E2 245.430-0/2008-13E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Vorsitzenden und die Richterin Dr. HERZOG-LIEBMINGER als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Fr. BIRNGRUBER über die Beschwerde des K.Ö., geb. 00.00.1973, StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.12.2003, FZ. 02 40.076-BAW, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.09.2008 zu Recht erkannt:
Der Beschwerde wird stattgegeben und K.Ö. gemäß §§ 7 AsylG idF BGBl 1 126/2002 Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG idF BGBl 1 126/2002 wird festgestellt, dass K.Ö. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. Verfahrensgang und Sachverhalt
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: "BF"), ein türkischer Staatsangehöriger und nach seinen Angaben kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte mit Schreiben vom 18.12.2002 einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Die erste niederschriftliche Einvernahme beim Bundesasylamt erfolgte am 02.12.2003.
Der BF gab an, er sei am 01.12.2002 legal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist. Er sei im Besitze eines Reisepasses und eines am 25.11.2002 von der österreichischen Botschaft in Ankara ausgestellten Schengen-Visums mit der Gültigkeit vom 25.11.2002 bis 18.12.2002.
Zur Begründung seines Antrages führte er aus, er habe sich bereits im Jahr 1996 für die HADEP und für die republikanische Volkspartei interessiert. Die HADEP galt als kurdische Partei. Und daher habe er für die republikanische Volkspartei in den umliegenden Dörfern von K. Werbung gemacht. Der Polizei sei diese Tätigkeit aufgefallen und habe den BF dann mehrmals festgenommen und kurze Zeit darauf wieder freigelassen. 1997 habe er sich selbst Schnittverletzungen zugefügt, um aus der Polizeihaft entlassen zu werden. Wegen der mehrmaligen Anhaltungen habe er keiner geregelten Beschäftigung mehr nachgehen können. Deshalb habe er die Türkei verlassen. Fluchtauslösendes Ereignis sei gewesen, dass er im Juli 2002 auf der Straße von unbekannten Personen zusammengeschlagen wurde, so dass er 15 Tage im Krankenhaus war. Dies habe er bei der Polizei zwar angezeigt, aber die Polizei hätte nichts unternommen. Auch für die HADEP sei er aktiv gewesen, indem er in den umliegenden Dörfern von K. Flugblätter und Bücher verkauft habe. Zwischen 1997 und 2000 sei er sehr oft angehalten worden und jeweils aber nur für ein paar Stunden in Haft gewesen; letztmalig im Jänner oder Februar 2000. Bei den Anhaltungen sei er jedes Mal geschlagen worden. In der Folge sei er Fernfahrer gewesen und habe sich daher immer wieder für längere Zeit nicht in K. aufgehalten. Im Falle der Rückkehr befürchte er, ähnliche Probleme zu bekommen.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.12.2003, Zahl: 02 40.076-BAW, wurde der Asylantrag von K.Ö. gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I 1997/76 idgF abgewiesen (Spruchpunkt I). Weiters wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 Asylgesetz für zulässig erklärt (Spruchpunkt II).
Das Bundesasylamt befand das Vorbringen des BF glaubhaft, erachtete es aber mangels Intensität der Verfolgungshandlungen als nicht geeignet, eine Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Das fluchtauslösende Ereignis sei als Angriff von Privaten zu werten und gehe nicht von staatlichen Stellen aus. Dass die türkischen Behörden nicht in der Lage und willens seien, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu gewähren, sei dem Vorbringen nicht zu entnehmen. Die befürchteten Maßnahmen müssten auch im Hinblick auf das Verbot eines Refoulements eine gewisse Intensität erreichen, um von einer unmenschlichen Behandlung sprechen zu können und erreichten auch nicht das Ausmaß einer "Erniedrigung" im Sinne des Art. 3 EMRK. Aus der allgemeinen Lage in der Türkei könnten auch keine Schlüsse auf eine derartige Bedrohung gezogen werden.
3. Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde (vormals: "Berufung") eingebracht. Mit der Beschwerde wird der Bescheid im gesamten Umfang wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Verletzung von Verfahrensvorschriften bekämpft. Die belangte Behörde sei ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen. Bedingt durch den Umstand der permanenten Beschuldigungen sei es auch zu familiären Schwierigkeiten gekommen und seine Frau habe ihn daher verlassen. Aber auch seine Arbeit habe er öfters verloren, da er ständig und nicht vorhersehbar polizeilichen Kontrollen ausgesetzt war. Die Arbeitgeber hätten keine Arbeitnehmer wollen, die im Verdacht standen "mit terroristischen Organisationen auf Du und Du zu stehen". Aufgrund seiner breiten kurdischen Aussprache sei er auch in den Städten das Ziel ständiger polizeilicher Kontrollen gewesen und daher sei ihm auch keine Alternative zur Verfügung gestanden. Rechtlich hätte die Behörde die UNHCR-Kriterien anwenden müssen und hätte daher fest zustellen gehabt, dass er als Flüchtling anzusehen sei. Aufgrund der bestehenden Menschenrechtslage und der daraus für ihn resultierenden Gefahren, bestünde auch ein Abschiebungshindernis.
4. Der Asylgerichtshof hat für den 11.09.2008 eine öffentliche mündliche Verhandlung anberaumt und dazu den BF, einen Vertreter des Bundesasylamtes und einen Dolmetscher für die türkische Sprache geladen. Die Verhandlung wurde in Anwesenheit des BF sowie des geladenen Dolmetschers durchgeführt. Das Bundesasylamt hat von der Teilnahme eines Vertreters an der mündlichen Verhandlung Abstand genommen.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
1. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens:
1.1. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wurde Beweis erhoben durch:
Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verfahrensakt;
Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung;
Erörterung des vom BF bei der mündlichen Verhandlung vorgelegten medizinisch-psychiatrischen Befundes vom 00.00.2008 Dris. L., tätig am sozialmedizinischen Zentrum Baumgartner Höhe, Otto Wagner Spital, Wien.
Erörterung des rechtskräöftigen Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Zl. 0000 vom 00.00.2008;
Einsichtnahme in folgende Länderdokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat und die Herkunftsregion des BF sowie deren Erörterung in der mündlichen Verhandlung:
Bericht des Auswärtigen Amtes Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 25.10.2007 (Stand September 2007)
2. Der Asylgerichtshof geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem Sachverhalt aus:
2.1. Zur Person des BF:
2.1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei. Er reiste am 01.12.2002 legal - im Besitze eines Reisepasses und eines von der österreichischen Botschaft in Ankara ausgestellten Visums für die Schengener Staaten - nach Österreich ein und stellte nach Ablauf des Visums am 19.12.2002 einen Asylantrag. Seit der Einreise lebt der BF in Österreich. In der Türkei leben nach wie vor die Mutter, die Ehefrau und ein Kind des BF.
Der BF wurde am 00.00.2008 beim Landesgericht für Strafsachen Wien wegen des teils vollendeten, teils versuchten Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten rechtskräftig verurteilt.
Der BF gab zu Beginn der Beschwerdeverhandlung an, psychisch erkrankt zu sein und legte dazu einen medizinisch-psychiatrischen Befund Dris. L., Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe, vor. Aus diesen Unterlagen ergibt sich, dass der BF an einer schweren Persönlichkeitsstörung aus dem narzistischen Formenkreis (ICD-10 Borderline-Persönlichkeitsstörung/latente Schizophrenie F21.0) leidet, auf deren Grundlage sich jeweils mittelgradige bis schwerergradige depressive Episoden "aufpfropfen" (ICD-10 F32.11 bzw. F32.2) mit beträchtlicher Suizidalität bzw. Selbstschädigungshandlungen. Der BF steht diesbezüglich seit dem Jahr 2003 in medikamentös-psychiatrischer Behandlung des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe und war sowohl von 00.00.2003 bis 00.00.2003 als auch von 00.00.2007 bis 00.00.2007 stationär. Ansonsten steht er seit fünf Jahren durchgängig in medikamentöser Behandlung (Vollhospitalisierung, regelmäßige ambulante Kontrollen und Therapien) und laut Befund habe bisher keine einigermaßen stabile Remission erreicht werden können. Es wird von Prim. Dr. L. daher festgehalten,
dass der BF an einer psychosewertigen psychiatrischen Erkrankung - offenbar in chronischem Verlauf - erkrankt ist und behandelt wird;
dass bei zusätzlichen seelischen Belastungen (wie etwa Abschiebung) die Gefahr des neuerlichen Aufflammens einer floriden endogenen depressiven Psychose (inklusive Selbstmordgefahr) droht;
dass eine Unterbrechung bzw. Abbruch der medikamentös psychiatrischen Behandlung im Otto Wagner Spital ebenfalls eine schwere Gefahr für die Gesundheit des Patienten (Selbstmordgefahr) bedeutet.
