TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/26 D2 304956-1/2008

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Veröffentlicht am 26.09.2008
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Spruch

D2 304956-1/2008/4E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Feßl als Vorsitzenden und den Richter Mag. Stracker als Beisitzer über die Beschwerde des M.A., geb. 00.00.1969, StA. d. Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2006, FZ. 05 12.411-BAI, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Der Beschwerdeführer ist nach eigenen Angaben schlepperunterstützt am 12.08.2005 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte am 13.08.2005 einen Antrag auf die Gewährung von Asyl. Am 17.08.2008, 29.08.2005 - und nach erfolgter Zulassung zum Verfahren - am 21.08.2006 wurde er durch einen Organwalter des Bundesasylamtes, zu seinem Fluchtweg und den Fluchtgründen niederschriftlich befragt. Kurz zusammengefasst gab er an, dass er sich seit 2000 nicht mehr zuhause, sondern in Dagestan und Inguschetien aufgehalten habe. Dagestan habe er dann am 29.10.2004 - mit gefälschten Dokumenten - in Richtung Polen verlassen, wo er am 02.11.2004 in Terespol eingetroffen sei. Der Grund für seine Ausreise sei der Krieg gewesen. Im ersten Tschetschenienkrieg hätten alle und auch er gekämpft. Sein Name sei auf einer Fahndungsliste gestanden. Probleme habe er bekommen, weil sein Cousin gesucht worden sei. Ein Bekannter, der bei der Polizei arbeiten würde, habe ihm gesagt, dass sein Familienname auf der Fahndungsliste stehen und dass er Probleme bekommen würde, wenn er die Heimat nicht verlassen würde. Sein Cousin namens M.As. sei ein Widerstandskämpfer gewesen und er habe den Namen "Mu.A." auf der Fahndungsliste gelesen. Deshalb sei er gemeinsam mit seiner Familie 2000 nach Inguschetien geflüchtet. Dort hätten sie ca. ein Jahr in einem Flüchtlingslager und danach bis zur Ausreise illegal in Dagestan bei seiner Stiefschwester gelebt. In Inguschetien und in Dagestan habe er keine Probleme mit der Polizei gehabt, weil er den Kontakt zur Polizei vermieden habe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, dass er Probleme bekommen würde, weil er schon seit sechs Jahren nicht mehr in der Heimat gewesen sei. Ob sein Name noch auf der Fahnungsliste stehen würde oder nicht, wisse er nicht.

 

2. Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit dem angefochtenen Bescheid vom 23.08.2006 in Spruchteil I unter Berufung auf § 7 AsylG 1997 ab; in Spruchteil II stellte es fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 zulässig ist; unter einem wurde der Beschwerdeführer in Spruchteil III des Bescheides unter Berufung auf § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

Gegen diesen am 28.08.2006 zugestellten Bescheid brachte der Vertreter des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 31.08.2006 fristgerecht eine Berufung ein, die nunmehr gemäß § 23 AsylGHG als Beschwerde gilt. In der Begründung wird unter Zitierung zahlreicher Berichte im Wesentlichen auf die in einzelnen Landesteilen Tschetscheniens fortdauernde Bürgerkriegssituation und die Korruption verwiesen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Gemäß § 61 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge: AsylG) entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 (in der Folge: AsylG 1997) zu Ende zu führen, wobei die Übergangsbestimmung des § 44 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 i.d.F. BGBl. I Nr.101/2003 gilt. Danach werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die bis zum 30.04.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 i.d.F. des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 126/2002 geführt. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung sind die §§ 8, 15, 22, 23 Abs. 3, 5 und 6, 36, 40 und 40a i. d.F. BGBl. I Nr. 101/2003 auch auf Verfahren gemäß Abs. 1 anzuwenden. Gemäß der Übergangsbestimmung des § 44 Abs. 2 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 i.d.F. BGBl. I Nr. 101/2003, werden Asylanträge, die ab dem 01.05.2004 gestellt werden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 in der jeweils geltenden Fassung geführt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG sind am 1. Juli 2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:

 

Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängige Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, die von nicht zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannten Mitgliedern des Unabhängigen Bundesasylsenates geführt wurden, sind nach Maßgabe der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes vom zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen. Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, "wenn hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist."

