D13 400496-2/2008/3E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Dajani als Einzelrichter über die Beschwerde des I.R., geb. 00.00.1967, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.08.2008, FZ. 08 06.523-EAST-West, zu Recht erkannt:
Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. Der Verfahrensgang zum Verfahren des bekämpften Bescheides ergibt sich aus dem Verwaltungsakt des Bundesasylamtes.
Der Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Frau sowie seinen zwei minderjähigen Kindern nach Österreich ein und brachte erstmals am 14.2.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz unter der Zahl 08 01.636 ein, der am 23.06.2008 mit Bescheid des Bundesasylamtes, Erstaufnahmestelle West, FZ. 08 01.636-EAST-WEST ohne in die Sache eingetreten zu sein gem. § 5 Absatz 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen wurde; ausgesprochen wurde ferner, dass gem. Artikel 16 (1) c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Polen zuständig ist, sowie dass der Beschwerdeführer gem. § 10 Abs.1 Z 1 aus dem Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen wird und demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen zulässig sei. Die fristgerecht eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 21.07.2008, Zahl S5 400.496-1/2008/2E, gem. §§ 5 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 AsylG abgewiesen.
Am 25.07.2008 stellten der Beschwerdeführer, seine Ehegattin und seine Kinder neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Mutter des Beschwerdeführers stellte am 26.07.2008 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Erstaufnahmestelle West, vom 08.08.2008, FZ. 08 06.523-EAST-West wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 25.07.2008 gem. § 68 Absatz 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl Nr. 51/1991 idgF wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und gleichzeitig ausgesprochen, dass der Beschwerdeführer gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 1 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 idgF., aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen wird.
Über das Asylverfahren der Mutter des Beschwerdeführers, I.N., wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, da diese aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht einvernommen werden konnte.
Gegen den gegenständlichen Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.08.2008, FZ. 08 06.523-EAST-West brachte der Beschwerdeführer durch seinen Vertreter fristgerecht Beschwerde ein und beantragte den bekämpften Bescheid ersatzlos gem. § 41 Abs. 3 AsylG zu beheben, die Zulassung zum Asylverfahren auszusprechen und insbesondere auch den Ausweisungsausspruch betreffend des Dublin-Staates Polen ersatzlos aufzuheben und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 02.09.2008, Zahl: D13 400496-2/2008/2Z, wurde der Beschwerde gemäß § 37 Absatz 1 AsylG 2005 idgF. BGBl. I Nr. 100/2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005 idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden. Im gegenständlichen Fall wurde der Antrag auf internationalen Schutz am 25.07.2008 gestellt, weshalb § 5 AsylG 2005 idF BGBI. I Nr. 100/2005 zur Anwendung gelangt.
Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I. Nr. 100/2005, außer Kraft.
Gemäß Art. 129c Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, idgF, in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Aslygesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, in der geltenden Fassung entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 leg. cit. vorgesehen ist, durch Einzelrichter über
1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und
2. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.
Durch Einzelrichter/Einzelrichterin entscheidet der Asylgerichtshof gemäß § 61 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 ausnahmslos über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide
a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4 leg. cit.;
b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5 leg. cit. sowie
c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG.
Eine mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung fällt gemäß § 61 Abs. 3 Z 2 leg. cit. ebenfalls in die Kompetenz des/der zuständigen Einzelrichters/ Einzelrichterin.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Rechtsmittelverfahren gegen einen zurückweisenden Bescheid wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG. Daher ist das Verfahren des Beschwerdeführers nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 durch den zuständigen Richter des Asylgerichtshofes als Einzelrichter zu führen.
Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Absätzen 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Verschiedene "Sachen" im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG liegen vor, wenn in der für den Vorbescheid maßgeblichen Rechtslage oder in den für die Beurteilung des Parteibegehrens im Vorbescheid als maßgebend erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist oder wenn das neue Parteibegehren von dem früheren (abgesehen von Nebenumständen, die für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerheblich sind) abweicht (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze2 E. 80 zu § 68 AVG sowie VwGH 10.06.1998, Zl. 96/20/0266). Liegt keine relevante Änderung der Rechtslage oder des Begehrens vor und ist in dem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt keine Änderung eingetreten, so steht die Rechtskraft des ergangenen Bescheides dem neuerlichen Antrag entgegen (vgl. VwGH 24.02.2000, 99/20/0173).