Von Prim. Dr. L. wird empfohlen, eine Abschiebung im Hinblick auf den chronischen Verlauf der psychosewertigen psychiatrischen Erkrankung und der Notwendigkeit der Fortsetzung der laufenden medikamentös-psychiatrischen Behandlung auszusetzen.
2.2. Zum Asylvorbringen:
2.2.1. Der BF machte vorerst im erstinstanzlichen Verfahren geltend, er sei politisch tätig gewesen und habe vor allem für die HADEP, deren Mitglied er gewesen sei, in den umliegenden Dörfern von K. Flugblätter und Bücher verkauft. Der Jandarma sei er deshalb aufgefallen und von dieser mehrfach festgenommen und geschlagen worden. Nach kurzen Anhaltungen habe man ihn immer wieder freigelassen. 1997 habe er sich selbst Schnittverletzungen zugefügt, um aus der Polizeihaft entlassen zu werden. 2002 hätten ihn unbekannte Personen auf der Straße zusammengeschlagen, worauf er 15 Tage im Krankenhaus bleiben musste. Dies sei der Auslöser für die Flucht gewesen.
In der Beschwerdeverhandlung bekräftigte der BF das Vorbringen und führte ergänzend aus:
".....Meine politische Vergangenheit begann im Jahr 1990. Ich war der Jugendvorsitzende der demokratischen Linkspartei (DSP). Bis 1992 habe ich unter dieser Partei politisch gearbeitet, dann musste ich zum Militär gehen, weil ich einen türkischen Ausweis besitze. 1995 ging mein Militärdienst zu Ende und ich kam wieder in meine Heimat zurück. Nach meinem Militärdienst hat die Zentrale Parteiorganisation von DSP entschieden, unsere Bezirkssektion aufzulösen, weil bei uns keine potentielle Wählerschaft gefunden wurde. Dann habe ich bei der CHP angefangen zu arbeiten. Ich war in der Jugendorganisation ein Mitglied der CHP. Wegen innerparteilichen Rivalitäten habe ich dann die CHP verlassen, bin dann zur kurdischen Partei Hadep gegangen. Ich war Mitglied der HADEP und zweimal wurde das Parteibüro von der Polizei gestürmt. Überall, wo die Polizei uns getroffen hat, haben sie uns verprügelt. Oft wurden wir kurdischen Jugendlichen von der Polizei außerhalb der Stadt gebracht, wo der Müll von der Stadt hingebracht wird. Wir wurden windelweich verprügelt. Einmal haben sie mich nach einer Prügelei vor dem Krankenhaus abgesetzt. Ich war 15 Tagen auf der Intensivstation auf eigne Kosten, weil ich keine Versicherung hatte. Ich hatte eine Gehirnerschütterung. Ich habe keine Dokumente darüber, dass die Polizei mir das angetan hat, weil es nicht möglich ist, in der Türkei von den Behörden ein Dokument zu bekommen. Weil wir Flugblätter und Magazine verteilt haben, wurden wir sehr oft mit der türkischen Polizei konfrontiert. Ich habe zu dieser Zeit in einer Fabrik gearbeitet, ich hatte Nachtdienst. Aber in der Nacht haben die Polizisten die Häuser von meinen Freunden und von mir aufgesucht, dabei war ich nicht zu Hause, weil ich in der Arbeit war. Sie haben meine Eltern und meine Schwestern verprügelt und gefragt, wo ich sei. Die beiden Freunde von mir wurden so geschlagen, dass sie nicht mehr gehen konnten und dann in Ka., dem Staatssicherheitsgericht vorgeführt.
VR: Seit wann sind Sie bei der HADEP?
BF: Seit 1996.
VR: Sind Sie von der Polizei festgenommen worden?
BF: Das erste Mal 1995.
VR: Da waren Sie noch gar nicht bei der HADEP!
BF: Das stimmt, das war in der Zeit, wo die Phase der DSP zu Ende war und ich für die CHP arbeitete. Ich kann mich deswegen genau erinnern, weil damals die Premierministerin Tansu Ciller war. Sie hat einen Besuch in K. erstattet und wir haben sie mit Parolen empfangen, wie "Willkommen Bandenrose". Ab dem Zeitpunkt hat die Polizei uns das Leben zur Hölle gemacht.