 

Auch die zweite Instanz in Asylsachen ist zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (vgl. dazu VwGH 21.09.2004, Zl. 2001/01/0348; VwGH 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315; VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084). Eine kassatorische Entscheidung darf von der Berufungsbehörde nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als "unvermeidlich erscheint". Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa VwGH 14.03.2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG siehe VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084). Sinngemäß müssen diese Ausführungen auch für den nunmehrigen Asylgerichtshof gelten, der gemäß

 

§ 23 AsylGHG grundsätzlich ebenfalls das AVG und damit auch § 66 Abs. 2 AVG anzuwenden hat.

 

2. Im gegenständlichen Fall ist der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes und das diesem zugrunde liegende Verfahren aus folgenden Gründen mangelhaft:

 

Im hier zu beurteilenden Fall ist zunächst festzuhalten, dass das Bundesasylamt zu den Behauptungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Geschehnisse in der Russischen Föderation keine ausdrücklichen Sachverhaltsfeststellungen getroffen, sondern lediglich festgehalten hat, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, Tschetschenien im Jahre 2000 aufgrund der allgemeinen Situation und aufgrund der Tatsache, dass sein Familienname auf einer Fahndungsliste gestanden sei, weil sein Cousin ein Widerstandskämpfer sei, verlassen habe. Weiters stehe fest, dass der Antragsteller aus keinem den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt werde. Die beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesasylamtes beschränken sich diesbezüglich darauf festzuhalten, dass das Vorbringen des Antragstellers glaubwürdig sei, dass er in seiner Heimat von staatlicher Seite aus keinem den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt wurde, er weder vorbestraft sei noch einer politischen Partei angehören würde. Glaubhaft, da plausibel und nachvollziehbar seien auch die Angaben des Antragstellers, dass der Name M. A. auf einer Fahndungsliste vermerkt sei. Ebenso wie die gemachten Angaben, dass der Cousin des Antragstellers Widerstandkämpfer sei und von den Behörden gesucht werde. Weiters geglaubt werde, dass der Antragsteller von den russischen Behörden nie angezeigt oder von einem Gericht verurteilt worden wäre und dass nie jemand an ihn herangetreten bzw. er nie bedroht worden sei. Im angefochtenen Bescheid finden sich hingegen nicht einmal ansatzweise Überlegungen dahingehend, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers (ganz oder teilweise) als nicht den Tatsachen entsprechend anzusehen sei. Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass das Bundesasylamt das Sachvorbringen des Beschwerdeführers - sei es auch nur in Form einer Wahrunterstellung - der Entscheidung zu Grunde gelegt hat (vgl. dazu etwa VwGH 29.08.2006, Zl. 2006/19/0293, VwGH 04.11.2004, Zl. 2003/20/0276), sodass sich die als Feststellungen bezeichnete Begründungsteile als teilweise unrichtige und verkürzte Wiedergabe des Vorbringens darstellen.

 

Werden solcherart die Angaben des Beschwerdeführers der Entscheidung zu Grunde gelegt, so hätte das Bundesasylamt zu berücksichtigen gehabt, dass dieser eine ihm individuell drohende Verfolgungsgefahr deshalb behauptet, weil er selbst am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen hat und weil sein Cousin ein Widerstandskämpfer ist, was bereits dazu geführt hat, dass sein Name - wenngleich auch nur der Familienname und der erste Buchstabe des Vornamens - auf einer Fahndungsliste aufscheinen, wobei möglicherweise der Cousin mit demselben Familiennamen und dem ebenfalls mit dem Buchstaben "A" beginnenden Vornamen gemeint ist. Dieses Vorbringen kann nicht ohne Weiters dahingehend zusammengefasst werden, dass behördliche Ermittlungen wegen strafbarer Verhaltensweisen nicht als Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes qualifiziert werden können und daher auch keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen würde, weil es sich hierbei um Schritte zur Aufklärung eines allgemein strafbaren Deliktes handeln würde. Legt man daher das Sachvorbringen des Beschwerdeführers der Entscheidung zu Grunde, so ist der rechtlichen Beurteilung des Bundesasylamtes, wonach der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen eine [ihm am Herkunftsort] drohende Verfolgung im Sinne der GKF nicht glaubhaft gemacht habe, nicht ohne Weiteres zu folgen. Das Bundesasylamt vermeint eine individuelle Verfolgungsbehauptung, lässt aber völlig unberücksichtigt, dass der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Innsbruck, am 21.08.2006 angegeben hat, dass er von einem bekannten Tschetschenen, der bei der Polizei arbeiten würde, erfahren habe, dass sein Name auf einer Fahndungsliste stehen würde und dass er Probleme bekommen würde, wenn er die Heimat nicht verlassen würde, weshalb er auch bereits im Jahr 2000 seine Heimat verlassen habe. Eine sachgerechte Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers fand somit nicht statt. Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesasylamt auf Seite 15 des angefochtenen Bescheides [AS 249] selbst festgestellt hat, dass die russischen und die pro-russischen Sicherheitskräfte gezielte Einzelaktionen gegen Personen, die sie der Begehung terroristischer Taten verdächtigen, unternehmen. Nach Ansicht des zuständigen Senates des Asylgerichtshofes hätte das Bundesasylamt daher im Einzelnen prüfen müssen, ob sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht doch eine asylrelevante individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers ergibt, dies unter Berücksichtigung des auf den Namen "Mu.A." lautenden Haftbefehls und der allgemeinen Situation in der Tschetschenischen Republik; insbesondere wäre zu prüfen gewesen, ob eine Verwechslung mit dem von den tschetschenischen Behörden gesuchten Cousin mit dem sehr ähnlichen Namen auszuschließen ist, insbesondere ob die rechtsstaatlichen Strukturen derart ausgebildet sind, dass eine derartige Verwechslung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vermieden werden kann. Es wäre auch zu prüfen, ob der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe aus Gründen einer "Sippenhaftung" für den Cousin zu befürchten hätte.

