S10 401.263-1/2008/4E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde des V. alias W.M., vertreten durch RA Mag. Wolfgang AUNER, geb. 00.00.1964, StA. Georgien, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.08.2008, Zahl: 08 03.601-EAST Ost, zu Recht erkannt:
Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.
BEGRÜNDUNG
1. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF) ist georgischer Staatsangehörigkeit und georgischer Volksgruppe und hat am 23.04.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Im Zuge der niederschriftlichen Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der PI EAST Ost Traiskirchen am selben Tag gab er im Wesentlichen Folgendes an:
Er habe am 00.00.2008 um 8 Uhr seinen Herkunftsstaat Georgien mit einem PKW verlassen und sei nach U. in der Ukraine gereist. Weiter sei er über ihm unbekannte Länder bis nach Österreich gereist. Mehr könne er über die Reiseroute nicht erzählen. Er hätte für die Reise USD 1.700 gezahlt. An Dokumenten legte er einen georgischen Führerschein auf seinen Namen vor.
Als Fluchtgrund gab er an, dass er die Heimat habe verlassen müssen, da er Mitglied der Partei "Merab Kostawa" sei, diese Zeit würde zurzeit in Georgien verfolgt.
1.2. Am 28.04.2008 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme, in der der BF im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:
Zunächst änderte er seine Erstaussage dahingehend, dass er von Jänner 2007 bis 00.00.2008 in K. (Russland) aufhältig gewesen wäre. Ansonsten wären seine Angaben bei der Erstbefragung richtig gewesen und er könne weiterhin nicht angeben, auf welcher Reiseroute er nach Österreich gekommen sei. Er hätte in keinem anderen Land um internationalen Schutz angesucht. Persönliche Papiere oder Reisedokumente hätte er keine bei sich. In Österreich würden seine Schwester, ein Neffe und eine Nichte leben. Im Jahr 2005 sei A.W. verhaftet worden. Im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat habe er Angst, dass man ihn in ein Gefängnis stecke. Das Problem bestehe seit 1991. Befragt, warum er dann erst 2007 Georgien verlassen habe, gab der BF an, er hätte schon 1994 Georgien verlassen und sich in K. versteckt. 2004 sei er wieder nach Hause gegangen und hätte dort auch geheiratet. Er hätte weder von Polen noch von der Slowakei ein Visum besessen.
Im Zuge dieser Einvernahme wurde dem BF mitgeteilt, dass für den Fall seiner Zustimmung eine Anfrage gemäß Art. 21 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO) an Polen und die Slowakei gerichtet werde. Der BF stimmte zu. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde dem Asylwerber mitgeteilt, dass Konsultationen mit Polen und der Slowakei gemäß Dublin II VO geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Diese Mitteilung wurde mit Datum 30.04.2008 neuerlich schriftlich ausgefertigt und am 02.05.2008 dem BF ausgefolgt. Die Einvernahme wurde unterbrochen.
1.3. Die Anfragebeantwortung Polens vom 07.05.2008 ergab, dass für den Zeitraum 06.04.2008 bis 17.04.2008 ein gültiges polnisches Visum in einem auf den Namen des BF lautenden georgischen Reisepass ausgestellt worden war.
1.4. Am 29.05.2008 wurde die Einvernahme im Beisein eines Rechtsberaters fortgesetzt. Darin brachte der BF vor, dass er nach einem Gespräch mit seiner Flüchtlingsberaterin bekannt geben möchte, dass er psychische Probleme habe. Er habe diese seit 1989, er habe tote Menschen gesehen und einen Giftgasanschlag mit- und überlebt. Er habe gesundheitliche Probleme, leide unter Schlaflosigkeit und schreie manchmal im Schlaf. Er stehe nicht offiziell in Behandlung, nehme jedoch Baldriantropfen.
Auf ausdrückliche Nachfrage hielt der BF alle von ihm getätigten Angaben aufrecht. Konfrontiert mit der Anfragebeantwortung Polens bezüglich eines auf ihn ausgestellten Visums bestritt er dies, es handle sich um eine Verwechslung.
1.5. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG beabsichtigte, wurde dem BF mit Schriftstück vom 02.06.2008, vom BF übernommen am 03.06.2008, mitgeteilt, dass seit 30.05.2008 Konsultationen mit Polen gemäß Dublin II VO geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Es wurde ihm eine Aktenabschrift ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, in der die Rechtsberatung erfolgte. Überdies wurden dem Rechtsberater die relevanten Aktenbestandteile zugänglich gemacht.