VR: Aber die CHP ist keine typische kurdische Partei?
BF: Das stimmt, das ist eine republikanische Volkspartei.
VR: Und trotzdem sind Sie von der Polizei festgenommen worden!
BF: Zuerst haben die Bodyguards von Tansu Ciller uns angegriffen. Als wir uns wehrten ist auch die Polizei auf uns los gegangen.
VR: Ab 1996 sind Sie bei der HADEP?
BF: Ja, das stimmt.
VR: Sind Sie dann noch einmal festgenommen worden oder war das das einzige Mal?
BF: In der HADEP Zeit hat uns die Polizei kaum in Ruhe gelassen. Ich möchte hinzufügen, dass der Bürgermeister von der nationalistischen Partei MHP war und die Jugendorganisation wurde bewusst auf uns los geschickt. 1996 wurde ein Freund von uns Mehmet Solak von der Polizei umgebracht und ein Freund von uns Mahmuj Zdeml wurde von einem Rechtsradikalen mit dem Hacken geschlagen.
BR: Welche Funktion hatten Sie bei der HADEP?
BF: Meine Aufgabe war Magazine und Flugblätter zu verteilen.
VR: Das war keine spezielle Funktion?
BF: Ich war Mitglied von Hadep. Hadep hat versucht sich in K. zu etablieren. Die Partei wurde neu gegründet. Unsere Aufgabe war, in den kurdischen Dörfern Propaganda zu machen.
VR: Das ist doch die Funktion eines jeden Parteimitglieds, keine Spezielle?
BF: Das stimmt. Damals war die politische Lage so, wenn jemand für die Hadep gearbeitet hat, wurde er als Terrorist und PKKler betrachtet und deswegen haben die Sicherheitskräfte denen keine Ruhe gegeben....."
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der BF, der durch seine politische Tätigkeit in das Blickfeld der Behörden geraten war und im Falle der Rückkehr mit Verhaftung und neuerlicher Misshandlung zu rechnen hat. Nach der Schilderung des BF in der Beschwerdeverhandlung seien seitens der türkischen Behörden fünf Verfahren gegen ihn geführt worden. Drei davon seien abgeschlossen und zwei seien noch offen. Sämtliche Verfahren stehen im Zusammenhang mit seiner politischen Tätigkeit, sei es, dass die Organisation der HADEP in K. Newroz-Feierlichkeiten abgehalten hat oder der BF beigetragen hat, den Leiter der Jugendorganisation der MHP in K. zu entmachten oder der BF an illegalen Aktionen beteiligt war, die abgehalten wurden, weil ein Freund von der Polizei getötet worden war. Die offenen Verfahren resultieren aus einem Streit mit einem Polizisten bzw. einer politischen Diskussion, an der sich der BF beteiligt hatte.
Der Asylgerichtshof geht davon aus, dass der BF als Mitglied der HADEP oppositions-politisch tätig war und von den örtlichen Behörden deswegen Maßnahmen gegen den BF ergriffen wurden, die mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht zum Tragen gekommen wären, wäre der BF nicht Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und als solcher politisch tätig gewesen.. Bei diesen Maßnahmen ist es zur Verletzung von Menschenrechten gekommen, wobei nicht auszuschließen ist, dass diese den BF an der psychischen Gesundheit nachhaltig geschädigt haben. Ungereimtheiten und Lücken in seinen asylbezogenen Aussagen sind auf seinen gesundheitlichen Status zurückzuführen und unter diesem Aspekt zu würdigen.
2.2.4. Zum Herkunftsland des BF: ...............
2.2.4.1. Aus dem in der Beschwerdeverhandlung erörterten Bericht des Auswärtigen Amtes Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25.10.2007 (Stand September 2007) ergibt sich:
"Allgemein:
Die Türkei ist eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik. Ein herausragendes politisches und für die gesamte Türkei wegweisendes Ereignis der letzten Jahrzehnte ist der Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zum 03.10.2005.
