer Delegation des Europäischen Parlaments in polnischen Flüchtlingslagern stellte der Leiter der Delegation fest, dass der Zugang von AsylwerberInnen zu rechtlicher Beratung und Integrationsprogrammen in Polen nach wie vor kaum gegeben sei. Auch die Haftperiode von zwölf Monaten sei zu lang. Wörtlich wird aus dem erwähnten Bericht zitiert:

 

"However, he pointed to a number of shortcomings, such as the difficulty for asylum seekers to access legal aid and the fact that immigrants classified as being under a 'tolerated stay' regime receive no financial aid or access to integration programmes. Moreover, the detention period, which can be up to twelve months, is too long, ..."

 

Weiters habe sich die belangte Behörde zu wenig mit der Aussage des Beschwerdeführers, "[...] dass Polen wie Russland sei und man dort nicht in Ruhe leben könne" auseinandergesetzt und was der Minderjährige damit ausdrücken wolle bzw. was er tatsächlich in Polen erlebt habe. Der Beschwerdeführer sei minderjährig und könne nicht mit dem Maßstab eines Erwachsenen gemessen werden; daher hätten die Angaben genauer überprüft werden müssen. Dadurch wäre es zu einer anderen rechtlichen Beurteilung gekommen; von der Möglichkeit des Selbsteintritts Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung hätte daher zwingend Gebrauch gemacht werden müssen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein der inguschetischen Volksgruppe angehörender Staatsangehöriger der Russischen Föderation, hat sein Heimatland verlassen und ist am 22.07.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Asylantrag gestellt. Der Beschwerdeführer ist gemeinsam mit seinem älteren Bruder nach Österreich gereist. Weitere Familienangehörige oder Personen, mit denen er in einer familienähnlichen Gemeinschaft lebt, hat der Beschwerdeführer in Österreich, im Gebiet der EU, in Norwegen oder in Island nicht.

 

1.2. Polen hat sich mit Schreiben vom 28.07.2008 (beim Bundesasylamt eingetroffen am 29.07.2008) gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung ausdrücklich für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

Die in § 28 Abs. 2 AsylG 2005 festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG 2005 ist nicht anwendbar, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß Dublin-Verordnung binnen Frist mitgeteilt wurde; es ist somit zu keinem Zuständigkeitsübergang an Österreich wegen Fristüberschreitung gekommen.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 22.07.2008 (Aktenseiten 19 - 27), aus der ärztlichen Untersuchung durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin (Aktenseiten 57 - 63), aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 25.08.2008 (Aktenseiten 67 - 71), sowie aus der Zuständigkeitserklärung Polens vom 28.07.2008 (Aktenseite 55) sowie aus dem Bericht des European Council on Refugees and Exiles vom 11. April 2008 (abrufbar unter: http://www.ecre.org/files/ECRAN%20Weekly%20Update%2011%20April%202008.pdf).

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß § 5 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008, (in der Folge: AsylG 2005) ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

 

Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach § 5 Abs. 1 AsylG 2005 Schutz vor Verfolgung findet (§ 5 Abs. 3 AsylG 2005). Mit dieser Regelung wurde eine teilweise Beweislastumkehr geschaffen. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, ihr Beschwerdevorbringen zu untermauern (wobei dem auch durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949); dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung in dieser Bestimmung überhaupt für unbeachtlich zu erklären.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin-Verordnung ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger (eine Person, die nicht Bürgerin oder Bürger der Europäischen Union ist) an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.2. Gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach dem AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Asylantrag zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn dem Fremden entweder im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG 2005 ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin-Verordnung oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.3. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer bereits in Polen einen Asylantrag gestellt hat und, dass Polen einer Übernahme des Beschwerdeführers auf Grundlage des Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung am 02.04.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Polens zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG 2005 normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.4. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.

 

3.4.1. Zur möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK:

 

Der Verfassungsgerichtshof sprach - noch zur Vorläuferbestimmung im AsylG 1997 - in seinem Erkenntnis VfSlg 16.122/2001, aus, dass § 5 AsylG 1997 nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 leg.cit. vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG 1997 sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden (diese Ausführungen wurden mit VfSlg. 17.340/2004 auf das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung übertragen). Der Verwaltungsgerichtshof schloss sich mit Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes an.

