TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/25 D6 307391-3/2008

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Veröffentlicht am 25.09.2008
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Spruch

D6 307391-3/2008/8E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Chvosta als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Amann als Beisitzerin über die Beschwerde des D. S., geb. 00.00.1970, StA. der Russischen Föderation , gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.2.2007, FZ. 06 10.638-BAG, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und D. S. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass D. S. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Sohn, den Beschwerdeführern zu D6 307393-3/2008 sowie D6 307394-3/2008, am 6.10.2006 in das Bundesgebiet illegal ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

1. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.10.2006 wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr.100 (im Folgenden: AsylG), als unzulässig zurückgewiesen und für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Polen für zuständig erklärt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

 

Der dagegen erhobenen Berufung vom 7.11.2006 gab der unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheid vom 29.11.2006 gemäß § 41 Abs. 3 AsylG statt, behob den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit zur Durchführung des materiellen Verfahrens an das Bundesasylamt zurück.

 

2. Der Beschwerdeführer wurde vom Bundesasylamt am 18.10.2006 und am 13.2.2007 niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe brachte er vor, im Jänner 1995 aufgrund des ersten Tschetschenien-Krieges von sibirischen Sondereinheiten verschleppt und nach 3 Tagen mit dem Hubschrauber nach M. in Ossetien zum FSB gebracht worden zu sein. Sein Vater habe damals Leute versammelt, die sich an die damalige tschetschenische Regierung gewandt hätten, um zu beweisen, dass der Beschwerdeführer an den Kämpfen nicht teilgenommen habe. Nach 15 oder 16 Tagen sei er frei gelassen worden. Nur wenige seien aus dem Filtrationslager freigelassen worden. Grund für die Festnahme im Jahr 1995 sei eine Falschaussage gewesen. Der erste Bruder des Beschwerdeführers sei 1995 im ersten Krieg im Zuge von Kampfhandlungen in Grozny getötet worden; sein zweiter Bruder sei im Juni 2000 von der OMON von zu Hause mitgenommen und seine Leiche wieder zurück gebracht worden. Im Sommer 2001 sei seine Wohnung gestürmt worden, während er - seinen Aufenthalt permanent wechselnd - sich zu diesem Zeitpunkt in S. aufgehalten und dort übernachtet habe. Aus Erzählungen seiner Ehefrau wisse er, dass ca. 20 bis 30 teils maskierte Männer die Wohnung durchsucht hätten. Da die russischen Sondereinheiten durch die Fenster und durch die Türen hereingekommen seien, sei auch sein Sohn, der damals auf der Couch neben dem Fenster gelegen habe, durch die Fensterscheibe, die auf ihn gefallen war, verletzt worden. Sein Sohn habe tiefe Schnittverletzungen an der Nase, an den Händen, am Oberkörper und am linken Bein davon getragen. Schon seit seiner Gefangenschaft in M., vor allem aber mit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges habe er sich versteckt. Nach seiner Ausreise sei einer seiner noch in Tschetschenien lebenden Brüder mitgenommen und nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers befragt worden.

 

3. Mit Bescheid vom 22.2.2007 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ab und erkannte dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu. Ferner wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In seiner Begründung stellte das Bundesasylamt die Identität und Nationalität des Beschwerdeführers fest und traf umfangreiche Feststellungen zur Lage in Tschetschenien sowie über Möglichkeiten einer Niederlassung außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Das Bundesasylamt stellte fest, dass der Beschwerdeführer Tschetschenien wegen des Bürgerkrieges bzw. wegen der "mit diesem Bürgerkrieg im direkten Zusammenhang stehenden Folgen", verlassen habe. Nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht verlassen habe. Die behaupteten Fluchtgründe seien nicht glaubhaft. Die Angaben des Beschwerdeführers seien vage und allgemein gehalten gewesen; auch das Erlangen eines Inlandspasses kurz vor der Ausreise sei Hinweis für das Fehlen einer Verfolgungsabsicht sowie einer Verfolgungsfurcht. Die Aussagen stünden im Widerspruch mit den Angaben der Ehefrau, die hinsichtlich der Stürmung der Wohnung im Jahr 2006 nur von 6 bis 7 gänzlich maskierten Personen, die kurz nach Mitternacht gekommen seien, gesprochen habe. Nicht plausibel sei ferner die Darlegung des Beschwerdeführers, weshalb er wegen des Ereignisses im Jahr 2001 erst im August 2006 geflüchtet sei. Rechtlich folgerte das Bundesasylamt daraus, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention drohe; mangels einer landesweiten allgemeinen, extremen Gefährdungslage in der Russischen Föderation komme auch die Gewährung subsidiären Schutzes nicht in Betracht. Abschließend begründete das Bundesasylamt seine Ausweisungsentscheidung.

 

4. Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 8.3.2007 Berufung. Die Annahme der belangen Behörde hinsichtlich seiner Angaben zum Vorfall im Jahr 2001 seien aktenwidrig, da er - wie in seiner Einvernahme ausdrücklich angegeben - selbst gar nicht anwesend gewesen und somit auf die Schilderungen seiner Ehefrau angewiesen sei. Sie habe ihm erzählt, es sei "mitten in der Nacht" und nicht um Mitternacht gewesen; auch das Haus sei voll mit diesen Leuten gewesen, weshalb der Beschwerdeführer bei seiner Aussage die Zahl geschätzt habe. Was den Zeitraum zwischen 2001 und 2006 anbelangt, wiederholt der Beschwerdeführer seine Behauptung, seit Beginn des zweiten Krieges versteckt gelebt zu haben, nämlich insbesondere nach der Stürmung seiner Wohnung erst recht untergetaucht zu sein und sich bei Freunden an verschiedenen Orten in Tschetschenien versteckt zu haben. Zum Beweis seiner Inhaftierung im Jahr 1995 legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung der "Gesellschaft der Insassen von Konzentrationslagern (Filtrationslagern) der Tschetschenischen Republik" vor, dessen Obmann als Zeuge beantragt wird.

 

Mit Bescheid vom 22.3.2007 gab der unabhängige Bundesasylsenat der Berufung des Beschwerdeführers statt, behob den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück. In seiner Begründung verwies der Bundesasylsenat auf Ermittlungsergebnisse aus "einer Vielzahl gleichartiger Verfahren", die trotz Kenntnis des Bundesasylamtes im angefochtenen Bescheid nicht berücksichtigt worden seien.

 

5. In Folge einer Amtsbeschwerde des Bundesministers für Inneres hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 26.6.2008 den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates mit der Begründung auf, dass die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen, auf die sich der unabhängige Bundesasylsenat in seinem Bescheid mit dem Hinweis auf bestimmte "Ermittlungsergebnisse" bezog, nach der verwaltungsgerichtlichen Judikatur nicht nachvollziehbar und widersprüchlich seien.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird als maßgeblich festgestellt:

 

1.1 Zur Situation in Tschetschenien und in der Russischen Föderation:

 

Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid zur allgemeinen Sicherheitslage in Tschetschenien sowie zur Frage der Niederlassungsmöglichkeiten für Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation Länderfeststellungen getroffen. Da sich diese Länderfeststellungen auf verschiedene Länderberichte unterschiedlichster Quellen stützen, schließt sich der erkennende Senat diesen Feststellungen - da die im vorliegenden Fall maßgeblichen Sachverhaltselemente nichts an Aktualität verloren haben - an.

