A4 243.461-0/2008/2E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Lammer als Einzelrichter über die Beschwerde der O.I., geb. 00.00.1970, StA.
Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.10.2003, FZ:
03 32.649-BAE, zu Recht erkannt:
Gemäß § 66 Abs. 2 AVG 1991, BGBl. I Nr. 51 i.d.g.F. wird der Beschwerde der O.I. stattgegeben, der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. 1. Die (nunmehrige) Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 21.10.2003 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf Asylgewährung. Zu ihrem Fluchtweg und ihren Fluchtgründen wurde sie im Beisein eines Dolmetschers für die englische Sprache am 21.10.2003 niederschriftlich einvernommen. Im Wesentlichen brachte sie dabei vor, nach der Geburt ihrer ersten Tochter von der Familie ihres Mannes aufgefordert worden zu sein, sich selbst und ihre Tochter beschneiden zu lassen. Auch nach der Geburt ihrer zweiten Tochter sei sie bedrängt worden, eine Beschneidung vorzunehmen und habe sich geweigert, den Eingriff durchführen zu lassen. Als man ihr von Seiten der Familie ihres Mannes drohte, ihr ihre beiden Töchter wegzunehmen, sei sie mit ihren Kindern zu ihrer 75-jährigen Großmutter geflüchtet. Sie habe die Vorfälle bei der Polizei gemeldet, ihr wäre die Hilfe aber verweigert worden. Sie habe sich drei Monate bei ihrer Großmutter aufgehalten und es hätte sie ihr Mann und seine Familie dort finden können. In einem anderen Landesteil Nigerias konnte sie sich nicht niederlassen; ihr Mann stamme aus einer einflussreichen königlichen Familie und könne ihren Aufenthaltsort leicht ermitteln. Mit Hilfe ihrer Großmutter sei sie in der Folge geflüchtet.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.10.2003, FZ: 03 232.649-BAE, wurde der am 21.10.203 gestellte Asylantrag gem. § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen (Spruchteil I.) und gleichzeitig festgestellt, dass gem. § 8 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria zulässig ist (Spruchteil II).
3. Gegen diese Entscheidung erhob die im Betreff Genannte fristgerecht und zulässig Berufung.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
1. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005 (Art. 2 BG BGBl. I 100/2005) sind "[A]lle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren [...] nach den Bestimmungen des AsylG 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt."
Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG 1997 (in der Folge: AsylG) i. d. F. der AsylG-Nov. 2003 sind Verfahren über Asylanträge, die ab dem 01.05.2004 gestellt worden sind, nach den Bestimmungen des AsylG in der jeweils geltenden Fassung, di. nunmehr die Fassung der AsylG - Nov. 2003, zu führen.
Gemäß § 61 Abs. 1 AsylG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter (1.) über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und (2.) Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.
Soweit sich aus dem B-VG, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, sind gemäß § 22 Asylgerichtshofgesetz (AsylGHG) auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
2. Gemäß § 23 AsylG ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden (vgl. auch Art. II Abs. 2 lit. D Z 43 a EGVG). Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen. Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.
Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein Verfahren vor dem Bundesasylamt mit nachgeordneter Kontrolle durch den Asylgerichtshof eingerichtet. In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln, und es ist gemäß § 19 Abs. 2 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen würden aber unterlaufen, wenn ein Ermittlungsverfahren vor dem Bundesasylamt unterbliebe und somit nahezu das gesamte Verfahren vor den Asylgerichtshof verlagert würde, sodass die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde. Das wäre etwa der Fall, wenn es das Bundesasylamt ablehnte, auf das Vorbringen des Asylwerbers sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen. Es liegt nicht im Sinne des Gesetzes, wenn es das Kontrollorgan ist, das erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und beurteilt, sodass es die umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Dies spricht auch bei Bedachtnahme auf eine mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens dafür, nach § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen. Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem in ständiger Rechtsprechung, etwa in den Erkenntnissen vom 21.11.2002, Zahlen 2000/20/0084 und 2002/20/0315, Kriterien für die Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG im Asylberufungsverfahren vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat aufgestellt, wonach die verfassungsrechtliche Funktion des damaligen Unabhängigen Bundesasylsenats als einer obersten Berufungsbehörde ausgehöhlt würde und die Einräumung eines Instanzenzuges zur bloßen Formsache degradiert würde, "wenn sich das Asylverfahren einem erstinstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde nähert, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf das Vorbringen sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf das Verfahren einzuführen."