1.6. Mit Schreiben vom 03.06.2008, bei der Erstbehörde eingelangt am 04.06.2008, teilte der BF mit, dass er die Kanzlei Mag. Wolfgang AUNER Rechtsanwalts-Kommandit-Partnerschaft KG mit seiner Vertretung beauftragt hätte und ersuchte um Akteneinsicht. Bei deren Vornahme wurden Herrn RA Mag. Wolfgang AUNER am 13.06.2008 bei der EAST-Ost 18 Kopien ausgefolgt.
1.7. Mit Erklärung vom 13.06.2008 (eingelangt am 16.06.2008) erklärte sich Polen ausdrücklich gemäß Art. 9 Abs. 2 der Dublin II VO für zuständig.
1.8. Am 27.06.2008 wurde der BF einer Untersuchung gemäß § 10 AsylG durch Herrn Dr. D., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, unterzogen. Dessen "Gutachtlicher Stellungnahme" zufolge hat der BF laut eigenen Angaben Georgien im Jänner 2008 verlassen. Seine Verfolgungsangaben seien allgemein geblieben, ergänzt um die Angabe, im Jahr 1994 sei er im Rahmen einer Hausdurchsuchung "gefoltert" worden (Anführungszeichen laut Gutachtlicher Stellungnahme). Der BF hätte angegeben, er hätte wiederholt ein Stechen in der Herzgegend und sei "depressiv". Laut Kalkül des medizinischen Sachverständigen lag aktuell eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vor, die jedoch einer Überstellung nach Polen nicht entgegenstehe.
1.9. In einer weiteren Einvernahme am 03.07.2008 zur Wahrung des Parteiengehörs im Beisein eines Rechtsberaters wurde der BF über den weiteren Verfahrensablauf in der EAST informiert. Der rechtliche Vertreter ließ sich fernmündlich entschuldigen.
Der BF gab dabei an, er hätte keine weiteren Beweismittel oder identitätsbezeugende Dokumente, er habe bereits alles vorgelegt. Er werde nach wie vor von RA AUNER vertreten, sei aber mit einer Einvernahme ohne seinen Rechtsvertreter einverstanden.
Nach Integrationsverfestigungen und allfällige Beeinträchtigungen seines Privat- und Familienlebens durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen befragt sagte der BF, er lebe in Österreich mit seiner Schwester und deren Kinder am Wochenende zusammen, sonst im Lager. Er sei geistig und finanziell von seiner Schwester abhängig, seine Familie sei in Georgien. Er sei nach Österreich gekommen. Wenn er in Polen hätte bleiben wollen, wäre er dort geblieben. Damit gab er erstmals an, tatsächlich in Polen gewesen zu sein und gab dann auch an, ein Visum gehabt zu haben. Auf Vorhalt, warum er versucht hätte, die Behörde in die Irre zu führen gab er an, er hätte Angst, in Polen seien viele georgische Agenten, dort sei sein Leben in Gefahr. Er sei nach Österreich gekommen, weil Österreich ein demokratisches Land sei.
1.10. Mit Schreiben vom 04.07.2008, eingelangt bei der Erstbehörde am 04.07.2008, ersuchte der Rechtsvertreter des BF um "Zumittlung des Vernehmungsprotokolles vom 03.07.2008", dem die Erstbehörde per Telefax vom 07.07.2008 folgte, und um "Abstandnahme Einleitung der zwangsweisen Abschiebung".
1.11. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 08.08.2008, Zahl: 08 03.601-EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 9 Abs. 2 der Dublin II VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.
Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Refoulementprüfung und Schubhaftpraxis, zum Zugang zum Asylverfahren nach einer Rücküberstellung, wie auch zur allgemeinen und medizinischen Versorgung in Polen und zur Anerkennungsquote.
Festgestellt wurde weiters, dass keine Umstände, die gegen eine Ausweisung des Beschwerdeführers sprechen, ermittelt werden konnten.
Beweiswürdigend wurde hervorgehoben, dass im Verfahren deutlich hervorgekommen sei, dass der BF versucht hätte, vehement die Behörde über seine tatsächlich Reise bzw. die Reiseroute zu täuschen. Erst am Ende der letzten Einvernahme hätte er zugegeben, dass er über Polen mittels polnischen Visums in das EU-Gebiet eingereist sei. Sein Vorbringen bezüglich einer Bedrohungssituation im Falle einer Überstellung nach Polen sei substratlos und allgemein geblieben, ihm vorgehaltene Widersprüche (zum Beispiel, warum Georgien dem BF einen Reisepass ausstellt, obwohl er doch verfolgt würde) hätte er nicht aufklären können.
Entgegen dem Vorbringen des BF sei Polen ein Mitgliedstaat der EU mit einem anerkannt funktionierenden Rechtssystem und es stünde ihm bei Gefährdung oder Verfolgung offen, bei der Polizei Schutz zu suchen. Der Inhalt der Feststellungen zu Polen, die ihm zur Kenntnis gebracht worden seien, stammten aus einer Vielzahl von verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen, ihr Inhalt sei schlüssig und widerspruchsfrei. Die allgemein gehaltenen Darstellungen und Behauptungen des BF ohne Beweisanbot seien nicht geeignet, die Unrichtigkeit dieser Inhalte darzulegen.
Polen habe mit Schreiben vom 13.06.2008 einer Übernahme des BF ausdrücklich zugestimmt.
Es lägen weder medizinische Umstände, noch sonstige - einschließlich verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkte - Umstände vor, die einer Überstellung des BF nach Polen entgegenstünden. Festgehalten wurde, dass die vom Rechtsvertreter des BF erbetene Frist zur Einbringung einer Stellungnahme von diesem ungenützt verstrichen ist.
Nach Ansicht der Erstbehörde war unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK somit nicht festzustellen, wodurch von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen war.
1.12. Gegen diesen Bescheid hat der BF (RA?) fristgerecht mit Schriftsatz vom 19.08.2008, eingelangt am 25.08.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde erhoben. Darin wurden Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht, sowie die Zulassung des Asylverfahrens und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt.
In der Begründung dazu wurde ausgeführt, dass dem BF entgegen dem Ergebnis der Psy III Untersuchung bei der Einvernahme mitgeteilt worden sei, dass laut dem Untersuchungsergebnis keine belastungsabhängige krankheitswürdige psychische Störung vorliege und dem BF überdies die Akteneinsicht bezüglich der Psy III Begutachtung verweigert worden wäre, im Falle einer Ausweisung des BF angesichts seines Gesundheitszustandes und des besonderen Naheverhältnisses zu den in Österreich lebenden Schwester, Neffe und Nichte Art. 8 EMRK verletzt würde, und die medizinische Versorgung in Polen mangelhaft wäre.
1.13. Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 29.08.2008 beim Asylgerichtshof ein.
2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.
Rechtlich ergibt sich Folgendes:
2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.
Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.
2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.
2.1.1.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 9 Abs. 2 der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Polen erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den Beschwerdeführer (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).
Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Polens gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. c der Dublin II VO besteht, zumal die Anfragebeantwortung Polens vom 07.05.2008 ergab, dass für den Zeitraum 06.04.2008 bis 17.04.2008 ein gültiges polnisches Visum in einem auf den BF lautenden georgischen Reisepass ausgestellt worden war, wodurch sich nach vorgenannter Bestimmung die Zuständigkeit Polens ergibt. Weiters liegt eine ausdrückliche Zustimmung vom 13.06.2008, eingelangt am 16.06.2008, zur Aufnahme des BF durch die polnischen Behörden vor. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.
Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl. auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006,
Zl. 2005/20/0444).
2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.
Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.
Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).
Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).
Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:
Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.
Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.
Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).
Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).
Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.
Was die Frage der "Beweislast" anbelangt, so ist vorweg klarzustellen, dass bei Vorliegen "offenkundiger" Gründe (zum Begriff der "Offenkundigkeit" vgl. § 45 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) und die dazu ergangene Judikatur, beispielsweise zitiert in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), E 27 zu § 45 AVG) eine Mitwirkung des Asylwerbers zur Widerlegung der in § 5 Abs. 3 AsylG implizit aufgestellten Vermutung nicht erforderlich ist. Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist. Es versteht sich von selbst, dass bei der Beurteilung, ob die geforderte "Glaubhaftmachung" gelungen ist, der besonderen Situation von Asylwerbern, die häufig keine Möglichkeit der Beischaffung von entsprechenden Beweisen haben, Rechnung getragen werden muss (in diesem Sinne auch Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005, 226). Hat der Asylwerber die oben angesprochenen besonderen Gründe glaubhaft gemacht, ist die dem § 5 Abs. 3 AsylG immanente Vermutung der im zuständigen Mitgliedstaat gegebenen Sicherheit vor Verfolgung widerlegt. In diesem Fall sind die Asylbehörden gehalten, allenfalls erforderliche weitere Erhebungen (auch) von Amts wegen durchzuführen, um die (nach der Rechtsprechung des EGMR und der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes erforderliche) Prognose, der Asylwerber werde bei Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat der realen Gefahr ("real risk") einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein, erstellen zu können. Diese Ermittlungspflicht ergibt sich aus § 18 AsylG, die insoweit von § 5 Abs. 3 AsylG unberührt bleibt (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949; vgl. ähnlich auch VwGH 21.03.2007, Zl. 2006/19/0289).
2. Im konkreten Fall lautet ein Auszug aus der Niederschrift über die Einvernahme am 03.07.2008:
"...V: Laut PSY III- Untersuchung liegt aus aktueller Sicht keine belastungsabhängige krankheitswürdige (Anmerkung: gemeint wohl krankheitswertige) psychische Störung vor. Wollen Sie dazu Stellung nehmen?
A: Was soll ich dazu sagen. Vor meinen Augen wurden Menschen umgebracht.
V: Wenn Sie in Polen medizinischer Betreuung inkl. Psychologischer Betreuung bedürfen, steht Ihnen dies im selben Umfang wie einen polnischen StA zu! Wollen Sie sich dazu äußern?
A: Wieso spricht man ständig von einem polnischen Visum?..."
Daraus geht hervor, dass die erkennende Behörde dem BF ein anderes Untersuchungsergebnis vorgehalten hat, als die Untersuchung ergeben hat. Ein Schreibfehler (in concreto: "keine belastungsabhängige..." statt "eine ...") ist in diesem Zusammenhang nicht anzunehmen, da diesfalls eine andere Reaktion des BF zu erwarten gewesen wäre (beispielsweise: "ja, daher ist das Asylverfahren in Österreich zu führen" oder ähnliches).
3. Im fortgesetzten Verfahren wird die Erstbehörde (sofern eine neuerliche Erlassung einer Unzuständigkeitsentscheidung nach § 5 AsylG beabsichtigt ist) ein ergänztes Beweisverfahren durchzuführen haben. Auf die Notwendigkeit der Wahrung des persönlichen Parteiengehörs in einer Einvernahme ist zu verweisen. Dabei sind dem BF auch die von der Behörde verwendeten Beweisquellen zur Kenntnis zu bringen.
4. Als maßgebliche Determinante für die Anwendbarkeit des § 41 Abs. 3 AsylG in diesem Zusammenhang ist die Judikatur zum § 66 Abs. 2 AVG heranzuziehen, wobei allerdings kein Ermessen des Asylgerichtshofes besteht.
Auch der Asylgerichtshof ist - wenn auch gemäß § 41 Abs. 3 AsylG nicht bei Beschwerden gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung (in diesem Fall ist statt dessen die fast gleichlautende Bestimmung des § 41 Abs. 3 3. Satz AsylG anzuwenden) - zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (vgl. dazu VwGH 21.11.2002, 2002/20/0315 und 21.11.2002, 2000/20/0084; ferner VwGH 21.09.2004, Zl. 2001/01/0348). Eine kassatorische Entscheidung darf vom Asylgerichtshof nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.
Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt, wie dargestellt, keine ordnungsgemäß begründete Entscheidung (vgl. Art. 19 Abs. 2 1. Satz Dublin II VO und Art. 20 Abs. 1 lit. e 2. Satz Dublin II VO) erlassen. Der Asylgerichtshof war auf Basis der Ergebnisse des Verfahrens des Bundesasylamtes praktisch nicht mehr in der Lage, innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Entscheidungsfristen (§ 37 Abs. 3 AsylG) eine inhaltliche Entscheidung zu treffen. Der angefochtene Bescheid konnte daher unter dem Gesichtspunkt des § 41 Abs. 3 AsylG keinen Bestand mehr haben.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden. Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG entfallen.