A4 255.023-0/2008/15E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. LAMMER als Einzelrichter über die Beschwerde des D.A., geb. 00.00.1961, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, FZ. 03 30.020, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.05.2007 zu Recht erkannt:
A. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gem. § 7 AsylG 1997 idF 126/2002 abgewiesen.
B. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 iVm § 50 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), wird festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von D.A. in die Russischen Föderation nicht zulässig ist.
C. Gemäß §§ 8 Abs. 3 iVm 15 Abs. 2 AsylG wird D.A. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 19.09.2009 erteilt.
BEGRÜNDUNG
I.1. Der nunmehrige Beschwerdeführer, ein Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe in der Russischen Föderation, reiste am 02.10.2003 illegal unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet ein und stellte noch am selben Tag einen Antrag auf Asylgewährung.
In seiner daraufhin vor der belangten Behörde am 27.11.2003 durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme schilderte der Antragsteller seine Fluchtgründe dahingehend, als er bereits im Oktober 2001 aufgrund seiner Tätigkeit als Journalist Probleme mit den lokalen Polizeibehörden bekommen habe. Konkret hätte er im Verlauf der beiden Tschetschenienkriege eine Vielzahl von Untaten der russischen Militärangehörigen und deren tschetschenischen Verbündeten wie etwa "ungesetzliche Ermordungen, Waffen- und Drogengeschäfte (Seite 27 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes)" filmisch dokumentiert und an lokale Fernsehsender weitergegeben, weshalb er erstmalig am 00.00.2001 von föderalen Truppen entführt und in einem unbekannten Keller festgehalten worden wäre. Bis zu seiner Freilassung am 00.00.2001 habe man den Beschwerdeführer an diesem Ort seinen Angaben nach nahezu durchgehend geschlagen und gequält. Am 00.00.2002 hätten maskierte Gefolgsleute Kadirovs den Antragsteller neuerlich in ein unbekanntes Haus verschleppt um ihn dort abermals zu misshandeln. So wäre er unter anderem auch mit einem scharfen Hund in einen Raum gesperrt worden, jedoch sei es ihm gelungen diesen zu töten und im Anschluss daran unbemerkt zu entkommen. Vom Tag seiner Flucht an habe sich der im Betreff Genannte durchgehend an den verschiedensten Orten in Tschetschenien, Dagestan und Nordossetien erfolgreich versteckt gehalten. Sein Neffe wäre demgegenüber am 00.00.2003 von Anhängern Kadirovs entführt worden und sei über dessen weiteres Schicksal seither nichts bekannt. Aus Angst um sein Leben und aus Sorge um seine Familie "haben wir uns am 21.07.2003 zur Flucht aus unserer Heimat entschlossen (Seite 27 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes)." So hätten die Nachbarn seiner Gattin im April oder Mai 2003 mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den gemeinsamen Sohn zu entführen. Im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland befürchte der Beschwerdeführer von den Sondereinheiten Kadirovs mitgenommen oder umgebracht werden zu können.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, FZ. 03 30.020, wurde der Asylantrag vom 02.10.2003 gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Antragstellers nach Russland gemäß § 8 Abs. 1 AsylG idF BGBl I Nr. 101/2003 für zulässig erklärt. Des Weiteren wurde der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Russland ausgewiesen.
3. Gegen diese Entscheidung erhob der im Betreff Genannte mit Schriftsatz vom 15.11.2004 fristgerecht Berufung (nunmehr Beschwerde).
4. Im Rahmen einer am 30.05.2007 vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat abgehaltenen Berufungsverhandlung wurde dem nunmehrigen Beschwerdeführer Gelegenheit geboten, seine Fluchtmotive neuerlich darzulegen.
Befragt nach den konkreten Fluchtgründen, die letztlich für das Verlassen seines Heimatlandes ausschlaggebend gewesen wären, gab der Beschwerdeführer an, nach Abschluss seiner universitären Ausbildung 1991 als freiberuflicher Photograph gearbeitet zu haben. Nach Ausbruch des ersten Tschetschenienkriegs im Jahre 1994 hätte er auch Kampfeinsätze der tschetschenischen Rebellen gefilmt und die Aufnahmen an lokale Fernsehsender verkauft. Am Morgen des 00.00.2001 wäre der Beschwerdeführer im Rahmen einer Personenkontrolle von russischen Soldaten aufgrund fehlender Personaldokumente zwecks Identitätsfeststellung festgenommen und in weiterer Folge vier Tage lang im Keller eines Internats im Zentrum von U., inhaftiert worden. Nach Zahlung eines Lösegelds sei er aber wieder freigelassen worden. Am 00.00.2002 hätten unbekannte Maskierte den Antragsteller neuerlich entführt, verhört und misshandelt. "Ich weiß echt nicht wer das war (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 30.05.2007)."
Schließlich habe man ihn auch noch mit einem Schäferhund in einen Raum gesperrt, jedoch sei es dem im Betreff Genannten trotz einer Reihe von Bissverletzungen gelungen, das Tier zu töten. Danach hätte sich der Beschwerdeführer selbst befreit, die Tür aufgebrochen und die Flucht ergriffen. Am 25. oder 27.07.2003 habe er schließlich sein Heimatland verlassen und befürchte er im Falle seiner Rückkehr "Gott weiß was (Seite 12 der Verhandlungsschrift vom 30.05.2007)."
Ein in weiterer Folge durch den damaligen Verhandlungsleiter veranlasstes fachärztliches Gutachten, datiert vom 00.00.2007, hatte zum Ergebnis, dass keine einzige der vom Antragsteller ins Treffen geführten Misshandlungen verifiziert werden konnte. So könne etwa entgegen den diesbezüglich anderslautenden Behauptungen des Beschwerdeführers "mit Sicherheit festgehalten werden, dass eine erhebliche Gewalteinwirkung gegen den Schädel des Asylwerbers sicherlich nicht vorhanden war, wenn überhaupt (vgl. Seite 5 des Gutachtens von Dr. G. vom 00.00.2007)." Auch eine länger dauernde Bewusstlosigkeit könne aus medizinischer Sicht definitiv ausgeschlossen werden und wären zudem die vom Antragsteller präsentierten Narben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf Hundebisse zurückzuführen. Alle anderen vom Beschwerdeführer angegebenen physischen Übergriffe könnten mangels entsprechender Spuren ebenfalls nicht nachgewiesen werden.