 

3. Aber auch die vom Bundesasylamt getroffene Begründung im Hinblick auf die Refoulemententscheidung hält einer näheren Überprüfung nicht stand, da sich das Bundesasylamt nämlich - wie oben dargelegt - mit dem individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers nicht sachgerecht auseinandergesetzt und zudem Länderfeststellungen getroffen hat, die auf eine katastrophale Sicherheitslage hindeuten würden. Zur humanitären Lage hat das Bundesasylamt festgestellt, dass die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln in Tschetschenien, insbesondere in Grosny, im Wesentlichen durch die Bemühungen verschiedenster Hilfsorganisationen gewährleistet sei. Wichtige medizinische Einrichtungen in Grosny und Umgebung seien nach Augenzeugenberichten stark beschädigt. Der Wiederaufbau würde zwar schleppend verlaufen, doch würden personelle, technische und materielle Ausstattung in einigen Krankenhäusern inzwischen wieder eine medizinische Grundversorgung erlauben. In vielen sonstigen Gebieten fehle es an medizinischem Personal, an Medikamenten, Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten und würden Kranke häufig nicht die nötigen Mittel für ihre Gesundheitsversorgung aufbringen können. Die angeführten Feststellungen des Bundesasylamtes über die dargestellte prekäre Sicherheitslage könnten den Schluss nahe legen, dass in Tschetschenien eine extreme Gefahrenlage herrscht, durch die praktisch jeder, der dorthin abgeschoben wird - auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören -, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 MRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre. Läge eine derartige Situation vor - und könnte der Beschwerdeführer auch nicht in anderen Teilen der Russischen Föderation Schutz suchen - so könnte die Gewährung von Rückschiebeschutz im Sinne von § 8 AsylG gerechtfertigt sein (vgl. VwSlg. 15.437 A/2000; VwGH v. 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; VwGH v. 08.06.2000, Zl. 99/20/0203; VwGH v. 08.06.2000, Zl. 99/20/0586; VwGH v. 21.09.2000, Zl. 99/20/0373; VwGH

v. 25.01.2001, Zl. 2000/20/0367; VwGH v. 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; VwGH v. 25.01.2001, Zl. 2000/20/0480; VwGH v. 21.06.2001, Zl. 99/20/0460; VwGH v. 16.04.2002, Zl. 2000/20/0131). Das Bundesasylamt wird, sofern nicht ohnehin mit der Asylgewährung vorzugehen ist, im fortgesetzten Verfahren detaillierte Feststellungen zur nunmehrigen aktuellen Situation in Tschetschenien zu treffen haben, um die Zulässigkeit einer Rückschiebung im Sinne von § 8 AsylG abschließend beurteilen zu können.