Bei den Parlamentswahlen vom 22.07.2007 hat die regierende AKP von MP Erdogan mit knapp 46,62 % der abgegebenen Stimmen (340 Sitze) einen historischen Sieg errungen, Wahlverlierer ist die CHP von Oppositionsführer Baykal mit 20,88 % (112 Sitze). Als weitere Partei zog die MHP (14,27%, 71 Sitze) sowie 26 unabhängige Kandidaten (davon 22 von der kurdennahen DTP) ins Parlament ein. Die Regierung Erdogan kann sich weiterhin auf eine stabile Parlamentsmehrheit stützen. Es wird erwartet, dass sie den Reformkurs fortführt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen, die anschließende Wahl des Präsidenten und die zügige Regierungsbildung haben zu einer Beruhigung und Konsolidierung der innenpolitischen Lage geführt. Sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdogan kündigten eine Fortsetzung der Reformpolitik an.
Die Auseinandersetzung mit der PKK setzt die Regierung innenpolitisch unter zusätzlichen Druck der Öffentlichkeit, der Opposition, der Sicherheitskräfte und des Generalstabs. Dieser hat ein militärisches Vorgehen gegen die PKK im Nord-Irak unter militärischen Gesichtspunkten als sinnvoll bezeichnet.
Das Reformtempo hatte sich unter diesen Vorzeichen seit Anfang 2005 deutlich verlangsamt. Die in der türkischen Wahrnehmung trotz des Verhandlungsbeginns unsicherer gewordene EUBeitrittsperspektive setzt die türkische Regierung unter Druck. Sie bekennt sich jedoch weiterhin zum Reformprozess und hat nach den Wahlen bereits angekündigt, diesen zu intensivieren.
Die Kernpunkte der bisherigen acht Reformpakete sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), die Benutzung anderer Sprachen als der türkischen (dies betrifft v.a. Kurdisch) in Rundfunk und Fernsehen, erleichternde Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Strafrechtsreform, einschließlich Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen.
Militär und Sicherheitskräfte nehmen in der Türkei eine Schlüsselstellung in der Politik und der inneren Sicherheit ein, auch wenn ihre früher überragende Bedeutung in den letzten Jahren gesunken ist. Militär, Jandarma und Polizei verstehen sich traditionell als Hüter kemalistischer Traditionen und Grundsätze, besonders der Einheit der Nation (vor allem gegen kurdischen Separatismus) und des Laizismus (gegen islamistische Tendenzen).
Jandarma und Polizei sind Organe für die innere Sicherheit, die Strafverfolgung und den Grenzschutz. Die Polizei ist für diese Aufgaben in den Städten zuständig und untersteht in Form der Generalsicherheitsdirektion (Emniyet) dem Innenminister. Die Jandarma ist für die außerhalb städtischer Verwaltungen befindlichen Gebiete zuständig.
Die Verfassung garantiert formal die Unabhängigkeit der Justiz. Auswahl, Beförderung und Versetzung der Richter obliegt einem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte. In der Praxis urteilen Teile der türkischen Justiz immer noch nicht unabhängig und sind auch heute einer der neuralgischen Punkte bei der Implementierung der Reformen der AKP-Regierung.
Menschenrechtsorganisationen können in der Türkei inzwischen ungehindert arbeiten, auch wenn sie seit 2005 wieder stärker von staatlicher Seite kritisch beobachtet werden und vereinzelte Versuche staatlicher Einflussnahme stattfinden. Die Regierung unterhält auf verschiedenen Ebenen einen konstruktiven Dialog mit türkischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen.
ASYLRELEVANTE TATSACHEN
Es gibt in der Türkei keine Personen oder Personengruppen, die alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder alleine wegen ihrer politischen Überzeugung staatlichen Repressionen ausgesetzt sind.
Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei (72 Millionen) - also ca. 14 Millionen Menschen - ist zumindest teilweise kurdischstämmig. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebt die Hälfte bis annähernd zwei Drittel dieser Kurden: ca. drei Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Rund sechs Millionen kurdischstämmige Türken leben in der Ost und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig.
Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus.
Allein aufgrund ihrer Abstammung sind und waren türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, auch aus Vor- oder Nachnamen, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Kleinkindern dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden).
Der Gebrauch des Kurdischen, d.h. der beiden in der Türkei vorwiegend gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmanci und Zaza, ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, allerdings im "öffentlichen Raum" noch eingeschränkt und im Schriftverkehr mit Behörden nicht erlaubt.