Der eben zitierte Untersuchungsbericht wurde in weiterer Folge dem Beschwerdeführer sowie dessen rechtsfreundlichen Vertreterin zur schriftlichen Stellungnahme übermittelt. Mit ergänzendem Schriftsatz vom 05.02.2008 brachte der im Betreff Genannte im Wesentlichen vor, dass die von ihm behauptete Bewusstlosigkeit möglicherweise auch andere Ursachen gehabt haben könnte, wie etwa Schmerzen, Erschöpfung oder Angstzustände. Zudem sei es unrichtig, wonach eine Gehirnerschütterung stets eine retrograde Amnesie bewirke, vielmehr sei in derartigen Fällen auch das Ausbleiben einer Erinnerungslücke zu beobachten. Daraus resultierend wäre die gutachterliche Stellungnahme nicht haltbar. Bezüglich des Bisswundenbefunds sei darüber hinaus anzumerken, demzufolge das Gutachten die Bekleidung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Verletzung gänzlich unberücksichtigt gelassen habe, weshalb selbiges mit einem schweren Mangel behaftet wäre.
II. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist muslimischen Bekenntnisses und war zuletzt in Grosny wohnhaft.
Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen Ziel von konkret gegen seine Person gerichteten Maßnahmen von russischen oder pro-russischen tschetschenischen Sicherheitskräften war; nicht festgestellt und der Entscheidung zu Grunde gelegt werden kann sohin, dass der Beschwerdeführer jemals Ziel einer gezielten Verfolgung oder Säuberungsaktion war. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann in diesem Zusammenhang, dass der im Betreff Genannte tatsächlich in der Vergangenheit eingriffsintensiven tätlichen Übergriffen seitens russischen oder pro-russischen Föderationskräfte ausgesetzt gewesen wäre.
Der Antragsteller hat in der russischen Föderation nicht allein deshalb Verfolgungshandlungen zu befürchten, weil er der tschetschenischen Volksgruppe angehört.
Festgestellt wird allerdings, dass der Beschwerdeführer auf Grund der jedermann treffenden schlechten Sicherheitslage in Tschetschenien, die auf die Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen zurückzuführen ist, keinen wirksamen staatlichen Schutz vor mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durchaus drohenden Übergriffen durch russische oder pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte (wie Kontrollen oder so genannte Säuberungen) finden kann.
Der im Betreff Genannte würde darüber hinaus im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation auf Grund der festgestellten derzeitigen prekären Sicherheits- und Versorgungslage in der Tschetschenischen Republik keine Lebensgrundlage vorfinden, zumal die Gefahr von willkürlichen Festnahmen im Rahmen von Säuberungsoperationen und der anschließenden Notwendigkeit der Zahlung von Lösegeld zwecks Freikaufes besteht, was die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit ebenfalls nachhaltig beeinträchtigt.
Der Beschwerdeführer hat nie dauerhaft über einen längeren Zeitraum hindurch außerhalb von Tschetschenien in der Russischen Föderation gelebt; auch ist nicht hervorgekommen, dass er über enge Verwandte in den sonstigen Gebieten der Russischen Föderation verfügen würde. Der Antragsteller verfügt weder über ein Beziehungsnetz noch über finanzielle Mittel, die ihm eine Niederlassung in einem Landesteil der Russischen Föderation außerhalb der Tschetschenischen Republik ermöglichen würden, da er die trotz Abschaffung des Propiska - Systems gehandhabte restriktive Vorgangsweise bei der Einräumung von Registrierungen an einem Wohnsitz treffen würde. Diese Einschränkung der Zuzugsmöglichkeit ist nicht durch die tschetschenische Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers bedingt, sondern durch die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Russischen Föderation.
Zur Situation in Russland wird festgestellt:
Die Tschetschenische Republik ist eines der 89 Subjekte der Russischen Föderation. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Ihre historisch verwurzelten Unabhängigkeitsbestrebungen führten in jüngster Geschichte zu zwei Kriegen mit dem föderalen Zentrum Russlands. Dererste Tschetschenienkrieg (1994 - 1996) endete mit einer de facto Unabhängigkeit der Teilrepublik. In der darauffolgenden Phase war die Situation in Tschetschenien durch heftige innere Machtkämpfe, islamistische Tendenzen, die Einführung einer rückständigen Version der Sharia - Gerichtsbarkeit, hohe und über die Grenzen der Republik ausstrahlende Drogenkriminalität, Entführungen und Übergriffe bewaffneter tschetschenischer Banden auf Nachbarrepubliken gekennzeichnet. Zur instabilen Lage trug indes auch die systematische Isolierung Tschetscheniens bei, die Nichterfüllung der Wiederaufbau-Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag durch Moskau sowie die allumfassende Korruption, an der der Wiederaufbau bis heute u. a. scheitert (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 30. August 2005, S. 5).
Im Oktober 1999 begann der sog. "Zweite Tschetschenienkrieg", im offiziellen russischen Sprachgebrauch als "Antiterroristische Operation" bezeichnet. Nach Ende der offenen Kämpfe im Frühjahr 2000 und der Einsetzung einer Moskau-freundlichen Übergangsverwaltung wurde die vorherige tschetschenische Regierung unter dem 1997 gewählten Präsidenten Maschadow und deren Sicherheitskräfte zu "Rebellen". Diese gingen mit Sprengstoffanschlägen, Feuerüberfällen, Hubschrauberabschüssen und Geiselnahmen aus dem Untergrund gegen die - aus ihrer Sicht - russischen "Besatzer" vor. ...
Auch nach der Ermordung des tschetschenischen Präsident Ahmed Kadyrow am 09.05.2004 setzte Moskau seine Strategie des "politischen Prozesses" fort, Verantwortung in Moskau-freundliche tschetschenische Hände zu übertragen. Am 29.08.2004 wurde der bisherige Innenminister Alu Alchanow zum neuen Präsidenten gewählt. Unabhängige Beobachter kritisierten die Wahl als stark manipuliert. "Starker Mann" in der Republik ist der Sohn des ermordeten Präsidenten, Ramsan Kadyrow, Vize-Premier und Befehlshaber über den Sicherheitsdienst. Dessen Mitarbeiter, den sog. "Kadyrowzy" werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Morde) zur Last gelegt.
