TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/15 D6 310014-1/2008

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Veröffentlicht am 15.09.2008
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Spruch

GZ. D6 310014-1/2008/5E

 

ERKENNTNIS

 

(schriftliche Ausfertigung)

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Christine AMANN als Beisitzerin im Beisein des Schriftführers Christoph SCHMATZBERGER über die Beschwerde der C.E., geb. 00.00.1980, StA. d. Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 7.2.2007, FZ. 06 05.929-BAE, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.9.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und C.E. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass C.E. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 5.6.2006 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie wurde am 9.6.2006, am 21.6.2006 sowie am 4.12.2006 vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen.

 

1. Als Fluchtgründe brachte die Beschwerdeführerin - zusammengefasst - vor, dass russische Soldaten immer wieder zu ihr nach Hause gekommen seien und sie angesichts ihrer Narbe im Gesicht und ihrer schweren Beinverletzungen verdächtigt hätten, im Krieg aktiv auf der Seite der Separatisten mitgewirkt zu haben. Ihre Narbe sowie die Beinverletzungen habe sie durch einen schweren Autounfall im Alter von 3 Jahren erlitten. Die russischen Soldaten hätten dies aber nicht geglaubt. Ihre Schwester sei schon 2003 nach Österreich geflüchtet und habe auch Asyl bekommen. Einen Monat nach Ausstellung eines Auslandsreisepasses sei dieser ihr im September 2005 von russischen Soldaten im Zuge einer Zatschiska weggenommen worden. Zwei Wochen vor ihrer Flucht hätten die russischen Soldaten gedroht, sie das nächste Mal mitzunehmen, woraufhin ihre Eltern entschieden hätten, dass sie Tschetschenien verlassen sollte. Sie habe aufgrund der Verletzungen aus dem Verkehrsunfall in ihrer Kindheit über Jahre hindurch kaum gehen können, da das rechte Bein schon nach kurzer Zeit stark anschwoll. Sie habe das Dorf, in dem sie fast ihr ganzes Leben bis zur Flucht gelebt habe, lediglich zu Arztbesuchen, für die sie von ihren Eltern mit dem Auto nach Grosny gebracht wurde, verlassen. Ihre Brüder seien nach wiederholten Festnahmen bereits ca. im Jahr 1999 verschwunden und würden sich bis heute versteckt halten. Anfangs seien die Sicherheitskräfte wegen ihrer Brüder zu ihnen nach Hause gekommen; als sie die Verletzungen der Beschwerdeführerin gesehen hätten, wären sie nur noch wegen ihr gekommen.

 

2. Mit Bescheid vom 7.2.2007 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden: AsylG), ab und erkannte den Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Beschwerdeführerin nicht zu; gemäß § 10 Abs. 2 AsylG wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In seiner Begründung stellte das Bundesasylamt die Identität und Nationalität der Beschwerdeführerin fest, nicht jedoch den Zeitpunkt ihrer Ausreise aus dem Heimatland und ihrer Einreise in das Bundesgebiet. Weiters habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zu befürchten habe. Zur Situation in Teilen der Russischen Föderation traf das Bundesasylamt umfangreiche Länderfeststellungen.