 

4. Obendrein ist noch darauf zu verweisen, dass auch die Feststellungen zur sogenannten inländischen Fluchtalternative nicht in einem mängelfreien Verfahren zustande gekommen sind. Der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes und das diesem zugrunde liegende Verfahren ist auch deshalb mangelhaft, weil der Vertreter des nunmehrigen Beschwerdeführers mit Schreiben vom 20.08.2006 (AS 175) ein Gutachten vom 07.03.2006 zum Thema "Innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) in Tschetschenien" (AS 177-217) in Vorlage gebracht und gleichzeitig ersucht hat, dieses Gutachten in das Verfahren mit einzubeziehen. Zu diesem (Beweis-)Antrag führte das Bundesasylamt im angefochtenen Bescheid aus, dass die vom Vertreter vorgelegten Dokumente nicht geeignet gewesen seien, die Feststellungen des Bundesasylamtes, die sich auf objektive, fundierte Quellen begründen, zu widerlegen. Eine schlüssige Begründung dafür, warum das vom Vertreter vorgelegte Gutachten nicht geeignet war, um die vom Bundesasylamt getroffenen Feststellungen über die allgemeine Situation von Tschetschenen in der Russischen Föderation zu widerlegen bzw. warum den vom Bundesasylamt herangezogenen und im Akt nicht befindlichen Berichten mehr Beweiskraft zugebilligt wurde, als den vom Vertreter des Beschwerdeführers vorgelegten und einzig im Akt befindlichen Gutachten, bleibt das Bundesasylamt schuldig. Dem Bundesasylamt ist im vorliegenden Fall anzulasten, dass es sich mit dem vorgelegten Gutachten des Vertreters überhaupt nicht auseinandergesetzt hat. Die Erstbehörde hat somit in ihren Ausführungen - zu den dem nunmehr angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Länderfeststellungen - nicht dem gesetzlichen Gebot, in der Bescheidbegründung in einer eindeutigen, die Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichenden und einer nachprüfbaren Kontrolle durch den Asylgerichtshof zugänglichen Weise dargetan, warum die vom Bundesasylamt getroffenen Länderfeststellungen ausschließlich auf den von der erstinstanzlichen Behörde herangezogenen Quellen beruhen und warum das vom Vertreter des Beschwerdeführers vorgelegte und zum Teil auch aktuellere Gutachten nicht in das Verfahren eingeflossen ist. Überdies wird in verschiedenen auch im angefochtenen Bescheid zitierten Berichten über "Schwierigkeiten bei der Registrierung", d. h. Schwierigkeiten bei der legalen Niederlassung in anderen Landesteilen berichtet; das Bundesasylamt hält dem ohne Anführung irgendwelcher Quellen lediglich den Satz entgegen, dass derartige "praktische Schwierigkeiten bei der Registrierung oftmals überwunden werden könnten". In diesem Zusammenhang wäre jedoch - sollte auch im fortgesetzten Verfahren vom Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden - im Einzelnen unter Anführung der Quellen darzulegen, auf welche Weise solche "praktischen Schwierigkeiten" beseitigt werden können.

 

5. Es liegen sohin erhebliche Ermittlungsmängel vor, die die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung insbesondere zur Verlesung und Erörterung ergänzender Länderberichte erforderlich machen würden.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in der Vergangenheit bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass von den Asylbehörden eine Einbeziehung des realen Hintergrundes der von einem Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in das Ermittlungsverfahren zu erwarten ist und dessen Behauptungen auch am Verhältnis zu der aktuellen Berichtslage über dessen Herkunftsstaat zu messen sind. Hinzuzufügen ist, dass diese Aufgabe "primär dem Bundesasylamt zukäme". Es kann nämlich nicht der "obersten Berufungsbehörde" (Art. 129c Abs. 1 B-VG) allein überlassen bleiben, über die Befragung des Asylwerbers hinaus auch geeignetes Berichtsmaterial in das Verfahren einzuführen (VwGH 30.09.2004, Zl. 2001/20/0135, m.w.N.).