Kadyrows Stellung wurde durch die Parlamentswahlen in Tschetschenien vom 27. November 2005 gestärkt, die mit einem deutlichen Sieg der kremlnahen Partei "Einiges Russland" endeten. Menschenrechtler kritisierten, dass es bei diesen Wahlen massive Unregelmäßigkeiten gegeben habe.
Seit dem Mord an Ahmed Kadyrow nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den Rebellen und den russischen/tschetschenischen Sicherheitskräften an Umfang und Schärfe zu. Die Kette der durch die Rebellen verübten Terror- und Selbstmordanschläge in- und außerhalb Tschetscheniens reißt nicht ab. Höhepunkt war Anfang September 2004 die blutige Geiselnahme in der Schule von Beslan/Nordossetien, bei der 330 Menschen (davon 168 Kinder) getötet und hunderte Kinder und Erwachsene z.T. schwer verletzt wurden. Am 13.10.2005 überfielen 200 bis 240 Rebellen in Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien, verschiedene Objekte der Sicherheitskräfte, u.
a. das Hauptquartier der Spezialeinheiten des Innenministeriums (OMON). Dabei kamen nach offiziellen Angaben 92 Rebellen, 35 Polizisten und 10 Zivilisten ums Leben; 22 Polizisten und 23 Zivilisten seien verletzt worden - inoffizielle Zahlen liegen zum Teil erheblich höher (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 15.02.2006, S. 13/14).
Präsident Putin will die russischen Truppen in Tschetschenien deutlich reduzieren. Schon jetzt regiert dort de facto unangefochten Ramsan Kadyrow, der Sohn des ermordeten Ex-Präsidenten. Seine Autorität verdankt er seinen Kämpfern und einem sichtbaren Wiederaufbau. Doch von Rechtsstaatlichkeit ist Tschetschenien noch weit entfernt. ...
Nach Kadyrows Ermordung wurde dessen Privatarmee - die "Kadyrowzi" - in mehreren Etappen ausgebaut und schliesslich in offizielle Streitkräfte des Innenministeriums umgewandelt. Im Ergebnis hat sich eine mehrere tausend Mann starke Truppe gebildet, die zum grossen Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfern besteht und deren Kommandanten ihren Eid auf Kadyrow geschworen haben. Neben diesen Kräften gibt es noch zwei tschetschenische Regimenter, die unter föderalem Kommando stehen, sowie die regulären russischen Truppen. Kadyrow aber hat erfolgreich die Praxis seines Vaters fortgesetzt, Rebellen durch Argumente, Geld und auch Gewalt - zum Beispiel durch die Entführung von Angehörigen - zum Überlaufen zu bewegen. Im Kampf gegen die Separatisten erwiesen sich die Instrumente Kadyrows als eindeutig effektiver als der Einsatz russischer Soldaten. Zwar herrscht unter den russischen Militärs ein erhebliches Misstrauen gegenüber den Kämpfern Kadyrows. Doch Putins Entscheid, die russische Militärpräsenz zu reduzieren, ist auch ein Zeichen der Anerkennung für Kadyrow. Nach und nach hat der Kreml den wegen seiner Brutalität und mangelnden Bildung geschmähten, aber schlauen und offensichtlich mit einem sicheren Machtinstinkt versehenen Kadyrow belohnt und aufgebaut. ...
Ebenso bedeutsam wie auch trügerisch ist der von Menschenrechtlern gemeldete Rückgang von Gewaltverbrechen. Die Zahl der Morde und Verschleppungen sei im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen, meldete die angesehene Menschenrechtsorganisation Memorial Anfang August. In ihrem Bericht dokumentiert Memorial 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen seit August des vergangenen Jahres. Für das vorherige Jahr hatte Memorial noch 310 Morde und 418 Verschleppungen aufgelistet. Menschenrechtler geben jedoch zu bedenken, dass die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte, da unter Kadyrow ein Regime der Angst herrsche, das dazu führe, dass viele Menschenrechtsverletzungen aus Angst vor Repressalien erst gar nicht mehr angezeigt würden. Wie viele Verbrechen aus welchen Motiven auf das Konto der Anhänger Kadyrows gehen, bleibt häufig ungeklärt. Während die Rebellen spätestens seit der Ermordung des radikalsten Terroristenführers Schamil Bassajew am 10. Juli entscheidend geschwächt sind und ihren Kampf um die Unabhängigkeit längst verloren haben, ist an die Stelle des alten Konfliktes nun eine Atmosphäre der weitgehenden Willkür und Rechtlosigkeit unter dem autoritären Regime Kadyrows getreten. Paradoxerweise hat Kadyrow für Tschetschenien von Moskau Freiräume abgerungen, für welche die Rebellen vergeblich ins Feld zogen. Wie stark die Verbitterung und mögliche Widerstände innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft gegenüber dem Machthaber sind, ist von außen schwer zu beurteilen. Für die Beobachter stellt sich heute nur die Frage, wann Kadyrow auch das Placet Putins für das Präsidentenamt erhält. Dabei ist Kadyrows Machtfülle nicht wenigen im Kreml ein Dorn im Auge, schließlich könnte er irgendwann zu stark und unkontrollierbar werden. Doch zurzeit, so scheint es, hat Moskau in Tschetschenien kaum eine Alternative (APA NZZ Nr. 185 vom 12.08.2006 Seite 7, Ressort International).
Der Tschetschenienkonflikt hat längst auf die Nachbarrepubliken (insbesondere Inguschetien und Dagestan, aber auch Kabardino-Balkarien und Nordossetien) übergegriffen. Wesentlicher Faktor der Instabilität sind die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der gesamten Region, die einhergehen mit Korruption und Clanwirtschaft. Föderale Gelder kommen nur zu einem geringen Teil am Bestimmungsort an (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seite 7).