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt aus, dass die Beschwerdeführerin die Behauptung, seit 2003 zweimal wöchentlich von russischen Soldaten heimgesucht worden zu sein, nur allgemein in den Raum gestellt habe, ohne dies belegen oder glaubhaft machen zu können. Es sei unverständlich, dass die Beschwerdeführerin keine ärztlichen Unterlagen über den Autounfall besitzen würde, mit denen sie vor den russischen Soldaten die Ursache ihrer Narben und Verletzungen belegen hätte können. Die Beschwerdeführerin bzw. ihre Eltern hätten zumindest versuchen können, Duplikate der - behauptetermaßen in den Spitälern und Spitalsarchiven verbrannten - ärztlichen Unterlagen zu erhalten. Die Beschwerdeführerin habe nicht plausibel dargelegt, warum russische Soldaten häufig nach ihr gesucht hätten, ohne aber sie dann mitzunehmen. Würden die Ausreisegründe der Wahrheit entsprechen, hätte es nicht zu "diesen Widersprüchen kommen dürfen". Aufgrund "der Vielzahl an Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten" sei das Bundesasylamt der Ansicht, dass das Vorbringen der Wahrheit nicht entspreche. Rechtlich folgerte das Bundesasylamt, dass weder eine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention noch ein Abschiebungshindernis vor dem Hintergrund der Art. 2 und 3 EMRK anzunehmen seien. Ungeachtet ihrer Beziehung zur Schwester, die 1996 geheiratet habe und schon 2003 nach Österreich gereist sei, sei die Ausweisung zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und daher zulässig.

 

3. Dagegen richtet sich die (als Berufung eingebrachte) Beschwerde vom 19.2.2007, in der - neben umfangreichen Ausführungen und Zitaten zur allgemeinen Situation in Tschetschenien - der Beweiswürdigung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten wird. Duplikate über die Ursache ihrer Verletzungen hätten trotz aller Bemühungen ihrer Eltern nicht besorgt werden können, wären allerdings ohnedies vermutlich ohne Nutzen geblieben, da ihr die russischen Soldaten nicht geglaubt hätten. Hinzu trete der Umstand, dass ihre Familie auch wegen ihrer Brüder die Aufmerksamkeit der russischen Soldaten auf sich gezogen habe. Auch nach ihrer Ausreise hätten ihre Eltern telefonisch mitgeteilt, dass nach der Beschwerdeführerin noch immer gefragt werde.

 

4. Am 11.9.2008 führte der Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführerin sowie ihre Schwester als Vertrauensperson teilnahmen; das Bundesasylamt hatte auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet. Der Verhandlung wurde eine Dolmetscherin für die tschetschenische Sprache beigezogen. Die Verhandlung war geboten, da die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Beschwerde substantiiert bekämpft wurde und dem erkennenden Senat ergänzungsbedürftig erschien.

 

Die Beschwerdeführerin legte Arztbriefe, eine orthopädische Begutachtung sowie die Erinnerungskarte für einen Arzttermin der Abteilung für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie vor.

 

Beweis wurde erhoben, indem die Beschwerdeführerin einvernommen und folgende, auch in der Verhandlung erörterte Unterlagen eingesehen wurden:

 

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 29.7.2008

 

Ruth Altenhofer, Schwerpunkt: Tschetschenien, online-Ausgabe des Asylmagazins 3/2008 (abgerufen am 17.4.2008).

 

Nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung war das Erkenntnis gemäß § 41 Abs. 9 Z 1 AsylG sogleich öffentlich verkündet worden.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin ist russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe und lebte ab dem zweiten Lebensjahr bis zu ihrer Ausreise im Dorf G. in der Provinz S.. Im Alter von drei Jahren erlitt die Beschwerdeführerin durch einen Autounfall schwere Verletzungen am rechten Bein sowie im Gesicht; die Beschwerdeführerin konnte über Jahre hindurch kaum gehen und ist bis heute gehbehindert; im Gesicht blieb eine auffällige Narbe zurück. Die Beschwerdeführerin konnte nur selten das Haus verlassen und besuchte auch keine Schule. Ihre beiden Brüder verschwanden etwa im Jahr 1999 nach wiederholten Festnahmen durch russische Soldaten, die das Zuhause der Familie der Beschwerdeführerin immer wieder aufgesucht hatten. Ab 2003 häuften sich wieder die "Säuberungsaktionen", die zunächst dazu dienten, den Aufenthaltsort ihrer Brüder zu erkunden. Nach einiger Zeit weckten die Narben der Beschwerdeführerin das Interesse der russischen Sicherheitskräfte, die sie aufgrund ihrer Verletzungen an der Teilnahme an Kriegshandlungen verdächtigten. Diese Zatschiskas fanden immer wieder statt. Bei einer solchen Aktion im Herbst 2005, in der die russischen Soldaten das gesamte Haus durchsuchten und durchwühlten, wurde ihr der Auslandsreisepass, den die Beschwerdeführerin erst ein Monat zuvor ausgestellt bekommen hatte, entzogen. Zwei Wochen vor ihrer Ausreise am 30.5.2006 drohten die Soldaten, die Beschwerdeführerin beim nächsten Mal festzunehmen. Die Schwester der Beschwerdeführerin hatte bereits am 4.6.2003 einen auf ihren Ehemann bezogenen Asylerstreckungsantrag gestellt, dem mit Bescheid vom 16.2.2004 stattgegeben wurde; dem Schwager der Beschwerdeführerin war mit Bescheid vom selben Tag vom Bundesasylamt die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden.