Gleiches muss für den nunmehr als Nachfolgebehörde des Unabhängigen Bundesasylsenates eingerichteten Asylgerichtshof gelten, der über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen erkennt und somit eine überprüfende Funktion einnimmt.
3. Im vorliegenden Fall hat es das BAA verabsäumt, sich über die konkrete Situation der Beschwerdeführerin als alleinstehende und durch Beschneidung bedrohte Frau in ausreichendem Maße zu informieren. Um die Situation der Beschwerdeführerin korrekt zu beurteilen, müssen nicht nur in ausreichendem Maße Feststellungen über die gegenwärtigen Verhältnisse in Nigeria angeführt, sondern darüber hinaus auch Nachforschungen zu den oben genannten Themenkreisen angestellt werden. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden einer neuen inhaltlichen Auseinandersetzung seitens der erstinstanzlichen Behörde zu Grunde zu legen sein.
Es ist zudem nicht möglich, die Situation der Beschwerdeführerin korrekt zu beurteilen, wenn nicht in ausreichendem Maße Feststellungen über ihre Möglichkeit, sich anderwärtig in Nigeria niederzulassen, in das Verfahren einfließen zu lassen. Darüber hinaus sind Ermittlungen dahingehend zu pflegen, ob der Beschwerdeführerin die Möglichkeit offen steht, sich bezüglich ihrer drohenden Beschneidung an in Nigeria bestehende Hilfsorganisationen zu wenden, um derselbe zu entgehen.
Das Bundesasylamt ist - ebenso wie der Asylgerichtshof - als Spezialbehörde verpflichtet, sich über die Situation und die Entwicklungen in Nigeria Kenntnis zu verschaffen und im Einzelfall entsprechende Feststellungen zu treffen. Nur anhand solcher Feststellungen ist es möglich zu beurteilen, ob die im Betreff Genannte - aus Gründen, die in der GFK genannt sind - verfolgt wird. Diese Feststellungen wären mit der Beschwerdeführerin zu erörtern; daraus könnte sich die Notwendigkeit ergeben, sie neuerlich zu ihren persönlichen Umständen einzuvernehmen. Damit liegt aber eine der Voraussetzungen vor, die § 66 Abs. 2 AVG normiert: dass nämlich die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheine; denn ob es sich um eine kontradiktorische Verhandlung oder um eine bloße Einvernahme handelt, macht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keinen Unterschied (VwGH
v. 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084 mwN; VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315; VwGH v. 11.12.2003, Zl. 2003/07/0079).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung (VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084; VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315; ähnlich auch VwGH v. 12.12.2002, Zl. 2000/20/0236; VwGH v. 30.09.2004, Zl. 2001/20/0135) ausgeführt hat, ist in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet; dabei kommt dem Asylgerichtshof - einer unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens - die Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" zu (Art. 129 c Abs. 1 B-VG i.d.F. vor Art. 1 Z 5 BG BGBl. I 100/2005). In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln, und es ist gem. § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen würden aber unterlaufen, wenn ein Ermittlungsverfahren in erster Instanz unterbliebe und somit nahezu das gesamte Verfahren vor die Berufungsbehörde verlagert würde, sodass die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde. Das wäre etwa der Fall, wenn es das Bundesasylamt ablehnte, auf das Vorbringen des Asylwerbers sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen. Es liegt nicht im Sine des Gesetzes, wenn es die Berufungsbehörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und beurteilt, sodass sie ihre umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Dies spricht auch bei Bedachtnahme auf eine mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens dafür, nach § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen.
Das Bundesasylamt hat es unterlassen, sowohl "brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Situation im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen" /VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084; vgl. auch VwGH v. 30.09.2004, Zl. 2001/20/0135) als auch fallbezogene Erhebungen zu tätigen. Hätte es das getan und diese Ergebnisse mit der Beschwerdeführerin erörtert, so hätte es sie unter Umständen neuerlich vernehmen müssen, um den Sachverhalt weiter aufzuhellen. Die Vernehmung durch die Erstbehörde würde dezentral stattfinden; auch dies ist unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis zu berücksichtigen (VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084, VwGH v. 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315). Der Asylgerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass eine Vielzahl von Umständen dafür spricht, nach § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.