Menschenrechts- und Sicherheitslage in Tschetschenien
In Tschetschenien finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. An erster Stelle steht dabei das "Verschwindenlassen" von Menschen - es herrscht deshalb weiter ein "Klima der Angst" (Memorial). Der Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin schreibt in seinem Jahresbericht vom 21.04.2006 in Bezug auf Tschetschenien: "Unmittelbaren Einfluss auf die Menschenrechtslage in Russland und auf das gesellschaftliche Klima hat nach wie vor die Situation in Tschetschenien. (...) Die Lage in Tschetschenien bleibt schwierig und angespannt".
Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und Presse berichten, dass es auch nach Beginn des von offizieller Seite festgestellten "politischen Prozesses" zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung komme, dabei insbesondere zu willkürlichen Festnahmen, Entführungen, Verschwindenlassen und Ermordung von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstählen. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass reales Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Den "Kadyrowzy" werden von Menschenrechtsorganisationen zahlreiche
dieser Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Nach Human Rights Watch haben die "Kadyrowzy" 2004/05 die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst; Memorial hält sie für eine kriminelle Vereinigung.
Menschenrechtsorganisationen berichten außerdem von zahlreichen Fällen von "Verschwindenlassen" von Zivilisten in Tschetschenien. Im Jahre 2005 wurden nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 wurden laut "Memorial" 103 Personen entführt, von denen 50 befreit und sechs getötet worden seien; 38 seien verschwunden, neun im Gefängnis. Da Memorial nur etwa 25 - 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein. Seit Beginn des 2. Tschetschenienkrieges im Jahre 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. In einer amtlichen Datenbank über Personen, die seit 1991 entführt wurden, befanden sich im Januar 2006 nach Angaben von Präsident Alu Alchanow die Namen von 2.548 Personen.
Eine Liste der Menschenrechtsorganisation "Mütter Tschetscheniens", deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet russische und tschetschenische Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen an die Behörden gab es bisher einen positiven Bescheid; in keinem Fall ist es gelungen, eine vermisste Person lebend wieder zu finden...
Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Auch Amnesty berichtet weiterhin von Vergewaltigungen und extralegalen Tötungen der Zivilbevölkerung während Operationen der Sicherheitskräfte (Amnesty International Jahresbericht 2006)...
Nach Beobachtungen des ehemaligen Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine Besorgnis erregende Entwicklung. ....
Der tschetschenische Ministerpräsident Ramsan Kadyrow hat sich öffentlich für gesetzliche Regelungen ausgesprochen, die die Strafverfolgung von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen ermöglichen.
In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater "Nord-Ost" (Oktober 2002) kam es zu "Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien, die unter der Leitung des stv. Oberbefehlshabers der föderalen Truppen standen. Es wurde systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften (Streitkräfte, Innere Truppen, Spezialkräfte der Geheimdienste) umstellt und durchsucht. ..
Schwere Verbrechen und Vergehen werden auch von Seiten der Rebellen begangen (Beslan). ...
Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter deren Ausmaß zurück, so dass nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein "Klima der Straflosigkeit" entstanden sei (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 18.08.2006, S. 14 bis 16).
Menschenrechtsorganisationen berichten, dass anscheinend aufgrund der Beteiligung von Selbstmordattentäterinnen an zahlreichen Terroranschlägen Frauen in stärkerem Maße ins Visier der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geraten (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 30.08.2005, Seite 12).
Das (erg.: deutsche) Auswärtige Amt hat keine Kenntnis von Fällen, in denen Personen, die Separatisten in Tschetschenien unterstützt haben, verurteilt worden sind. Aus Agenturmeldungen sind einige Fälle bekannt, in denen es zu Verhaftungen von Personen gekommen ist, die von tschetschenischen oder föderalen Behörden verdächtigt wurden, für Rebellen unterstützende Dienste geleistet zu haben, wobei hier keine Festlegung auf die Zeit des zweiten Tschetschenienkrieges erfolgen kann. Auch Menschenrechtsorganisationen sind keine Verurteilungen von Unterstützern bekannt geworden. Sie weisen allerdings auf Fälle hin, in denen solche Personen festgenommen und ihnen danach willkürlich schwere Verbrechen unterstellt worden sind. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen können Umgang und Bekanntschaft mit tschetschenischen Kämpfern grundsätzlich gefährlich werden (Anfragenbeantwortung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Zahl:
508-516.80/44374 vom 03.03.2006, Seite 2).
In Tschetschenien herrscht nach Einschätzung von UNO-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour ein "Klima der Angst". Ursache seien "sehr ernste Unzulänglichkeiten" des Rechtssystems. Eine besondere Rolle spielten sowohl die Polizei als auch die Milizen. Zwei Dinge seien "besonders beunruhigend": die weit verbreitete Folter zur Erpressung von Geständnissen und Informationen sowie die Einschüchterung von Menschen, die gegen Beamte und staatliche Stellen Beschwerde einlegten. Es mangle zudem an "glaubhaften Ermittlungen". Nicht glaubhaft sei es, dass das Verschwinden vieler Menschen in Tschetschenien daran liege, dass diese die Republik freiwillig verließen, "ohne Informationen zu hinterlassen".
Einer Schätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge sind seit dem erneuten Einmarsch der russischen Armee im Herbst 1999 bis zu 5.000 Menschen in Tschetschenien verschwunden. In der Kaukasusrepublik kämpfen Rebellen seit 1994 für die Unabhängigkeit von Moskau. In elf Jahren wurden etwa 10.000 russische Soldaten und rund 100.000 Zivilisten getötet (APA 0663, 24. Februar 2006)
Besonders seit Beginn des sog. "Zweiten Tschetschenienkrieges" (Herbst 1999) wurden auch die in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation lebenden Tschetschenen - allein in Moskau gibt es etwa 200.000, davon jedoch laut Volkszählung von 2002 lediglich 14.465 offiziell registrierte - Ziel benachteiligender Praktiken der Behörden. Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, z. T. ohne rechtliche Begründung, Festnahmen, Strafverfahren aufgrund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Offensichtliche Diskriminierungen, wie das Fälschen von Beweismitteln oder die Verfolgung durch die Miliz, sind im Vergleich zum ersten Tschetschenienkrieg seltener geworden. Subtile Formen der Diskriminierung bestehen fort. Tschetschenen haben zum Beispiel weiterhin Schwierigkeiten, eine Wohnortregistrierung auf legalem Wege zu erlangen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, S. 7).
Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist nicht gewährleistet. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Zwar hat auch nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen die Anzahl von Gewaltakten sowohl von Seiten der durch Fahndungserfolge der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geschwächten Rebellen als auch von Seiten der Sicherheitskräfte selbst zuletzt abgenommen, doch sind immer noch willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschläge an der Tagesordnung... .
Im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten hat sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden. Am 24.01.2006 hat das tschetschenische Parlament einen Ausschuss eingerichtet (Vorsitzender: Parlamentspräsident Abdurachmanow), der Diskriminierungen gegen Tschetschenen aufklären und die Suche nach Vermissten überwachen soll.
Die Bevölkerung begegnet Tschetschenen größtenteils mit Misstrauen. Hier wirken sich latenter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Teilen der russischen Bevölkerung und insbesondere die negative Wahrnehmung der Tschetschenen aus. Berichte über Kontakte der tschetschenischen Rebellen zu den Taliban und Osama Bin Laden, die Geiselnahme 2002 in Moskau und die Anschläge 2004 haben dies noch verstärkt.
Fremdenfeindliche Ressentiments haben in der Bevölkerung in den letzten Jahren zugenommen und beschränken sich längst nicht mehr auf die ältere Generation und die weniger gebildeten Schichten. Sie richten sich insbesondere gegen Tschetschenen und andere Kaukasier, so genannte "Tschornyje" ("Schwarze"). Der Tschetschenienkonflikt und die Angst vor Terroranschlägen verstärken diese Tendenz. (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seiten 9 und 19f)
Versorgungslage
Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in letzter Zeit etwas verbessert (in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hingegen eher verschlechtert). Der zivile Wiederaufbau der völlig zerstörten Republik konzentriert sich auf die Hauptstadt Grosny. Von den im föderalen Budget 2006 für den Wiederaufbau vorgesehenen Mitteln ist im ersten Halbjahr 2006 noch kein Anteil ausgezahlt worden.
Auch die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist derzeit blockiert. Nach Angaben von Präsident Alchanow sind bisher 2 Milliarden Rubel an Kompensationszahlungen geleistet worden. Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Der russische Migrationsdienst gibt nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen offen zu, dass von den Entschädigungszahlungen 15 Prozent nach Moskau, 15 Prozent an die lokalen Behörden, zehn Prozent an die zuständige Bank und ein gewisser Prozentsatz an den Migrationsdienst selbst gehen. Verschiedene Schätzungen u.a. des (am 01.04.2006 aus seinem Amt ausgeschieden) Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seite 17f).
Die Grundversorgung der Bevölkerung in Russland mit Nahrungsmitteln ist vom Nahrungsmittelangebot her gewährleistet. Allerdings leben immer noch - trotz erheblicher sozialpolitischer Fortschritte - rund 20 Mio. Russen (knapp 15% der Bevölkerung) unter dem statistischen Existenzminimum. Es gibt staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe für bedürftige Personen auf sehr niedrigem Niveau), die jedoch faktisch noch nicht einmal den Grundbedarf deckt. 2006 werden für Bildung, Gesundheit und sozialen Wohnungsbau (im Rahmen der sog. "Nationalen Projekte") zusätzlich 180 Milliarden Rubel (ca. 5,3 Milliarden Euro) ausgegeben. Kritiker befürchten indes, dass das Geld in falsche Hände geraten könne.
Die tschetschenische Bevölkerung lebt unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft, insbesondere in Grosny. Internationalen Hilfsorganisationen ist es nur sehr begrenzt und punktuell möglich, Nahrungsmittel in das Krisengebiet zu liefern. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau Tschetscheniens sachgerecht verwendet werden. Das IKRK hat im Jahre 2006 für humanitäre Projekte im Nordkaukasus 20 Mio. US $ vorgesehen. Etwa 50% des Wohnraums ist seit dem ersten Krieg (1994-1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80% (russischer Durchschnitt: 7,6%).Das reale Pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa ein Zehntel des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Viel Geld wird in Tschetschenien mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient. Zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus der Ferne schickt (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seite 24).
Die medizinische Grundversorgung in Russland ist theoretisch grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu.
Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten. So stehen beispielsweise seit April 2006 am Republikanischen Krankenhaus in Grosny zehn Dialysegeräte zur Verfügung, so dass Patienten mit Nierenerkrankungen nunmehr auch in Tschetschenien behandelt werden können (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seite 24f).
Ausweichmöglichkeiten und Relokation
Besorgniserregend bleibt die humanitäre Notlage der tschetschenischen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens. Neben über 200.000 Binnenvertriebenen innerhalb Tschetscheniens befanden sich nach VN-Angaben im April 2006 in der Datenbank für humanitäre Hilfe noch 24.162 tschetschenische Binnenvertriebene in Inguschetien (8.828 in Übergangs-, 15.334 in Privatunterkünften). Auch in den übrigen nordkaukasischen Nachbarrepubliken halten sich tschetschenische Binnenflüchtlinge auf: ca. 10.000 in Dagestan, 4.000 in Nordossetien, 10.000 in Kabardino-Balkarien und 23.000 in Karatschajewo-Tscherkessien. Darüber hinaus gibt es praktisch in allen russischen Großstädten eine große, durch Flüchtlinge noch wachsende tschetschenische Diaspora: 200.000 in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau), 70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion (Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 05.06.2006). Tschetschenische Flüchtlinge leben auch in Georgien (nach letzter offizieller Registrierung vom Dezember 2004 2.619 tschetschenische Flüchtlinge), Aserbaidschan (ca. 8.000) und Kasachstan (ca. 12.000). Etwa 31.000 tschetschenische Flüchtlinge sollen sich in Westeuropa aufhalten. Die russische Regierung arbeitet auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Binnenflüchtlinge (etwa 500.000) hin. Als Ausdruck einer angeblichen "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien wurden die letzten Zeltlager in Inguschetien aufgelöst (das Lager "Bart" am 01.03.2004, "Sputnik" am 01.04.2004 und "Satsita" am 10.06.2004). Trotz finanzieller Anreize für eine Rückkehr nach Tschetschenien ist die Zahl der Flüchtlinge in Inguschetien aber nach wie vor hoch.
Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge in den Übergangsunterkünften in der russischen Teilrepublik Inguschetien sind unter allen Aspekten schwierig. Inguschetien und das russische Katastrophenschutzministerium können nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe leisten und sind mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Unter Leitung des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen (OCHA) leisten zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen seit Jahren umfangreiche humanitäre Hilfe in der Region. OCHA stellte den rund 1,2 Mio. betroffenen Menschen im Nordkaukasus auch 2005 wieder knapp 62 Mio. US-$ zur Verfügung. Gleichzeitig fahren die russischen Migrationsbehörden die Versorgung der Binnenflüchtlinge in Inguschetien allmählich zurück. Auch UNHCR und Dänischer Flüchtlingsrat planen, die Zahl der Hilfsberechtigten unter den Flüchtlingen in Inguschetien ab Mai 2006 zu verringern; u.a. sollen Familien ohne Behinderte und ohne Familienangehörige über 50 Jahre nicht mehr vom Lebensmittelprogramm erfasst werden (erwartete Reduzierung der bisher erfassten 25.000 Flüchtlinge um 9 %). Aus Sicherheitsgründen ist die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Tschetschenien nur deutlich eingeschränkt möglich.
In Tschetschenien wurden für die Flüchtlinge provisorische Unterkünfte errichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten der inzwischen in Tschetschenien fertig gestellten zeitweiligen Unterkünfte reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Außerdem berichten UNICEF und andere VN-Organisationen von desolaten sanitären Verhältnissen und schlechten Lebensbedingungen in großen Teilen der von ihnen betreuten Übergangsunterkünfte in Grosny (Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, unbefriedigende Sicherheitslage (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, Seite 18f).
Die Weiterreise von tschetschenischen Flüchtlingen in andere Teile der Russischen Föderation ist grundsätzlich möglich, trifft aber sowohl auf Transportprobleme als auch auf fehlende Aufnahmekapazitäten. Soweit zur Weiterreise die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, kann sie bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. In großen Städten (z.B. in Moskau und St. Petersburg) wird der Zuzug von Personen jeglicher Volkszugehörigkeit erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.
Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen, besonders in Moskau, häufig die Registrierung verweigert wird. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Viele Vermieter weigern sich, entsprechende Vordrucke auszufüllen, weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen. Dies ist ein generelles Problem, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit des Mieters. Kaukasier dürften jedoch größere Probleme haben als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden
Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber Rückgeführten im Besonderen bei der Niederlassung verstärkt. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Vorgehensweise der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern .Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, S.13/14).
Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten (u.a. in großen Städten, wie z.B. Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem die Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem. Das davor geltende "Propiska"-System sah nicht nur die Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vor. Voraussetzung für eine Registrierung ist ein nachweisbarer Wohnraum und die Vorlage des Inlandspasses. Ein von der russischen Auslandsvertretung in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus. Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten.
Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass vielen Tschetschenen, besonders in Moskau, die Registrierung verweigert werde. Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben deshalb in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie genügend Geld haben oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im allgemeinen und rückgeführten Tschetschenen im besonderen verstärkt. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich hieran in absehbarer Zeit nichts ändern. Eine verschärfte Neufassung des Aufenthaltsrechts spezifisch für Tschetschenen wird von der Moskauer Stadtverwaltung und Abgeordneten des Stadtparlaments gefordert, steht jedoch in der Staatsduma bislang nicht auf der Tagesordnung. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird nahe gelegt; ob auch zwangsweise rückgeführt wird, entzieht sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes. Bewohner Tschetscheniens und Inguschetiens, die älter als 14 Jahre sind und sich in Moskau anmelden wollen, erhalten nach Presseberichten seit Frühjahr 2006 von der Miliz einen 40 Fragen umfassenden Fragebogen, der u.a. Fragen zur Clanzugehörigkeit, Einstellung zur Scharia, möglicher Teilnahme an Kämpfen, zu möglichen Kämpfern unter Verwandten oder zur eventuellen Absicht der Teilnahme an Aktivitäten der tschetschenischen/inguschetischen Diaspora in Moskau enthält. Inwieweit diese Fragebögen auch in anderen Städten auszufüllen sind, ist dem Auswärtigen Amt nicht bekannt. Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Wie ihre Lebensverhältnisse sind, hängt insbesondere davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Menschenrechtler beklagen eine Zunahme von Festnahmen wegen fehlender Registrierungen oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren. Eine Registrierung als Binnenflüchtling (IDP, Internally displaced person) und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen (Wohnung, Schule, medizinische Fürsorge, Arbeitsmöglichkeit) wird in der Russischen Föderation laut Berichten von amnesty international und UNHCR regelmäßig verwehrt. Während im ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 etwa 150.000 Bürger Tschetscheniens als Opfer "massenhafter Unruhen" (so der Gesetzeswortlaut) den Status eines Binnenflüchtlings erhielten, waren es nach dem zweiten Tschetschenienkrieg zwischen 1999 und 2001 insgesamt nur etwa
12.500. Nach Überzeugung von Menschenrechtlern war diese restriktive Anwendung des Begriffes "massenhafte Unruhen" auf den zweiten Tschetschenienkrieg stark dadurch motiviert, dass im ersten Krieg primär ethnische Russen den Status eines Binnenflüchtlings erhielten, vom zweiten Krieg jedoch fast nur ethnische Tschetschenen betroffen waren. (Die meisten ethnischen Russen hatten Tschetschenien bereits verlassen.)Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der sog "Kadyrowzy", die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel 10 Rubel, also ungefähr 30 Cent; für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher, z.B. an der inguschetisch-tschetschenischen Grenze bei 50 - 100 Rubel, etwa 1,50 - 3 Euro. Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens neben Moskau vor allem in Südrussland (Regionen Kransnodar, Stawropol). Dort ist eine Registrierung auch grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum (Registrierungsvoraussetzung) dort erheblich billiger ist als in Moskau, wo die Preise auf dem freien Wohnungsmarkt ausgesprochen hoch sind. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen oft erst nach Intervention von Nichtregierungsorganisationen, Duma-Abgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich. Die Registrierungsregeln gelten einheitlich im ganzen Land. Lediglich die tatsächlichen Verhältnisse sind unterschiedlich. (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.08.2006, S.26/27)
Es existieren weder rechtliche noch sonstige Mechanismen, die die Niederlassung von Binnenflüchtlingen außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens ermöglichen würden. ...
