TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/18 S8 400340-1/2008

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Veröffentlicht am 18.09.2008
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Spruch

S8 400.340-1/2008/3E

 

S8 400.341-1/2008/3E

 

S8 400.342-1/2008/3E

 

S8 400.343-1/2008/3E

 

S8 400.344-1/2008/3E

 

S8 400.345-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. BÜCHELE als Einzelrichter über die Beschwerde

 

des M.U., geb. 00.00.1974,

 

der Z.L., geb. 00.00.1982,

 

der mj. M.I., geb. 00.00.2001,

 

der mj. M.A., geb. 00.00.2003,

 

der mj. M.K., geb. 00.00.2004 und

 

der mj. M.N., geb. 00.00.2007,

 

alle StA. Russische Föderation, 3. bis 6. gesetzlich vertreten durch Z.L., alle vertreten durch die Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory & Schellhorn OEG, Wolf-Dietrich-Str. 19, 5020 Salzburg, gegen die Bescheide des Bundesasylamtes jeweils vom 23.06.2008, Zahlen: 08 04.224-EAST-WEST, 08 04.225-EAST-WEST, 08 04.226-EAST-WEST, 08 04.227-EAST-WEST, 08 04.228-EAST-WEST und 08 04.229-EAST-WEST, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Erstbeschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, ist am 13.05.2008 illegal mit einem PKW in das österreichische Bundesgebiet gemeinsam mit seiner Ehefrau (Zweitbeschwerdeführerin) und seinen vier Töchtern (zwischen einem und sechs Jahren, die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführerinnen) über die Slowakei eingereist. Sie stellten jeweils am 14.05.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (in der Folge: Asylantrag).

 

2. Bei der Erstbefragung am 15.05.2008 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion St. Georgen im Attergau in Anwesenheit eines Dolmetschers für Russisch gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlich an, er habe Grosny mit seiner Familie am 09.05.2008 nach Moskau verlassen. Von dort seien sie nach Polen gelangt. In Polen hätten sie am 28.04.2008 jeweils einen Asylantrag gestellt. Dort hätten in einem Flüchtlingslager auf dem Gang schlafen müssen; seine Tochter sei krank gewesen. Sie hätten Polen nach zwei Tagen wieder freiwillig verlassen und seien wieder nach Tschetschenien zurückgefahren. In Tschetschenien hielten sie sich bis zum 09.05.2008 auf. Dann seien sie über Kiew, die Slowakei nach Österreich gefahren.

 

Der Erstbeschwerdeführer gab an, in Tschetschenien Probleme mit den Behörden gehabt zu haben. Er sei mit dem Tod bedroht worden, da er für Freiheitskämpfer Botendienste übernommen habe. Er wollte eigentlich nach Deutschland, da dies am weitesten von Tschetschenien entfernt sei um dort zu arbeiten. Deutschland sei immer noch sein eigentliches Ziel; das Geld sei ihm aber ausgegangen, weshalb sie nun in Österreich gelandet seien. Den Stand seines Asylverfahrens in Polen kenne er nicht.

 

3. Am 16.05.2008 richtete das Bundesasylamt auf der Grundlage der Aussagen des Erstbeschwerdeführers zu seinem Reiseweg ein Aufnahmeersuchen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c. der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) an die zuständige polnische Behörde. Am 20.05.2008 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 29 Abs. 3 AsylG 2005 mitgeteilt, dass mit Polen Konsultationen nach der Dublin-Verordnung geführt werden und aus diesem Grund die im § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 normierte 20-Tages-Frist nicht gelte; es sei beabsichtigt, ihre Asylanträge wegen Unzuständigkeit Österreichs zurückzuweisen. Am 21.05.2008 langte ein Schreiben der polnischen Behörden vom 19.05.2008 beim Bundesasylamt ein, worin die Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung für alle sechs Beschwerdeführer bestätigt wurde.

 

4. Am 03.06.2008 wurde der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweitbeschwerdeführerin vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle West, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit des Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für Russisch jeweils getrennt niederschriftlich einvernommen. Sie gaben dabei im Wesentlichen an, dass sie körperlich und geistig in der Lage seien, die Einvernahme durchzuführen. Auf die Frage, ob sie schon irgendwo einen Asylantrag gestellt haben, gab sie jeweils an, dass sie bereits in Polen gewesen seien und dort ihre Fingerabdrücke abgenommen worden seien.

 

Der Erstbeschwerdeführer gab zur Frage nach seinem gesundheitlichen Zustand an, dass er seit 1997 an einer Magenkrankheit leide und deswegen öfters starke Schmerzen habe; er nehme deswegen auch regelmäßig Medikamente. Weiters leide er an Durchfall und außerdem sei seine Blase entzündet; diese Probleme bestünden seit dem Jahr 2006. Auf Nachfragen erklärte sich der Erstbeschwerdeführer einverstanden, dass mit den untersuchenden Ärzten Kontakt aufgenommen und weiters Einsicht in seinen Krankenakt genommen wird.

 

Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, dass sie verwandtschaftliche Beziehungen in Österreich habe; ihr Bruder lebe bereits seit drei Jahren mit seiner Familie als anerkannter Flüchtling in Österreich. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin werde von ihrem Bruder durch Sachspenden und Geld unterstützt.

 

Die Zweitbeschwerdeführerin gab weiters an, dass ihre älteste Tochter, die Drittbeschwerdeführerin, von einem Psychologen untersucht werden sollte. Bei einer Hausdurchsuchung durch das russische Militär, habe sie Angst bekommen. Sie habe auch mitgekommen, wie ihr Großvater von uniformierten Personen festgenommen worden sei.

 

5.1.1. Mit Aktenvermerk vom 19.06.2008 (Aktenseite 45) wird im Akt der Drittbeschwerdeführerin vom Bundesasylamt ein Telefonat mit einer klinischen Psychologin festgehalten. Demnach habe mit der Drittbeschwerdeführerin ein Untersuchungsgespräch stattgefunden. Diese sei etwas ängstlich, jedoch sei dies im Zusammenhang mit den bisherigen Erlebnissen der Antragstellerin verständlich. Ein "Trauma" bestehe jedoch nicht. Für die Antragstellerin sei es am besten, auch in Zukunft nicht von ihrer Familie getrennt zu sein. Eine schriftliche Stellungnahme dazu wurde angekündigt.

 

5.1.2. Mit E-Mail vom 20.06.2008 wird sodann dem Bundesasylamt ein "Befundbericht" zur Drittbeschwerdeführerin mit Datum 19.06.2008 übermittelt. In der Überschrift ist zur Diagnose "primäre Enuresis nocturna - psychiatr. Komorbidität (Traumatisierung)" angemerkt.

Sodann wird ausgeführt:

 

"Das 6,5 jährige Mädchen war noch nie trocken (näßt ca. 2x nachts ein), kein Einkoten und tagsüber kann sie ihrem Harndrang folgen - organische Abklärung wurde erbeten.

 

Familienanamnestisch tritt die Enuresis nocturna beim Vater (bis zum heutigen Tage), bei allen jüngeren Geschwistern (wegen des Alters noch nicht pathologisch auffällig) auf. Die Mutter war mit [Zahl unleserlich] Jahren rein.

 

Generell kann eine psychiatrische Komorbidität (Traumatisierung) vorhanden sein, da für das Mädchen die Ereignisse rund um die Flucht ständig präsent sind und diese immer wieder in Träumen (schreckt hoch, weint in der Nacht, ...) und Zeichnungen (blutende Menschen, Menschen mit Maschinengewehr; ...) versucht zu verarbeiten.

 

Für [NN1] und die Familie wäre ein ¿zur Ruhe kommen' von überaus großer Bedeutung, damit die Turb[u]lenzen der letz[t]en Zeit verarbeitet werden können und ein psychiatrisches Krankheitsbild abgewendet werden kann.

 

Hochachtungsvoll

 

Mag. Dr. [NN2]"

 

5.1.3. Im Akt des Drittbeschwerdeführerin finden sich keine weiteren Hinweise auf eine zusätzliche Abklärung ihres gesundheitlichen Zustands. Eine - wie im oben wiedergegebenen Befundbericht gewünscht - organische Abklärung der Enuresis nocturna hat offensichtlich nicht stattgefunden.

 

5.2. Im Akt des Erstbeschwerdeführers finden sich keine Hinweise auf eine Abklärung seines gesundheitlichen Zustands bzw. eine Kopie oder Abschrift der Krankengeschichte.

 

6. Mit den beim Asylgerichtshof angefochtenen Bescheiden hat das Bundesasylamt jeweils die Asylanträge aller sechs Beschwerdeführer ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurden die Beschwerdeführer jeweils aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Erstbeschwerdeführers nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.).

 

Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu Polen, insbesondere zum polnischen Asylverfahren und zur Versorgung von Flüchtlingen. Beweiswürdigend hielt das Bundesasylamt im Wesentlichen fest, dass aus den Angaben der Beschwerdeführer keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden seien, dass diese konkret Gefahr liefen, in Polen verfolgt zu werden. Es drohe den Beschwerdeführern jeweils keine Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte; ein Selbsteintritt Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung sei daher jeweils nicht geboten.

 

Im Bescheid des Erstbeschwerdeführers wird nicht auf seinen gesundheitlichen Zustand eingegangen.

 

Im Bescheid der Drittbeschwerdeführerin ist im Bescheid zu ihrem gesundheitlichen Zustand unter der Überschrift "Beweiswürdigung" auf Seite 22 ausgeführt:

 

"Am 19.06.2008 setzte sich Fr. Dr. [NN2] telefonisch mit dem BAA - EASt-West in Verbindung und teilte mit, dass sie mit der Ast. Am 18.06.2008 ein Untersuchungsgespräch geführt hätte. Fr. Dr. [NN2] führte weiters aus, dass die Ast. zwar ängstlich sei, was jedoch vor dem Hintergrund ihres bisher erlebten verständlich sei, aber ein ¿Traumatisierung' würde bei der Ast. Jedenfalls nicht bestehen.

 

In dem weiters durch Fr. Dr. [NN2] am 20.06.2008 per E-Mail übermittelten Befundbericht führt die untersuchende Ärztin aus, dass die Ast. an einer Enuresis nocturna (Bettnässen) leidet. Wie weiters dem Befundbericht zu entnehmen ist, ist diese Krankheit in der gesamten Familie der Ast. verbreitet und somit ist die Ast. diesbezüglich offensichtlich auch erblich belastet."

 

7. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Schriftsatz fristgerecht Beschwerde beim Asylgerichtshof und brachte im Wesentlichen vor, dass die familiäre Bindung zum Bruder der Zweitbeschwerdeführerin nach Art. 8 EMRK durch die belangte Behörde nicht richtig gewürdigt worden sei.

 

Der Erstbeschwerdeführer leide seit Jahren an Magenbeschwerden sowie an einer chronischen Blasenentzündung. Die Zweitbeschwerdeführerin leide an einer chronischen Stirnhöhlen- und Kieferhöhlenentzündung; diese sei sehr schmerzhaft. Die ältesten der Kinder, die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin, seien durch die Flucht psychisch geschädigt und belastet; sie würden nachts einnässen.

 

Bei der Einvernahme sei es durch die Übersetzung bzw. Rückübersetzung zu einem Protokollierungsfehler gekommen. Weiters sei der dem Verfahren zugrundeliegende Sachverhalt von der belangten Behörde mangelhaft aufgenommen worden. In der Folge wird der behaupteten Sicherheitslage in Polen für Asylwerber widersprochen bzw. entspräche die Unterbringung sowie die rechtliche Möglichkeiten und Behandlung nicht den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerden wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Gemäß § 5 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008, (in der Folge: AsylG 2005) ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs.1 Z1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs.3 und Abs.4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin-Verordnung ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der ersten Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.2. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs.1 Dublin-Verordnung) Kriterien der Art. 6 bis Art. 12 bzw. Art. 14 und Art. 15 Dublin-Verordnung, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin-Verordnung zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit Polens für alle sechs Beschwerdeführer gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung besteht. Eine solche Zuständigkeit wurde von Polen auch ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

2.3. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

2.3.1. Es ist daher zu klären, ob bei der Überstellung der Beschwerdeführer eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte erfolgen kann. Dies ist im Fall des Erstbeschwerdeführers und der Drittbeschwerdeführerin nach der Aktenlagen jedoch nicht möglich.

 

Der den Bescheid der Drittbeschwerdeführerin stützende "Befundbericht" vom 19.06.2008 bescheinigt nicht eine solche Überstellungsmöglichkeit. Vielmehr wird empfehlend ausgeführt, dass für die Drittbeschwerdeführerin und ihre Familie ein "zur Ruhe kommen" von überaus großer Bedeutung sei, um die Turbulenzen der letzten Zeit zu verarbeiten und damit ein psychiatrisches Krankheitsbild abgewendet werden kann.

 

Auch widerspricht dieser Bericht dem bekämpften Bescheid (Seite 22) zur Drittbeschwerdeführerin, wo zu einem Telefonat der belangten Behörde vom 19.06.2008 mit der zuständigen klinischen Psychologin (im Bescheid ist von einer Ärztin die Rede) festgehalten ist, dass ein "Trauma" nicht bestehe. Im Befundbericht wird hingegen ausgeführt, dass generell "eine psychiatrische Komorbidität (Traumatisierung) vorhanden" sein könne.

 

Schließlich wird auf Seite 22 des bekämpften Bescheides zur Drittbeschwerdeführerin ausgeführt, dass aus dem Befundbericht zu entnehmen sei, dass Enuresis nocturna (Bettnässen) die gesamte Familie beträfe und somit die Drittbeschwerdeführerin offensichtlich erblich belastet sei. Diese Schlussfolgerung ist jedoch aktenwidrig, da sich dazu keinerlei fachliche Hinweise in den Unterlagen der belangten Behörde zu den sechs Beschwerdeführern zu finden sind.