 

Die Beschwerdeführerin verfügt über keine Verwandte oder Bekannte, die auf dem Gebiet der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens leben.

 

1.2. Zur Lage in Tschetschenien und zur Lage der Tschetschenen in der Russischen Föderation:

 

Die belangte Behörde hat zur Situation in der Russischen Föderation aufgrund verschiedener Länderberichte unterschiedlichster Quellen Feststellungen getroffen, die dem Asylgerichtshof im vorliegenden Fall unbedenklich erscheinen, weshalb er sich diesen Feststellungen anschließt. Ergänzend stellt der Asylgerichtshof ferner fest, dass zu den Personengruppen, die nach wie vor einem sehr hohen Risiko ausgesetzt sind, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten, festgenommen, verschleppt, verhört oder gefoltert zu werden, Verwandte von Rebellen bzw. Personen, die für Rebellen oder deren Sympathisanten gehalten werden, zählen.

 

2. Diese Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die ergänzenden Feststellungen stützen sich auf die in der Verhandlung erörterten Dokumente, die in ihrer Grundaussage völlig übereinstimmen und auch mit den Feststellungen der belangten Behörde im Einklang stehen, wonach flächendeckende "Säuberungsaktionen" zugunsten "gezielter" Einzelaktionen gegen Personen, die der Begehung "terroristischer Taten" verdächtigt werden, abgenommen haben.

 

2.2. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin beruhen auf ihren eigenen glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben. Dass die Beschwerdeführerin aus Tschetschenien stammt, hat bereits die belangte Behörde angenommen; auch in der Verhandlung, in der eine Dolmetscherin für die tschetschenische Sprache herangezogen wurde, haben sich diesbezüglich keine Zweifel ergeben. Von ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit konnte sich der erkennende Senat in der Verhandlung überzeugen. Entscheidend für die Glaubhaftmachung der geltend gemachten Fluchtgründe war zum Einen, dass der - von der belangten Behörde im erstinstanzlichen Verfahren insofern vernachlässigte - Aspekt der Suche der russischen Soldaten nach den Brüdern der Beschwerdeführerin die von ihr vorgebrachten "Säuberungsaktionen" plausibel und nachvollziehbar machen. Wenn aber bereits die Aufmerksamkeit der russischen Sicherheitskräfte im Hinblick auf (unterstellte) separatistische Aktionen durch ihre Brüder auf die Familie der Beschwerdeführerin gelenkt war, erscheint auch ihre Verdächtigung aufgrund ihrer Narben und Verletzungen glaubhaft und plausibel.

 

Zum anderen lässt die - von der Beschwerdeführerin in der Verhandlung nur beiläufig auf Nachfrage erwähnte - Entziehung ihres Auslandsreisepasses im Herbst 2005, womit eine Ausreise der Beschwerdeführerin unterbunden werden sollte, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung erkennen und insgesamt ihre Fluchtgründe glaubwürdig erscheinen. Ihre Schilderungen sind in sich stimmig und vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nachvollziehbar. In der Verhandlung hinterließ die Beschwerdeführerin, die über keinerlei Schulbildung verfügt, einen sehr überzeugenden Eindruck: Sie steigerte ihr Vorbringen im Vergleich zu den erstinstanzlichen Einvernahmen nicht und hob die für die Asylrelevanz ihrer Fluchtgründe entscheidenden Aspekte auch nicht besonders hervor. Soweit die belangte Behörde die Unglaubwürdigkeit der Angaben damit begründete, die Beschwerdeführerin hätte sich ein Duplikat zum Nachweis ihrer Verletzungen besorgen und damit die russischen Soldaten von ihrer "Unschuld" überzeugen können, muss der Beschwerdeführerin zugestimmt werden, dass über den Erfolg einer solchen Vorgangsweise lediglich spekuliert werden kann. Auch aus dem Umstand, dass die russischen Sicherheitskräfte der Beschwerdeführerin nur drohten, sie festzunehmen, sie aber in der Vergangenheit nicht festgenommen hatten, lässt sich pro futuro nichts gewinnen.

 

3. Rechtlich folgt daraus:

 

3.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG und dem VwGG nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom zuständigen Senat des Asylgerichtshofes weiterzuführen.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG ist das AsylG 2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten; es ist gemäß § 75 Abs. 1 AsylG auf alle Verfahren anzuwenden, die am 31.12.2005 noch nicht anhängig waren. Dies ist im vorliegenden Verfahren der Fall, da die Beschwerdeführerin den Antrag auf internationalen Schutz am 5.6.2006 gestellt hat.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

3.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [Statusrichtlinie] verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

 

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

 

3.3. Es ist der Beschwerdeführerin gelungen, (drohende) Verfolgung glaubhaft zu machen. Ihre (offenbar in Verdacht geratenen) Brüder wurden mehrmals von russischen Sicherheitskräften festgenommen, bevor sie sich schließlich deren Zugriff entzogen. Auch nach dem Verschwinden der Brüder und einem längeren Zeitraum, in dem das Interesse an ihrem Aufenthaltsort geringer gewesen sein dürfte, gerieten die Brüder bei den russischen Soldaten nie in Vergessenheit. Damit zählt die Beschwerdeführerin aber zu jenem Personenkreis, der gemäß den ergänzenden Feststellungen zu Folge hohen Risken ausgesetzt ist, einer Art. 3 EMRK-relevanten Verfolgung ausgesetzt zu sein. Nach den festgestellten Hausdurchsuchungen bzw. Zatschiskas zu schließen, ist die Beschwerdeführerin bereits in den Verdacht geraten, mit Separatisten in Zusammenhang zu stehen bzw. sogar am Krieg - in welcher Form immer - teilgenommen zu haben.

 

Deshalb ist auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihr - sollte sie rückgeführt werden - die föderalen bzw. russischen Behörden besondere Aufmerksamkeit widmen.

 

Diese zu befürchtende Verfolgung durch föderale Kräfte knüpft an die (unterstellte) politische Gesinnung der Verfolgten an. Deshalb würde sie bei einer Rückkehr verfolgt werden. Sie ist somit aufgrund asylrelevanter Merkmale Opfer von Verfolgung und lebt in der begründeten Furcht, im Falle ihrer Rückkehr Verfolgung aus diesem Grund ausgesetzt zu sein.

 

Im vorliegenden Fall ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht in der Lage oder im Hinblick auf die diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes ihres Herkunftsstaates zu bedienen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative scheitert bereits nach dem von der belangten Behörde getroffenen und vom erkennenden Senat übernommenen Feststellungen zur Situation im Herkunftsland der Beschwerdeführerin aus (siehe Seite 21 des angefochtenen Bescheides), da im vorliegenden Fall Hinweise auf eine (drohende) gezielte individuelle Verfolgung durch russische Staatsorgane bestehen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Familienverband, gesamte Staatsgebiet, gesundheitliche Beeinträchtigung, Glaubhaftmachung, Hausdurchsuchung, politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
12.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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