Kurdischunterricht und Unterricht in kurdischer Sprache an Schulen sind nach wie vor verboten. Kurdischkurse für Erwachsene an privaten Lehrinstituten sind seit 2004 zulässig, scheitern jedoch häufig an mangelnder Nachfrage/Fehlen finanzieller Mittel.
Seit 2002 sind Rundfunk- und Fernsehsendungen auf Kurdisch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassung stehen und nicht gegen "die unteilbare Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation" gerichtet sein dürfen, erlaubt.
Die Kurdenfrage ist eng verflochten mit dem jahrzehntelangen Kampf der türkischen Staatsgewalt gegen die von Abdullah Öcalan gegründete "Kurdische Arbeiterpartei" (PKK) und ihre terroristischen Aktionen. Das in Deutschland und der EU bestehende Verbot der Terrororganisation PKK erstreckt sich auch auf die Nachfolgeorganisationen unter anderem Namen. Die Stärke der PKK in Türkei/Nordirak wird aktuell auf noch 5.000 - 5.500 Kämpfer geschätzt, davon ca. zwei Drittel im Nordirak.
Nach mehreren Waffenstillständen verkündete die PKK am 1. Oktober 2006 erneut einen "einseitigen "Waffenstillstand". Trotzdem kam es weiterhin zu Auseinandersetzungen. Erstmals seit langer Zeit hat die PKK 2005 und 2006 auch wieder Bombenattentate gegen touristische Ziele verübt, so am 02.04.2006 in Istanbul und bei einer Anschlagsserie am 27. und 28. August 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, die drei Todesopfer und zahlreiche Verletzte forderte.
Zuletzt hat am 22.05.2007 ein von türkischen Sicherheitsbehörden der PKK zugerechneter Bombenanschlag im Zentrum Ankaras zu mehreren Todesopfern und zahlreichen Verletzten unter der Zivilbevölkerung geführt. Weitere Terroranschläge auf Sicherheitskräfte, vorwiegend im Südosten der Türkei, führten vor den türkischen Wahlen zu einer zusätzlichen Anspannung der innenpolitischen Situation.
Am 6. Juni 2007 erklärte der türkische Generalstab vier Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten, deren Betreten zunächst vom 9. Juni 2007 bis 9. September 2007 grundsätzlich verboten war und die einer strengen Kontrolle unterlagen. Die Sperre wurde zuletzt bis 10. Dezember 2007 verlängert.
In der Türkei gibt es keine "Sippenhaft" in dem Sinne, dass Familienmitglieder für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden. Die nach türkischem Recht aussagepflichtigen Familienangehörigen - etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten - werden allerdings zu Vernehmungen geladen, z.B. um über den Aufenthalt von Verdächtigen befragt zu werden. Werden Ladungen nicht befolgt, kann es zur zwangsweisen Vorführung kommen.
Schutz der Menschenrechte in der Verfassung
Der Menschenrechtsschutz wird in der Verfassung in Artikel 2 festgeschrieben, Parteien werden durch Artikel 68 Abs. 4, Abgeordnete durch ihre Eidesformel (Art. 81) darauf verpflichtet. Die Türkei ist Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, des 1. Zusatzprotokolls (Grundrecht auf Eigentum) sowie des 11. Zusatzprotokolls (obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) sowie des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK (Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten). Das 13. Zusatzprotokoll zur EMRK (Abschaffung der Todesstrafe in Kriegszeiten) wurde am 09.01.2004 unterzeichnet und am 06.10.2005 ratifiziert.
Die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Menschengerichtshofs durch die Türkei hat sich deutlich verbessert. Der Europäische Menschengerichtshof spielt in der Türkei eine wichtige Rolle, da er wegen Fehlens einer Individual-Verfassungsbeschwerde in vielen Fällen angerufen wird. Auch deshalb ist die Zahl der die Türkei betreffenden Verfahren sehr hoch; auch 2006/2007 wurde die Türkei wieder in einer Reihe von Verfahren wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Leben und wegen Verstoßes gegen das Folterverbot verurteilt. Die Verurteilungen der Türkei betreffen in der Regel Fälle, deren Sachverhalte mehrere Jahre zurückliegen, so dass aus den Verurteilungen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts nur bedingt Schlüsse auf die aktuelle Praxis der Verwaltung und Justiz gezogen werden können. Zudem ist die Türkei Partei von folgenden Abkommen: