TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/19 S2 401420-1/2008

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Veröffentlicht am 19.09.2008
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Spruch

S2 401.420-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Schnizer- Blaschka als Einzelrichterin über die Beschwerde der I.R., geb. 00.00.1977, StA: Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.08.2008, Zahl 08 02.602-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5 Abs. 1 iVm 10 Abs. 1 Z 1 und 10 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 4/2008 als unbegründet abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. 1. Die Beschwerdeführerin, Staatsangehörige der Russischen Föderation, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in Begleitung ihrer drei minderjährigen Kinder in das österreichische Bundesgebiet und stellte für sich und ihre drei minderjährigen Kinder am 17.03.2008 bei der Erstaufnahmestelle Ost einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Hinsichtlich der Beschwerdeführerin scheint ein EURODAC-Treffer für Polen auf (12.12.2007, Lublin; AS 7).

 

Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.03.2008 gab sie an, sie hätte am 09.12.2007 gemeinsam mit ihren drei minderjährigen Kindern ihre Heimat mit der Bahn in Richtung Brest verlassen. Anschließend seien sie nach Terespol gefahren und an der Grenze kontrolliert worden. Gemeinsam mit ihren Kindern hätte sie dort einen Asylantrag gestellt, obwohl ihr Reiseziel von Anfang an Österreich gewesen sei, da ihr Ehegatte schon vor ihr hier einen Asylantrag gestellt hätte. ^

 

Sie seien circa drei Wochen im Lager Dembak untergebracht gewesen und danach in das Lager Moshny verlegt worden. In Moshny habe sie Kontakt zu einem Schlepper hergestellt. Am 16.03.2008 sei sie mit den Kindern mit einem Bus und einem Zug zum Bahnhof nach Warschau gefahren, wo sie der Schlepper erwartet habe und dieser sie mit circa 15 weiteren Tschetschenen in einem Kleinbus nach Österreich gebracht habe.

 

Befragt zu dem Aufenthalt in Polen gab die Beschwerdeführerin an, dass unbekannte, maskierte und bewaffnete Männer ins Flüchtlingslager gekommen seien und die Menschen eingeschüchtert hätten. Sie würde außerdem nicht nach Polen zurück wollen, da sie gemeinsam mit ihrem Ehegatten leben wolle. Ferner gab sie an, dass ihre Angaben auch für die mitgereisten minderjährigen Kinder gälten. Auf die Frage nach Verwandten bzw. Personen mit familienähnlicher Beziehung in Österreich bzw. im EU-Raum gab die Beschwerdeführerin ihren Ehegatten an (AS 13ff).

 

Das Bundesasylamt richtete am 18.03.2008 ein Wiederaufnahmeersuchen an Polen (AS 45f). Mit Schreiben vom 19.03.2008 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen und dass seit 18.03.2008 Konsultationen mit Polen geführt würden (AS 55f). Mit Schreiben vom 20.03.2008, eingelangt am 25.03.2008, stimmte Polen dem Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO ausdrücklich zu (AS 71).

 

Eine gutachtliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren, die von Dr. I.H., Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, nach einer Untersuchung der Beschwerdeführerin am 14.04.2008 vorgenommen wurde, ergibt, dass einer Überstellung der Beschwerdeführerin nach Polen keine schwere psychische Störung entgegenstünde, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus ärztlicher Sicht bewirken würde (AS 77f).

 

Im Verlauf einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 17.04.2008 (AS 83 ff) machte die Beschwerdeführerin ergänzend zusammengefasst folgende Angaben: Befragt nach dem Gesundheitszustand der Kinder, gab sie an, dass der Sohn H. eine Allergie habe und ambulant untersucht worden wäre. Die dazugehörigen Befunde lägen dem Akt bei.

 

Befragt zu den von Dr.med. H. getroffenen Feststellungen, antwortete sie, sie hätte große Angst und würde auf keinen Fall nach Polen zurück wollen. Polen sei für ihren Gatten viel zu gefährlich und sie würde nicht von ihm getrennt werden wollen. In Polen seien Ende Februar uniformierte, maskierte Männer in das Nebenzimmer gestürmt und hätten dort ein Kind verletzt. Dieses Kind sei dann ins Krankenhaus gebracht worden.

 

Über Nachfrage gab sie an, nicht gesehen zu haben wie das Kind verletzt worden sei, jedoch habe sie gehört, dass das Kind von den maskierten Männern an die Wand gedrückt und dabei verletzt worden sei. Die Beschwerdeführerin hätte außerdem gehört, dass sie dieses Kind in zwei Krankenhäusern nicht verarzten hätten wollen.

 

Über Nachfrage, aus welchen Grund es für den Gatten in Polen gefährlich wäre, antwortete sie, dass das eben Angegebene der Grund wäre. Auf die Frage, warum der Ehegatte von solchen Vorfällen betroffen sei, gab die Beschwerdeführerin an: "Ich weiß nicht, ob es nicht bewaffnete Tschetschenen waren. Nachdem sie weggegangen waren, haben wir nur fürchterliches Schreien gehört. Alle sind hingerannt. Wir haben nur das blutüberströmte Mädchen gesehen. Die Mutter hat erzählt, dass es von einem Maskierten gegen die Wand gestoßen worden wäre."

 

Befragt, warum sie nicht die Polizei informiert hätte, gab sie an, nicht genau gewusst zu haben, wer diese Männer waren.

 

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Asylantrages gemäß Art. 16 (1) lit. c der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: "Dublin II-VO"), Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen, und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen zulässig sei.

 

Begründend wurde hervorgehoben, dass im Verfahren kein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen besonderer, bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen lassen, hervorgekommen sei. Eine konkrete Schutzunwilligkeit oder - unfähigkeit des polnischen Staates habe sich in diesem Einzelfall nicht ergeben. Die Regelvermutung des § 5 Abs 3 AsylG treffe daher zu. Es hätten sich keine medizinischen Indikationen ergeben, welche aus rechtlicher Sicht im Hinblick auf Art 3 EMRK einer Überstellung nach Polen entgegenstehen würden. Zu verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten führte die Erstbehörde aus, dass ein Familienverfahren vorliege und die Kernfamilie der Beschwerdeführerin eine gleich lautende Entscheidung erhalten würde. Somit bestehe kein Familienbezug zu einer anderen in Österreich zum Aufenthalt berechtigten Person und stelle die Ausweisung daher keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

 

Der Bescheid enthält eine ausführliche Darstellung zur Lage in Polen, zum polnischen Asylverfahren, zur Versorgung von Asylwerbern einschließlich der Behandlungsmöglichkeiten traumatisierter Asylwerber, zu staatlichen Leistungen für Fremde mit (bloß) toleriertem Aufenthalt sowie insbesondere auch die Ausführung, wonach tschetschenischen Asylwerbers idR zumindest subsidiärer Schutz gewährt werde.

 

3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht vom Ehegatten der Beschwerdeführerin, dieser vertreten durch Michael Genner, Asyl in Not, Beschwerde erhoben, die samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt am 10.09.2008 beim Asylgerichtshof einlangte. Darin wird im Wesentlichen der Sache nach vorgebracht, dass sich die belangte Behörde über die familiäre Bindung an den Cousin des Ehegatten hinweggesetzt hätte, sowie auch über die psychische Krankheit des Sohnes H., sowie über die Bedrohung des Ehegatten durch die Wahabiten in Polen. Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass Dr. H. zum Sohn H. festgehalten hätte, dass ein psychogener Anfall bei Belastungen nicht ausgeschlossen werden könne. Dazu wurde vorgebracht, dass, sollte das Kind im Zuge der Abschiebung bewusstlos werden oder in Atemnot geraten, ein Verstoß gegen Art 3 EMRK nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Die Abschiebung sei daher unzulässig.

 

Ferner wurde vorgebracht, dass das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 12.02.1987 eine Wahlfreiheit der Asylwerber hinsichtlich des Asyllandes in der Europäischen Gemeinschaft fordern würde und dass die Asylbehörden gut beraten wären, sich danach zu richten.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Die Beschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihren drei minderjährigen Kindern aus K. kommend mit dem Zug über Moskau nach Brest und von dort nach Terespol und stellte am 12.12.2007 in Lublin erstmals einen Asylantrag. Sie wartete das Verfahren dort jedoch nicht ab, sondern reiste illegal mit den Kindern in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 17.03.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin befand sich bereits im Bundesgebiet. Der Ehegatte, sowie die drei gemeinsamen minderjährigen Kinder stellten ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Ein sie betreffendes Asylverfahren ist in Polen anhängig.

 

2. Die Feststellungen zum Reiseweg der Beschwerdeführerin, zu ihrer Asylantragstellung in Polen und ihre persönlichen Verhältnissen ergeben sich aus dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin iZm der damit im Einklang stehenden Aktenlage.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Mit 01.01.2006 ist das AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, in Kraft getreten und ist auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge idgF anzuwenden.

 

Im gegenständlichen Fall wurde der Antrag auf internationalen Schutz im März 2008 gestellt, weshalb § 5 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 zur Anwendung gelangt.

 

3.2. Zur Frage der Zuständigkeit eines anderen Staates (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

 

a) Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 2 AsylG ist auch nach Abs. 1 vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Dublin II-VO sieht in den Art. 6 bis 14 des Kapitels III Zuständigkeitskriterien vor, die gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO in der im Kapitel III genannten Reihenfolge Anwendung finden. Gemäß Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO wird bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.

 

In Art. 16 sieht die Dublin II-VO in den hier relevanten Bestimmungen Folgendes vor:

 

"Art. 16 (1) Der Mitgliedstaat der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:

 

(...)

 

c) einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

 

(...)

 

(3) Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels."

 

Unter Zugrundelegung des festgestellten Sachverhaltes, wonach die Beschwerdeführerin zunächst in Polen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, sowie sich vor Abschluss dieses Verfahrens nach Österreich begeben, das sie seither nicht verlassen hat, und sie auch keine "Familienangehörigen" (iSd Art 7 iVm Art 2 lit i Dublin II-VO) in Österreich hat, kommt nach der Rangfolge der Kriterien der Dublin II-VO deren Art 16 Abs. 1 lit. c (iVm Art 13) als zuständigkeitsbegründende Norm in Betracht. Polen hat auch auf Grundlage dieser Bestimmung seine Zuständigkeit bejaht und sich zur Übernahme der Beschwerdeführerin und Behandlung ihres Antrages bereit erklärt.

 

Zu der in der Beschwerde angeführten Argumentation zur Freiheit der Asylwerber, sich einen Mitgliedstaat selbst frei auswählen zu können, ist auf den Hauptzweck der Dublin II -VO zu verweisen, nämlich eine im Allgemeinen von individuellen Wünschen der Asylwerber losgelöste Zuständigkeitsregelung zu treffen.

 

Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

b) Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs 2 Dublin II-VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II-VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin II-VO).

 

Des Weiteren hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile"- Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen. Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO², K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären. Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

aa) Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK: Es leben (mit Ausnahme des Ehegatten und der mitgereisten minderjährigen Kinder, deren Asylverfahren unter einem geführt werden) keine Familienangehörigen der Beschwerdeführerin in Österreich, zu denen sie einen engen Familienbezug hätte. Zu dem als Flüchtling anerkannten Cousin des Ehegatten der Beschwerdeführerin brachte die Beschwerdeführerin nichts vor. Selbst der Ehegatte verneinte ein besonderes Nahe - oder Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Cousin. Es liegen auch sonst keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer vor (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl 1802, 1803/06-11). Dies wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet.

 

bb) Mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK: Im Hinblick auf die Beschwerdeführerin wurde eine mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK nicht vorgebracht. Vom geschilderten Übergriff im polnischen Flüchtlingslager war die Beschwerdeführerin selbst bzw. ihre Familie nicht betroffen und sie kennt auch die Hintergründe nicht. Die Beschwerdeführerin konnte daher auf sich selbst bezogen keine besonderen Gründe, die für eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK in Polen sprächen, glaubhaft machen, weshalb die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005, wonach ein Asylwerber in einem "Dublinstaat" Schutz vor Verfolgung findet, greift.

 

Zusammengefasst stellt daher eine strikte Wahrnehmung der Unzuständigkeit Österreichs und die damit verbundene Überstellung der Beschwerdeführerin nach Polen keinesfalls ein "real risk" einer Verletzung des Art. 3 EMRK oder des Art. 8 EMRK und somit auch keinen Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO dar.

 

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. war daher abzuweisen.

 

3.3. Zur Ausweisung der Beschwerdeführerin nach Polen (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Zu diesem Spruchpunkt sind im Beschwerdefall keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich, zumal weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist, noch die Beschwerdeführerin in Österreich über - die erwähnten Familienmitglieder hinausgehende - Verwandte verfügt, zu denen sie einen engen Familienbezug hätte. Zu dem in Österreich als Flüchtling anerkannten Cousin des Ehegatten der Beschwerdeführerin ist nochmals darauf zu verweisen, dass ein besonderes Nahe - oder Abhängigkeitsverhältnis nicht einmal vorgebracht wurde. Das wurde bereits von der Erstbehörde bei den anderen Familienmitgliedern der Kernfamilie richtig erkannt und ist daher der Beschwerdepunkt, die Erstbehörde hätte sich über die familiäre Bindung zu dem Cousin des Vaters hinweggesetzt, nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG zu sehen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

 

3.4. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, Familienverfahren, real risk
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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