Für die Berufungsbehörde ist Sache im Sinne des § 66 Abs. 4 AVG ausschließlich die Frage, ob die erstinstanzliche Behörde zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung mit Recht den neuerlichen Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Den erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Asylgesetzes 2005 ist zu entnehmen, dass dies auch dann gelten soll, wenn diese Zurückweisung des Antrages - wie im vorliegenden Fall - wegen entschiedener Sache, sohin gemäß § 68 Abs. 1 AVG erfolgt (siehe die Erläuterungen zu § 37 Asylgesetz 2005, 952 Bgl. Nr. 22.GP, 55). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 lediglich dann unzulässig, wenn erstens dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder zweitens diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Gemäß § 41 Abs. 3 AsylG ist in einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.
Im gegenständlichen Fall wurden die Zweitanträge des Beschwerdeführers sowie seiner Ehegattin und seiner Kinder gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG nach Polen ausgewiesen, während über den Zweitantrag der Mutter des Beschwerdeführers nicht entschieden wurde, da diese aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes zunächst nicht einvernommen werden konnte. Das Bundesasylamt hat es jedoch unterlassen, nähere Ermittlungen dahingehend durchzuführen, inwieweit zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK besteht, welches einer Ausweisung des Beschwerdeführers nach Polen entgegenstehen würde, zumal die Mutter des Beschwerdeführers aufgrund ihres offenen Asylverfahrens weiterhin in Österreich verbleiben konnte. So wurde lediglich festgestellt, dass die Mutter des Beschwerdeführers die Russische Föderation alleine verlassen hätte und erst aus Polen gemeinsam mit dem Beschwerdeführer nach Österreich weitergereist ist. Das Bundesasylamt wäre jedoch gehalten gewesen, durch eine ausführliche Befragung des Beschwerdeführers zu seinem Verhältnis zu seiner Mutter zu überprüfen, ob zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter ein Familienleben besteht, das die von der Rechtsprechung des EGMR geforderte Beziehungsintensität aufweist, etwa aufgrund des Vorliegens eines gemeinsamen Haushaltes oder einer wirtschaftlichen Abhängigkeit. Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesasylamt auch zu berücksichtigen haben, dass das Asylverfahren der Mutter des Beschwerdeführers nunmehr mit 05.09.2008 zugelassen wurde und wird zu überprüfen haben, inwieweit in den Fällen der Asylanträge des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin und seiner Kinder vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen ist.
Der Sachverhalt, welcher dem Asylgerichtshof nunmehr vorliegt, ist daher "so mangelhaft", dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Befragung des Beschwerdeführers unerlässlich ist. Der Gesetzgeber hat für das Verfahren über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide sehr kurze Fristen (§ 41 Abs. 2, § 37 Abs. 3 AsylG) vorgesehen, andererseits aber den Asylgerichtshof dazu verpflichtet, bei einem "mangelhaften Sachverhalt" der Beschwerde stattzugeben, ohne § 66 Abs. 2 AVG anzuwenden (§ 41 Abs. 3 AsylG). Das Ermessen, das § 66 Abs. 3 AVG dem Asylgerichtshof einräumt, allenfalls selbst zu verhandeln und zu entscheiden, besteht somit in einem solchen Verfahren nicht. Aus den Materialien (Erläut. zur RV, 952 BlgNR 22. GP, 66) geht hervor, dass "im Falle von Erhebungsmängel die Entscheidung zu beheben, das Verfahren zuzulassen und an das Bundesasylamt zur Durchführung eines materiellen Verfahrens zurückzuweisen" ist. Diese Zulassung stehe einer späteren Zurückweisung nicht entgegen. Daraus und aus den erwähnten kurzen Entscheidungsfristen ergibt sich, dass der Gesetzgeber den Asylgerichtshof im Verfahren über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide von einer Ermittlungstätigkeit möglichst entlasten wollte. Die Formulierung des § 41 Abs. 3 AsylG ("wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint"), schließt somit nicht aus, dass eine Stattgabe ganz allgemein in Frage kommt, wenn dem Asylgerichtshof - auf Grund erforderlicher zusätzlicher Erhebungen - eine unverzügliche Erledigung der Beschwerde unmöglich ist.
Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 entfallen.