TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/11 D6 306187-1/2008

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Veröffentlicht am 11.09.2008
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Spruch

D6 306187-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Christine AMANN als Beisitzer über die Beschwerde der U.J., geb. 00.00.1980, StA. d. Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.9.2006, FZ. 05 10.213-BAT, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und U.J. gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76 idF BGBl. I Nr. 101/2003, Asyl gewährt. Gemäß § 12 Asylgesetz wird festgestellt, dass U.J. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste gemeinsam mit ihrem Sohn, dem Beschwerdeführer zu D6 306.188-1/2008, am 11.7.2005 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Die Beschwerdeführerin wurde am 15.7.2005 sowie am 22.2.2006 vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen.

 

1. Als Fluchtgründe gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass ihr Ehemann, den sie im Jahr 2000 standesamtlich geheiratet habe und der auch Vater ihres Sohnes sei, an beiden Tschetschenien-Kriegen teilgenommen habe und vom russischen Militär gesucht werde. Im fünften Monat ihrer Schwangerschaft sei ihr Ehemann mit dem Hinweis, zu Freunden in die Berge zu gehen, von zu Hause weggegangen. Seitdem habe die Beschwerdeführerin ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. Sein Schicksal sei ungewiss. Am 00.10.2003, als die Beschwerdeführerin im 7. Monat schwanger war, seien in der Früh maskierte Bundessoldaten in ihr Haus eingedrungen und hätten nach ihrem Ehemann gefragt. Im Zuge eines Wortgefechtes sei sie niedergeschlagen worden und in der Folge bewusstlos gewesen. Anschließend sei sie ins Krankenhaus nach H. sowie nach M. gebracht worden, wo sie am 00.00.2003 eine Frühgeburt erlitten habe. Ihr Sohn sei zwar gerettet worden, seither aber sehr schwach und in seiner Entwicklung stark zurückgeblieben. Die Beschwerdeführerin selbst sei nach der Geburt schwer krank geworden. Nach der Geburt ihres Kindes habe sie sich in A., einem Dorf in Dagestan an der tschetschenischen Grenze, bei ihren Eltern aufgehalten. Das Militär würde ihr vorwerfen, ihren Ehemann zu decken, und hätte auch bei ihren Eltern immer wieder nachgefragt. Bei sporadischen Besuchen ihres Hauses in Tschetschenien, etwa um Sachen zu holen, sei sie ausgefragt worden, ohne dass auf ihre Person Übergriffe stattgefunden hätten. Auch nach ihrer Flucht sei bei ihren Eltern nach ihr, ihrem Kind sowie ihrem Ehemann gefragt worden.

 

2. Mit Bescheid vom 26.9.2006 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76 idF BGBl. I Nr. 101/2003 (im Folgenden: AsylG 1997), ab (Spruchpunkt I.) und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.); ferner wurde gemäß § 8 Abs. 3. iVm § 15 Abs. 2 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 15.9.2007 erteilt (Spruchpunkt III.).

 

In seiner Begründung traf das Bundesasylamt Feststellungen zur Lage in Tschetschenien sowie zur Situation von Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und stellte fest, dass die Beschwerdeführerin russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe mit muslimischem Glauben sei. Ihre Identität stehe jedoch nicht verlässlich fest, da sie keinerlei Dokumente zum Nachweis der Identität vorgelegt habe. Ansonsten legte das Bundesasylamt den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Sachverhalt ihrer rechtlichen Prüfung zugrunde; sie habe ihr Heimatland aufgrund diverser Bedrohungen ihr gegenüber verlassen, wobei die Bedrohungen darauf abgezielt hätten, den Aufenthaltsort ihres Ehemannes zu erkunden. Im Hinblick auf den ersten Spruchpunkt folgerte das Bundesasylamt rechtlich daraus, dass die geltend gemachten Gründe nicht unter die taxativ aufgezählten Fluchtgründe der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zu subsumieren seien, da keine persönliche Verfolgung aus in der Person der Beschwerdeführerin liegenden Gründen vorliege. Sie habe vorgebracht, dass Soldaten wegen des Aufenthaltsortes ihres Ehemannes nachgefragt hatten. Dass im Zuge dieser Nachfragen die Beschwerdeführerin auch bedroht und sogar verletzt wurde, reiche für eine Asylgewährung insofern nicht aus, als diese Übergriffe nicht staatlichen Stellen zuzuordnen seien, sondern Übergriffe einzelner Beamten darstellten, "die sicher zu verurteilen sind", für sich allein betrachtet jedoch nicht als Verfolgung iSd GFK qualifiziert werden könnten. Weitere konkrete Verfolgungshandlungen, die eine solche Wertung zuließen, habe die belangte Behörde nicht feststellen können.

 

Hinsichtlich des zweiten Spruchpunktes stellte das Bundesasylamt fest, dass die Beschwerdeführerin in Begleitung ihres Sohnes nach Österreich gekommen und ihr Sohn "aufgrund diverser Vorfälle während der Schwangerschaft" in keinem altersgemäß entwickelten körperlichen und geistigen Zustand sei, sodass eine Abschiebung eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach sich ziehen würde. Sowohl die geltend gemachten Gründe der Beschwerdeführerin, wie auch die Berücksichtigung individueller Faktoren, wie die Gesundheit ihres Sohnes, die Familienverhältnisse und ihre Volksgruppenzugehörigkeit, sowie die derzeitige bürgerkriegsähnliche Situation würden die belangte Behörde zum Ergebnis führen, dass im vorliegenden Fall die Kriterien für eine ausweglose Lage für die Beschwerdeführerin vorliegen würden, ihr somit die Lebensgrundlage im Heimatstaat entzogen sei, weshalb die Beschwerdeführerin im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in der Russischen Föderation einer unmenschlichen Behandlung unterworfen zu werden. Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung sei daher nicht zulässig.

 

3. Gegen den ersten Spruchpunkt dieses Bescheides richtet sich die vorliegende, rechtzeitig eingebrachte und zulässige (als Berufung eingebrachte) Beschwerde. Darin wiederholt die Beschwerdeführerin ihre Behauptung, aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und wegen der Teilnahme ihres Ehemannes am 2. Tschetschenien-Krieg, somit aus ethnischen und politischen Gründen, verfolgt worden zu sein. Als Frau eines Widerstandskämpfers sei sie in einer besonders exponierten Situation und akut gefährdet gewesen, misshandelt oder getötet zu werden. Ihre begründete Furcht vor Verfolgung sei durch die Tatsache belegt, dass sie bereits einem massiven Übergriff ausgesetzt war. Ferner tritt die Beschwerdeführerin der Annahme der belangten Behörde entgegen, es habe sich bei ihrer Misshandlung um eine "private" Verfolgung gehandelt, da es sich ihrer Meinung nach um eine Aktion russischer Soldaten im Namen und nach Anweisung oder zumindest mit Billigung des russischen Staates gehandelt habe. Die zahlreichen Übergriffe russischer Soldaten auf tschetschenische Zivilisten seien auch der internationalen Berichterstattung zu entnehmen. Schließlich verweist die Beschwerdeführerin darauf, durch das Verschwinden ihres Ehemannes und den Übergriff durch die Soldaten unter großem psychischem Druck gestanden und an Panikattacken gelitten zu haben. Mittlerweile sei bei ihr eine progressive systemische Sklerodermie festgestellt worden. Zum Beleg ihrer Erkrankung sowie dem Gesundheitszustand ihres Sohnes legte die Beschwerdeführerin abschließend zwei Befundberichte vor.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Das Bundesasylamt hat ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst. Der Asylgerichtshof schließt sich den Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation an (vgl. VwGH 25.3.1999, 98/20/0559; 8.6.2000, 99/20/0366; 30.11.2000, 2000/20/0356; 22.2.2001, 2000/20/0557; 21.6.2001, 99/20/0460). Hinsichtlich der geltend gemachten Fluchtgründe wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin am 00.10.2003 von russischen Soldaten mit dem Ziel, den Aufenthaltsort ihres in den Tschetschenien-Kriegen auf der Seite der Rebellen aktiven Ehemannes zu erkunden, bedroht und misshandelt wurde. Als Folge dieser Misshandlung erlitt sie eine Frühgeburt. Der Sohn der Beschwerdeführerin befindet sich in keinem altersgemäß entwickelten körperlichen und geistigen Zustand. Aufgrund dem (mit der Beschwerde vorgelegten) Befundbericht der Klinischen Abteilung für Allgemeine Dermatologie des AKH vom 00.00.2006 wird ergänzend festgestellt, dass die Beschwerdeführerin selbst an progressiver systemischer Sklerodermie leidet.

 

2. Rechtlich folgt daraus:

 

1. Gemäß § 75 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (Art. 2 BG BGBl. I Nr. 100/2005; in der Folge AsylG 2005) sind "[a]lle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren [...] nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt." Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG 1997 idF der AsylG-Novelle 2003 werden Verfahren über Asylanträge, die ab dem 1.5.2004 gestellt werden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997 idgF geführt.

 

Da die Beschwerdeführerin den verfahrensgegenständlichen Asylantrag am 11.7.2005 gestellt hat, ist das Verfahren nach dem AsylG 1997 (idF der AsylG-Novelle 2003) fortzuführen.

 

2. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BG BGBl. I Nr. 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG 2005 und dem VwGG nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2.1 Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG 2005 sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom zuständigen Senat des Asylgerichtshofes weiterzuführen.

 

Das AsylG 1997 sieht in § 38 den unabhängigen Bundesasylsenat als Instanz für Rechtsmittel gegen Bescheide des Bundesasylamtes vor; weder das AsylG 2005 noch das AsylGHG begründen eine Zuständigkeit des Asylgerichtshofes auch für Verfahren, die nach dem AsylG 1997 zu Ende zu führen sind. Die mit der Einrichtung des Asylgerichtshofes verbundenen Änderungen der Bundesverfassung (sowie des AsylG 2005) knüpfen stets an den Asylgerichtshof als (neues) Entscheidungsorgan an, ohne auf den Geltungsbereich der verschiedenen asylrechtlichen Gesetzeslagen Bezug zu nehmen (vgl. Art. 129c, 129e, 132a sowie Art. 151 Abs. 39 Z 1 und Z 5 B-VG). Daher ist davon auszugehen, dass der Asylgerichtshof in s ä m t l i c h e n Verfahren, somit auch in jenen Verfahren, die nach dem AsylG 1997 weiterzuführen sind, an die Stelle des unabhängigen Bundesasylsenates tritt. Ebenso ist davon auszugehen, dass sich jene Bestimmungen des AsylG 1997, die von "Berufungen" sprechen, nunmehr auf Beschwerden beziehen (vgl. dazu AsylGH 12.8.2008, C5 251.212-0/2008/11E).

 

2.2 Gemäß § 7 AsylG 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

 

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

 

2.3 Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführerin gelungen, (drohende) Verfolgung glaubhaft zu machen: Die belangte Behöre stellte fest, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der Teilnahme ihres Ehemannes an den Tschetschenien-Kriegen von föderalen Sicherheitskräften mit dem Ziel, dessen Aufenthaltsort herauszufinden, bedroht und misshandelt wurde, ging aber in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass diese Übergriffe einzelner Beamter nicht staatlichen Stellen zurechenbar sei. Dieser Rechtsansicht vermag der erkennende Senat des Asylgerichtshofes jedoch nicht beizutreten: Der Umstand, dass die (als maßgeblicher Sachverhalt festgestellten) Misshandlungen der Beschwerdeführerin durch die Aktivitäten ihres Ehemannes ausgelöst wurden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die staatlichen Kräfte in Tschetschenien jene Gesinnung, die sie dem Ehemann der Beschwerdeführerin zuschreiben, offenbar auch ihr unterstellen. Es darf nicht übersehen werden, dass der Verdacht russischer Sicherheitskräfte, die Beschwerdeführerin würde über den Aufenthaltsort ihres Ehemannes Bescheid wissen, auch die Vermutung nahe legt, sie würde nicht nur über Kontakte zu ihrem Ehemann, sondern auch zu den Rebellen verfügen. Der von der Beschwerdeführerin geschilderte Vorfall am 00.10.2003 hat dabei Indizcharakter für die entscheidungserhebliche Beurteilung einer aktuellen Verfolgungsgefahr.

 

Da die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit bereits Misshandlungen ausgesetzt war, die durch ihre Ehe mit einem Widerstandskämpfer ausgelöst wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin zu jenem Personenkreis gehört, dem ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt wird und der deshalb von anti-separatistischen Aktionen besonders betroffen ist (vgl. zu einer ähnlichen Situation VwGH 24.3.1999, 98/01/0386; 16.6.1999, 98/01/0339; 6.7.1999, 99/01/0044; 8.9.1999, 98/01/0614; 16.2.2000, 98/01/0253). Deshalb ist auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die föderalen bzw. die tschetschenischen Behörden der Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr besondere Aufmerksamkeit widmen würden. Die (befürchtete) Verfolgung knüpft an die (unterstellte) politische Gesinnung der Verfolgten an. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass es der Beschwerdeführerin möglich wäre, sich anderwärts in der Russischen Föderation niederzulassen.

 

Im vorliegenden Fall ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes ihres Herkunftsstaates zu bedienen. Da im Verfahren überdies weder Ausschluss- noch Endigungsgründe iSd Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK hervorgekommen sind, war spruchgemäß zu entscheiden.

 

3. Gemäß § 41 Abs. 7 AsylG hat der Asylgerichtshof § 67d AVG mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur außer Kraft getretenen Regelung des Art. II Abs. 2 lit. D Z 43a EGVG war der Sachverhalt der Sachverhalt nicht als geklärt anzusehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (VwGH 2.3.2006, 2003/20/0317 mit Hinweisen auf VwGH 23.1.2003, 2002/20/0533; 12.6.2003, 2002/20/0336). Gemäß dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes konnte im vorliegenden Fall die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Asylgerichtshof unterbleiben, da der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen war.

Schlagworte
Familienverband, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, Misshandlung, politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit, Widerstandskämpfer
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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