 

Aus dem Befundbericht vom 19.06.2008 zur Drittbeschwerdeführer ist weiters ein Hinweis für ein mögliches Überstellungshindernis des Erstbeschwerdeführers zu finden. Demnach leidet auch dieser an Enuresis nocturna. Ein weiterer Anhaltspunkt dafür findet sich auch bei der Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers am 03.06.2008, wo auch das Einverständnis zur weiteren medizinischen Abklärung eingeholt wurde. Diesen Hinweisen wurde aber nicht weiter nachgegangen; eine entsprechende Abklärung hat offensichtlich nicht stattgefunden. Vor dem Hintergrund zum Befund der Viertbeschwerdeführerin kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch hier ein Zusammenhang mit einer möglichen Traumatisierung nicht ausgeschlossen werden.

 

Der erwähnte Befundbericht vom 19.06.2008 zur Drittbeschwerdeführerin ist ebenfalls nicht mängelfrei. Der Befund enthält keine ICD-10 Diagnose, keine Angaben zu den verwendeten psychologischen bzw. den psychodiagnostischen Verfahren, keine Angaben wann die Untersuchung stattgefunden hat bzw. und wie lange diese gedauert hat sowie wer noch anwesend war (Dolmetscher, Begleitpersonen), das Verhalten der Drittbeschwerdeführerin bei der Untersuchung (emotionale Verfassung, Kontaktverhalten) , genaueres Bild der Beschwerdeführer kann nicht erlangt werden. Der Befundbericht entspricht somit insgesamt nicht den fachspezifischen Regeln.

 

2.3.2. Die Bescheide des Erstbeschwerdeführers und der Drittbeschwerdeführerin waren daher gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 aufzuheben.

 

2.3.3. Das Bundesasylamt hat demnach auf der Basis eines fachlich einwandfreien medizinisch bzw. psychologischen Gutachtens abzuklären, ob durch die Überstellung des Erstbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführerin nach Polen eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte möglich ist. Dies ist allenfalls im Zusammenhalt mit einer möglichen Verletzung der Rechte nach Art. 8 EMRK (im Hinblick auf den Aufenthalt des Schwagers des Erstbeschwerdeführer bzw. Onkels der Drittbeschwerdeführerin) und somit insgesamt ein Selbsteintritt Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zwingend erforderlich ist.

 

Eine mögliche Ausweisung ist unter Beachtung des psychischen Krankheitszustandes, sowohl unter Gesichtspunkten des Art. 3 als auch Art. 8 EMRK nur zulässig, wenn eine Interessensabwägung zu Lasten der Beschwerdeführer ausfällt; dies auch unter Beachtung des Gebots der effektiven Vollziehung der Dublin-Verordnung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Dies hat auch die Europäische Kommission in ihrer jüngsten Evaluation die Bedeutung des Selbsteintrittsrechts zur Wahrung menschenrechtlicher Gesichtspunkte hervorgestrichen (06.06.2007, Seite 7 Mitte). Nach einer so erfolgten Feststellung des Eingriffs in von Art. 3 iVm Art. 8 EMRK geschützte Rechte der beiden Beschwerdeführer hat eine nachvollziehbare Abwägung mit den öffentlichen Interessen an der Effektuierung der Ausweisungsentscheidung neuerlich zu erfolgen.

 

2.4. Die Zweitbeschwerdeführerin ist die Ehegattin des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Drittbeschwerdeführerin. Die Viert- bis Sechstbeschwerdeführerinnen sind Töchter bzw. Schwestern des Erstbeschwerdeführers bzw. der Drittbeschwerdeführerin. Sie sind somit Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Die Asylanträge der Zweitbeschwerdeführerin sowie der Viert- bis Sechstbeschwerdeführerinnen gelten daher gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 als Anträge auf Gewährung desselben Schutzes wie jener ihrer Familienangehörigen.

 

Den Beschwerden des Erstbeschwerdeführers und der Drittbeschwerdeführerin wurde gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 stattgegeben und die bekämpften Bescheide behoben. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Vorgängerbestimmung des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 (§ 10 Abs. 5 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003) bedeutet dies, dass in dem Fall, wenn der Bescheid auch nur eines Familienangehörigen behoben und die Angelegenheit zur Durchführung des materiellen Verfahrens an das Bundesasylamt zurückverwiesen wurde, dies auch für die Verfahren aller anderen Familienangehörigen gilt (vgl. VwGH vom 18.10.2005, Zl. 2005/01/0402).

 

2.5. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.

Schlagworte
Familienverfahren, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
16.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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