 

1.2 Zur Person des Beschwerdeführer:

 

Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Sein erster Bruder wurde im Laufe des ersten Tschetschenien-Krieges in Grozny 1995 getötet. Sein zweiter Bruder starb im Juni 2000, nachdem er von Angehörigen der OMON festgenommen war. Der Beschwerdeführer selbst wurde im Jänner 1995 von sibirischen Sondereinheiten festgenommen und nach M. in Ossetien gebracht. Er befand sich von 16.1.1995 bis 2.2.1995 in einem dort eingerichteten Lager. Seit seiner Freilassung, vor allem aber ab Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges wechselte der Beschwerdeführer regelmäßig seinen Aufenthalt. Im Sommer 2001 wurde in seiner Abwesenheit seine Wohnung in S. von russischen Soldaten, die nach ihm suchten, gestürmt. Die Männer drangen sowohl über die Tür als auch über die Fenster in die Wohnung ein. Dabei fiel Fensterglas auf den Sohn des Beschwerdeführers, der zu diesem Zeitpunkt auf der Couch neben dem Fenster gelegen hatte. Er erlitt tiefe Schnittverletzungen am Kopf und im Gesicht sowie an den Händen, am Oberkörper und am linken Bein. Seit diesem Ereignis lebte der Beschwerdeführer untergetaucht in Tschetschenien. Im Sommer 2006 ließ sich der Beschwerdeführer über einen Mittelsmann einen Reisepass besorgen und verließ Ende August 2006 gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Sohn Tschetschenien.

 

2. Diese Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung:

 

Hinsichtlich der Nationalität und Identität schloss sich der erkennende Senat den Feststellungen der belangten Behörde an; auch aus dem Verwaltungsakt ergaben sich diesbezüglich keine Zweifel. Was die Verschleppung des Beschwerdeführers 1995 anbelangt, so erschienen die Angaben des Beschwerdeführers nach Ansicht des erkennenden Senates durchaus konkret und vor dem Hintergrund, dass der erste Bruder des Beschwerdeführers am ersten Tschetschenien-Krieg teilgenommen hatte, auch plausibel. Die Aussage des Beschwerdeführers in Verbindung mit den von ihm in seiner Beschwerde vorgelegten Bestätigungsschreiben der "Gesellschaft der Insassen von Konzentrationslagern (Filtrationslagern) der Tschetschenischen Republik" ließ den erkennenden Senat von der Glaubwürdigkeit der Behauptungen ausgehen.

 

Die Feststellungen über die Stürmung der Wohnung des Beschwerdeführers im Jahr 2001 gründen auf der Überlegung, dass - worauf in der Beschwerde zu Recht hingewiesen wird - der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vom 13.2.2007 betont hatte, im Zeitpunkt dieses Vorfalles nicht zuhause gewesen zu sein und sich bei der Wiedergabe des Geschehens auf die Erzählungen seiner Frau zu stützen (S 221 des Verwaltungsaktes). Wenn die belangte Behörde in ihrer Beweiswürdigung Divergenzen in den Schilderungen des Beschwerdeführers und jenen seiner Ehefrau aufzeigt, ist daraus folglich nichts zugunsten der Unglaubwürdigkeit der Angaben zu gewinnen, zumal die Unterschiede nicht in eklatantem Widerspruch zueinander stehen. Der erkennende Senat gelangt vielmehr zur gegenteiligen Auffassung, da beim Sohn des Beschwerdeführers tatsächlich Verletzungen der behaupteten Art festgestellt wurden, die von der behaupteten Stürmung der Wohnung stammen können (vgl. S 59 des Verwaltungsaktes zu D6 307394-3/2008). Damit aber kann ohne weitere Indizien, die nicht hervorgekommen sind, nicht vertreten werden, dass der Vorfall im Jahr 2001 nicht geschehen sei.

 

Die belangte Behörde hat gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben das Erlangen des Inlandspasses nur kurz vor der Ausreise ins Treffen geführt. Bedenkt man die schlüssigen und plausiblen Darlegungen des Beschwerdeführer in seiner Einvernahme, wonach er den Inlandspass illegal über einen Mittelsmann gegen Entgelt besorgen ließ, dann lässt sich daraus weder das Fehlen einer Verfolgungsabsicht noch einer Verfolgungsangst ableiten. Dass der Beschwerdeführer erst im Sommer 2006 und nicht schon früher Tschetschenien verlassen hat, ist bereits vom Beschwerdeführer in seiner Einvernahme nachvollziehbar begründet worden und widerspricht auch nicht der Annahme einer Verfolgungsgefahr, wenn man von der Glaubwürdigkeit der Aussagen hinsichtlich der Verschleppung im Jahr 1995 ausgeht und den relativ langen Zeitraum zwischen diesen Ereignissen und zum Vorfall im Jahr 2001 mit der gezielten Aktion gegen die Person des Beschwerdeführers bedenkt.