Tschetschenische Binnenflüchtlinge hatten und haben praktisch keine legale Aufenthaltsmöglichkeit in Kabardino-Balkarien und Karachai-Tscherkessien. Die geringe Zahl an tschetschenischen Binnenflüchtlingen in den Republiken Nord-Ossetien-Alania, Stavropol Krai und Krasnodar Krai ergibt sich sowohl aus einer Verhinderung des Aufenthalts der Betroffenen durch eine restriktive Regelungs- und Verwaltungspraxis, als auch aus dem Umstand, dass die Binnenflüchtlinge selbst zögern, sich in Regionen zu wagen, in denen ihnen Behörden und Bevölkerung feindlich gesinnt sind. In anderen Verwaltungsbezirken der Russischen Föderation führen restriktive örtliche Regelungen über die Freizügigkeit und die Aufenthalts- bzw. Niederlassungsfreiheit, die anti-tschetschenische Haltung der Öffentlichkeit und das Bestreben der lokalen Behörden, ethnische Spannungen zu unterdrücken und Terroranschläge zu verhindern, dazu, dass tschetschenischen Binnenflüchtlingen eine echte inländische Fluchtalternative verwehrt bleibt. Im Gegensatz zu Personen, die bereits im Besitz einer dauerhaften Registrierung (an ihrem Wohnsitz) sind, ist es für Personen, die eine vorübergehende Registrierung (an ihrem Aufenthaltsort) besitzen, nicht sichergestellt, dass diese Registrierung überhaupt verlängert wird, oder dass sie nach einer Reise oder einem Auslandsaufenthalt wieder am ursprünglichen Aufenthaltsort verlängert wird. Zwar werden auch Binnenflüchtlinge russischer Ethnie nach Berichten mancher NGOs von der Bevölkerung und den Behörden ihrer Zielgebiete nicht immer freundlich aufgenommen. Viele berichten über Schwierigkeiten bei der Erlangung oder Verlängerung ihrer vorübergehenden Aufenthaltsregistrierung. Anders als dies in vielen Regionen für tschetschenische Binnenflüchtlinge der Fall ist, gibt es jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass ethnische Russen den weit verbreiteten Polizeischikanen ausgesetzt wären. ...
Bei der Beurteilung, ob tschetschenische Asylwerber internationalen Schutz benötigen, sind, ebenso wie bei der Prüfung interner Relokationsmöglichkeiten, zwei Personengruppen zu unterscheiden: Die eine Gruppe umfasst jene ethnischen Tschetschenen, die aus Tschetschenien selbst geflohen sind, die andere jene, die eine dauerhafte Registrierung an einem Wohnsitz außerhalb Tschetscheniens besitzen. (UNHCR Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the Context of the Situation in Chechnya - February 2003, p. 31)
Angesichts dieser Lage und mangels einer echten inländischen Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation für Tschetschenen ist UNHCR unverändert der Auffassung, dass Tschetschenen, die vor ihrem Asylantrag im Ausland ihren ständigen Wohnsitz in Tschetschenien hatten, als Personen angesehen werden sollten, die internationalen Schutz benötigen, da sie entweder:
a) begründete Furcht vor Verfolgung haben und somit die Kriterien des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und dessen Protokoll von 1967 erfüllen, und/oder
b) Tschetschenien wegen einer ernsthaften und allgegenwärtigen Bedrohung ihres Lebens, ihrer persönlichen Sicherheit oder ihrer Freiheit infolge allgemeiner Gewalt oder schwerwiegender Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlassen haben. (UNHCR-Stellungnahme zu Asylsuchenden und Flüchtlingen aus der Tschetschenischen Republik (Russische Föderation), 22.10.2004, S. 1f).
In der Russischen Föderation müssen Personen an ihrem Wohnort ihren dauerhaften und vorübergehenden Aufenthalt registrieren lassen. Die Registrierung erfolgt bei den Innenbehörden und wird im Inlandspass verzeichnet. In der Regel wird die Registrierung des vorübergehenden Aufenthalts für einen Zeitraum von sechs Monaten erteilt. Danach muss die Registrierung erneuert werden. Nach altem sowjetischen Sprachgebrauch nennt man diese Registrierung vielfach noch propiska. Obwohl das propiska System bereits 1991 durch Gesetz abgeschafft wurde, werden entsprechende Regelungen nach wie vor in zahlreichen Städten und Regionen der Russischen Föderation angewandt. Dieses System wird sehr restriktiv und diskriminierend gehandhabt. Tschetschenische Volkszugehörige haben in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten, sich in russischen Regionen außerhalb Tschetscheniens registrieren zu lassen. Derartige auf dem propiska System beruhende Zuzugsbeschränkungen sind aus Moskau und St. Petersburg bekannt, nicht jedoch auf diese beiden Städte beschränkt. Im Gegenteil wird das propiska System vielerorts praktiziert und dadurch tschetschenischen Volkszugehörigen in weiten Teilen Russlands der legale Zuzug und Aufenthalt verwehrt....Tschetschenischen Volkszugehörigen werden durch die restriktive und diskriminierende Anwendung des propiska Systems in der Russischen Föderation wichtige bürgerliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte verwehrt. Verschärft wird dies durch eine Praxis des "racial profiling" bei der Arbeit russischer Polizeibehörden. Die Polizei nimmt also verstärkt Menschen - oftmals allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes - gezielt ins Visier. Die Personalpapiere der betroffenen Personen werden unverhältnismäßig häufiger auf eine ordnungsgemäße Anmeldung hin überprüft. Dabei kommt es nicht selten zu tätlichen Übergriffen oder anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei. Die betroffenen Personen werden genötigt, Bestechungsgelder zu zahlen, um weiteren Schikanen zu entgehen. Darüber hinaus erhält unsere Organisation Informationen über Wohnungsdurchsuchungen aus rassistischen Gründen. Im Zuge der genannten Kontrollen und der Durchsuchungsaktionen laufen die Betroffenen Gefahr, willkürlich inhaftiert zu werden. Oft werden sie von der Polizei automatisch als potentielle Straftatverdächtige betrachtet. Im russischen Polizeigewahrsam ist der in Frage stehende Personenkreis zudem leicht gefährdet, Opfer von Folter und Misshandlungen zu werden....