 

Von der durch § 66 Abs. 3 AVG der Berufungsbehörde eingeräumten Möglichkeit, die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme selbst durchzuführen, wenn "hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist", war im vorliegenden Fall nicht Gebrauch zu machen, wie sich aus folgender nach sinngemäß weiterhin anzuwendender verwaltungsgerichtlicher Judikatur ergibt:

 

"Zur Sicherung der Qualität des Asylverfahrens hat der Gesetzgeber einen Instanzenzug vorgesehen, der zum Unabhängigen Bundesasylsenat und somit zu einer gerichtsähnlichen, unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens führt. Die dem Unabhängigen Bundesasylsenat in dieser Funktion zukommende Rolle wird aber ausgehöhlt und die Einräumung eines Instanzenzuges zur bloßen Formsache degradiert, wenn sich das Asylverfahren einem eininstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde nähert, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf im Verfahren auftretende Ermittlungsnotwendigkeiten sachgerecht einzugehen. Diese über die Unvollständigkeit der Einvernahme hinaus gehenden Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens sprechen auch bei Bedachtnahme auf die mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens unter dem Gesichtspunkt, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Unabhängigen Bundesasylsenat beginnen und zugleich [...] bei derselben Behörde enden soll, für eine Abstandnahme von der durch § 66 Abs. 3 AVG der Berufungsbehörde eingeräumten Möglichkeit (vgl. VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084, VwGH 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315).

 

Im Übrigen würde das Unterbleiben einer auf § 66 Abs. 2 AVG gestützten Entscheidung schon deshalb keine "Ersparnis an Zeit und Kosten" bedeuten, weil das Verfahren vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat - anders als das erstinstanzliche Asylverfahren - sich als Mehrparteienverfahren darstellt (vgl. § 67b Z 1 AVG), sodass schon aufgrund der dadurch bedingten Erhöhung des administrativ-manipulativen Aufwandes bei Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung, dies unter Berücksichtigung der §§ 51a bis d AVG und der Notwendigkeit der Ladung mehrerer Parteien, keine Kostenersparnis zu erzielen wäre. Hinzu kommt, dass die Vernehmung vor dem Bundesasylamt dezentral durch die Außenstellen in den Bundesländern erfolgt, während der Unabhängige Bundesasylsenat als zentrale Bundesbehörde in Wien (mit einer Außenstelle in Linz) eingerichtet ist, sodass auch diesbezüglich eine Kostenersparnis nicht ersichtlich ist. Im Übrigen liegt eine rechtswidrige Ausübung des Ermessens durch eine auf § 66 Abs. 2 AVG gestützte Entscheidung schon dann nicht vor, wenn die beteiligten Behörden ihren Sitz am selben Ort haben (VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084, unter Verweis auf VwGH 29.01.1987, Zl. 86/08/0243)."

 

Im konkreten Fall war daher mit der Behebung des angefochtenen Bescheides und der Rückverweisung der Rechtssache an das Bundesasylamt gemäß § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen.

 

Anzumerken ist, dass auch die Zielsetzungen der Asylgesetznovelle 2003 eine kassatorische Entscheidung geboten erscheinen lassen. Im allgemeinen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Asylgesetznovelle 2003 wird Folgendes ausgeführt: "Die vorgeschlagene Novelle sieht eine Konzentration der Tatsachenermittlung beim Bundesasylamt vor. Eine vollständige Tatsachenermittlung erfordert einerseits eine umfassende Befragung, Rechtsberatung und Information des Asylwerbers und andererseits auch dessen umfassende Mitwirkung am Verfahren..."

 

Im besonderen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage der Asylgesetznovelle 2003 wird zur vorgeschlagenen Neufassung des § 32 ausgeführt: "Die vorgeschlagene Neufassung des § 32 trägt dem Konzept Rechnung, dass die Kompetenzen des Bundesasylamtes als Tatsacheninstanz erweitert werden. ..."

 

Diesen normativen Anliegen des Gesetzgebers kann nur durch die vollständige Ermittlung und Feststellung des Sachverhaltes durch das Bundesasylamt auch im vorliegenden Fall Rechnung getragen werden, weshalb die Behebung des angefochtenen Bescheides und Verweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zu erfolgen hat.

 

Das besondere Gewicht des Bundesasylamtes als Tatsacheninstanz ist letztlich auch vom Gesetzgeber des Asylgesetzes 2005 durch die in § 75 Abs. 1, 3. Satz, getroffene Regelung weiter betont worden, wonach in am 31.12.2005 anhängigen Verfahren § 60 AsylG 2005, worin die Führung einer Staatendokumentation durch das Bundesasylamt vorgesehen wurde, anzuwenden ist. Im vorliegenden Fall wäre zweckmäßiger Weise zur Beurteilung der oben dargestellten Fragen auf die in der Staatendokumentation gesammelten und in wissenschaftlicher Form aufbereiteten Tatsachen gemäß § 60 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 zurückzugreifen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
20.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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