 

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Aktenlage kein Anhaltspunkt für einen Widerspruch, der die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers in Frage zu stellen geeignet ist.

 

3. Rechtlich folgt daraus:

 

3.1 Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - Unabhängiger BundesasylsenatG, BGBl. I 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG und dem VwGG nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom zuständigen Senat des Asylgerichtshofes weiterzuführen.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG ist das AsylG 2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten; es ist gemäß § 75 Abs. 1 AsylG auf alle Verfahren anzuwenden, die am 31.12.2005 noch nicht anhängig waren. Dies ist im vorliegenden Verfahren der Fall, da die Beschwerdeführerin den Antrag auf internationalen Schutz am 5.6.2006 gestellt hat.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

3.2 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [Statusrichtlinie] verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

 

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

 

3.3 Dem Beschwerdeführer ist es gelungen, (drohende) Verfolgung glaubhaft zu machen. Ein Bruder ist im ersten Tschetschenien-Krieg im Zuge von Kampfhandlungen getötet worden. Der Beschwerdeführer selbst wurde in ein ossetisches Filtrationslager verbracht und erst nach einiger Zeit wieder frei gelassen. Anhand der festgestellten "Säuberungsaktion" im Jahr 2001 zeigt sich, dass der Beschwerdeführer bei den russischen Sicherheitskräften nicht in Vergessenheit geraten war. Angesichts der Verschleppung und Tötung des zweiten Bruders kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer nicht der Begehung "terroristischer Taten" verdächtigt wird. Gemäß den vom erkennenden Senat übernommenen Länderfeststellungen der belangten Behörde haben sich die flächendeckenden "Säuberungsaktionen" föderaler bzw. lokaler Sicherheitskräfte in bestimmten Regionen Tschetscheniens zwar erheblich verringert, die weiterhin unternommenen Einzelaktionen richten sich aber vor allem gegen solche Personen, denen separatistische bzw. terroristische Aktivitäten zuzurechnen sind oder zumindest unterstellt werden. Deshalb ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Behörden dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr besondere Aufmerksamkeit widmen würden. Die (befürchtete) Verfolgung knüpft an die (unterstellte) politische Gesinnung des Verfolgten an. Eingedenk der von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen über Restriktionen beim Zuzug tschetschenischer Personen innerhalb des russischen Gebietes außerhalb Tschetscheniens kann im vorliegenden Fall auch nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation niederlassen, und sich eine Existenzgrundlage schaffen kann. Die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist somit im gegenständlichen Verfahren nicht in Betracht zu ziehen (vgl. zB UBAS 4.10.2007, 261.859/0/5E-IX/49/05; 18.12.2007, 303.492-C1/16E-XIX/62/06).

 

Im vorliegenden Fall ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes ihres Herkunftsstaates zu bedienen. Da im Verfahren überdies weder Ausschluss- noch Endigungsgründe iSd Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK hervorgekommen sind, war spruchgemäß zu entscheiden.

 

3. Gemäß § 41 Abs. 7 AsylG hat der Asylgerichtshof § 67d AVG mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur außer Kraft getretenen Regelung des Art. II Abs. 2 lit. D Z 43a EGVG war der Sachverhalt der Sachverhalt nicht als geklärt anzusehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (VwGH 2.3.2006, 2003/20/0317 mit Hinweisen auf VwGH 23.1.2003, 2002/20/0533; 12.6.2003, 2002/20/0336). Gemäß dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes konnte im vorliegenden Fall die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Asylgerichtshof unterbleiben, da der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen war.

Schlagworte
Bürgerkrieg, ethnische Verfolgung, Familienverband, gesamte Staatsgebiet, Haft, Kriegsverbrechen, politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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