Angesichts der Erkenntnisse über die praktizierten Zuzugsbeschränkungen für tschetschenische Volkszugehörige in den genannten Gebieten und angesichts des Grades der erwähnten Repressionen und Übergriffe geht amnesty international davon aus, dass sich Tschetschenen in der gesamten Russischen Föderation nicht dauerhaft sicher aufhalten können. Tschetschenische Volkszugehörige haben durch die Verbindung einer anti-tschetschenischen Feindseligkeit in der russischen Gesellschaft mit offiziellen Erklärungen russischer Politiker und Handlungsweisen der Sicherheitskräfte den Status einer ethnischen Gruppe erhalten, die außerhalb des Schutzes durch das Gesetz steht und Opfer von Verfolgung, Erpressung und staatlicher Willkür wird. (AI:
Anfragebeantwortung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof 16.04.2004, Abschnitt 1.1)
Gemäß der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Tschetschenischen Asylsuchenden gibt es keine sichere oder zumutbare inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation für aus Tschetschenien geflohene Personen und die in der Russischen Föderation verfolgten TschetschenInnen. Sie können sich in der Russischen Föderation nicht registrieren lassen und sind ausserdem ständigen Sicherheitsproblemen, Schikanen und Diskriminierungen konfrontiert. In Inguschetien, wo sich die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert hat, werden die dort lebenden vertriebenen TschetschenInnen unter russischem Druck veranlasst, nach Tschetschenien zurückzukehren. Es ist erklärtermassen die Strategie der russischen Regierung und des inguschischen Präsidenten, alle in Inguschetien lebenden TschetschenInnen so rasch wie möglich zur Rückkehr nach Tschetschenien zu bringen. (Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Tschetschenischen Asylsuchenden vom 8.07.2004)
Das Schweizer Bundesamt für Flüchtlinge gelangt nach Beschreibung des Registrierungssystems und der Feststellung, dass in der Realität die freie Wohnsitznahme nicht überall gewährleistet sei, aber es durch Bestechung oder in Einzelfällen mit Unterstützung durch NGOs oder Beratungsstellen möglich sei, eine provisorische Registrierung zu erlangen, zum Schluss, dass nicht in Absolutheit davon gesprochen werden kann, dass Tschetscheninnen und Tschetschenen an keinem Ort der Russischen Föderation in Sicherheit und Menschenwürde leben können. Die vorherrschende Ablehnung von Personen aus dem Kaukasus sei jedoch für alle Personen problematisch, die keine Registrierung vorweisen können. Letztlich entscheide vor allem das Beziehungsnetz und die finanziellen Mittel über ein Bestehen im russischen Alltag. (Schweizer Bundesamt für Flüchtlinge: Innerstaatliche Fluchtalternative für Tschetschenen vom 11.08.2004)
Der Bericht des Menschenrechtszentrums "Memorial" zur Situation der Bürger Tschetscheniens in der Russischen Föderation kommt zum Schluss, dass es in Russland keine inländische Niederlassungsalternative für Bürger Tschetscheniens gibt. (Bericht des Menschenrechtszentrums "Memorial" zur Situation der Menschen aus Tschetschenien in der Russischen Föderation, Juni 2005-Juni 2006, Moskau 2006, S.7)
Bewertung der Quellen zur Frage der Relokationsmöglichkeit:
Aus der Betrachtung der vorliegenden Quellen zur Frage der Relokationsmöglichkeit für Tschetschenen aus der Tschetschenischen Republik zeigt sich zunächst, dass diese dahingehend übereinstimmen, dass die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Russischen Föderation nicht gewährleistet ist, dies einerseits durch spezifische einschränkende Vorschriften in bestimmten (oben genannten) Regionen der Russischen Föderation, andererseits generell durch die (verfassungswidrigerweise) restriktiv erfolgende Handhabung des Registrierungssystems. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes Berlin vom 18.08.2006 unabhängig von der Volkszugehörigkeit (S. 26), sodass nicht nur Tschetschenen aus der Tschetschenischen Republik davon betroffen sind. Festzuhalten ist, dass in den zur Verfügung stehenden Quellen keine Region der Russischen Föderation konkret genannt wird, in denen infolge einer gesetzmäßigen Praxis beim Vollzug des Registrierungssystems die Niederlassungsfreiheit (auch für Tschetschenen aus der Tschetschenischen Republik) verwirklicht ist. Auch von den Verfahrensparteien wurde eine solche Region nicht genannt. Aus dem im Bericht des Auswärtigen Amtes Berlin vom 18.08.2006 enthaltenen Hinweis (S.27), dass eine Registrierung in Südrussland (Regionen Krasnodar, Savropol) wegen der geringeren Kosten für Wohnraum "grundsätzlich leichter" sei als in Moskau, ergibt sich wegen der unmittelbar angeschlossenen Darstellung der Notwendigkeit von Interventionen und der Bezahlung von Bestechungsgeldern in einem nicht näher definierten Anteil ("mitunter") der Fälle ebenfalls nicht, dass dort die Niederlassungsfreiheit für jedermann gewährleistet ist.Im Ad hoc - Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation Tschetschenien) vom 16.02.2004 war am Ende des sonst im herangezogenen aktuellen Bericht (vom 18.08.2006) im Wesentlichen übernommenen Textes des Abschnittes III.2 der folgende Satz enthalten:"Die Frage, ob eine legale Niederlassung von aus Deutschland rückgeführten Tschetschenen in der Russischen Föderation möglich sei, wurde von Memorial - trotz aller bestehenden Schwierigkeiten - bejaht." Der letzte - wesentliche - Satz fehlt im jüngsten Bericht vom 18.08.2006. Auch die aktuellen Berichte von Memorial enthalten keine Hinweise darauf, dass diese seinerzeitige Haltung von der Organisation noch vertreten wird. Dafür heißt es im Bericht nunmehr anschließend:"Nichtregistrierte Tschetschenen können allenfalls in der tschetschenischen Diaspora innerhalb Russlands