 

Der Verfassungsgerichtshof ergänzte mit VfSlg. 17.586/2005 zur oben wiedergegebene Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die "entsprechende Vergewisserung" nicht durch die Mitgliedstaaten, sondern durch die Organe der Europäischen Union, im konkreten Fall durch den Rat bei der Erlassung der Dublin-Verordnung erfolgt sei. Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten daher nicht nachzuprüfen, ob ein anderer generell sicher ist. Insofern sei auch der Verfassungsgerichtshof an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden. Eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (das einen Bescheid zur Zuständigkeit Italiens auf der Grundlage des Dubliner Übereinkommen zum Gegenstand hatte) sowie in dem (bereits zur Dublin-Verordnung) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Zuständigkeitsverfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist. Dabei sei zu prüfen, ob eine - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiierte reale Gefahr ("real risk") besteht, dass ein aufgrund der Dublin-Verordnung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz berechtigtem Schutzbegehren, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist. Dabei sei insbesondere zu prüfen, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wurde ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (kurz: EGMR) muss der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EGMR, Entsch. vom 07.07.1987 Nr. 12877/87 [Kalema gegen Frankreich], DR 53, S. 254 [264]; zum Maßstab des "real risk" siehe auch die Nachweise in VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582).

 

Zur Kritik des Beschwerdeführers an Polen:

 

Der Asylgerichtshof verkennt nicht, dass insbesonders im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers durch die oben unter Punkt 3 wiedergegebene Beweislastverschiebung durch § 5 Abs. 1 AsylG 2005 der Offizialmaxime eine besondere Bedeutung zukommt. Die Kritik des Beschwerdeführers an Polen bezieht sich darauf, dass er dort auf den Kopf geschlagen worden sei. Durch genaueres Nachfragen hätten die belangte Behörde zum Ergebnis gelangen können, dass die Überstellung nach Polen mit dem Art. 3 EMRK nicht vereinbar sei.

 

Beim Asylgerichtshof bestehen jedoch keine Zweifel, dass die entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe zu Unterbringung von Asylwerbern umgesetzt wurden und gemeinschaftskonform vollzogen werden. Dies wird auch in dem vom Beschwerdeführer zitierten Bericht des European Council on Refugees and Exiles vom 11. April 2008 bestätigt. So ist dem in der Beschwerde zitierten Bericht noch folgende Textpassage vorangestellt:

 

"Meanwhile, MEPs reaffirmed their opinion about centres in Poland they visited last week. Polish centres rate comparatively well they say, whereas still, improvement is necessary. Patrick Gaubert (EPP-ED, FR), head of the delegation, said 'the authorities' willingness to cooperate and reply to all our questions reassured us'."

 

So ergibt auch aus dem zitierten Bericht zu einem Besuch einer Abgeordnetendelegation des Europäischen Parlaments in polnischen Flüchtlingslagern zwar Verbesserungsbedarf; dass aber gemeinschaftswidrige Umstände in polnischen Lagern bestünden, wird in diesem Bericht nicht belegt. Dass die Haftdauer für Asylwerber in Polen mit zwölf Monaten - wie im oben zitierten Bericht kritisiert - zu lange sei, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Der Beschwerdeführer war in Polen nicht in Haft war.

 

Dem Asylgerichtshof sind keine Umstände bekannt, dass die Umstände für minderjährige Flüchtlinge in Polen so schlecht wären, dass sie zu einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte führen würde; auch aus den in den im bekämpften Bescheid zitierten Länderberichten der belangten Behörde kommt solches nicht hervor. Auch durch das Beschwerdevorbringen wurden keine solchen Umstände aufgezeigt bzw. wurden Quellen angegeben, aus denen sich dies ableiten ließe.

 

Zusammengefasst stellt daher eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen keinesfalls eine Verletzung des Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung dar.

 

3.4.2. Zur möglichen Verletzung nach Art. 8 EMRK

 

Es leben keine Angehörigen der Kernfamilie des Beschwerdeführers in Österreich. Die diesbezüglichen Ausführungen der belangten Behörde treffen zu; diesen ist in der Beschwerde auch nicht entgegengetreten worden. Es liegen auch sonst keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer, vor (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl. B 1802, 1803/06).

 

Das Beschwerdeverfahren, welches den ebenfalls minderjährigen Bruder des Beschwerdeführers (vgl. dazu das Erkenntnis des Asylgerichtshof vom heutigen Tag zur Zahl: S8 401.307-1/2008/2E), hat nicht ergeben, dass sein Verfahren zuzulassen wären. Daher ergibt sich auch daraus nicht, dass das Verfahren des Beschwerdeführers gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 zuzulassen wäre.

 

3.4.3. Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, dass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin-Verordnung - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex 1/2007, 22 ff; vgl. auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313). Das Konsultationsverfahren erfolgte mängelfrei.

 

3.4.4. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof in Übereinstimmung mit der belangten Behörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art 8. EMRK zu verpflichten.

 

3.5. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG 2005 ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG 2005 gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ersichtlich.

 

Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes in dem Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG 2005 schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.6. Bei diesem Ergebnis konnte eine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entfallen.

 

3.7. Von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, Lagerbedingungen, real risk
Zuletzt aktualisiert am
20.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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