TE AsylGH Bescheid 2008/10/01 D12 262798-0/2008

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Veröffentlicht am 01.10.2008
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Spruch

D12 262798-0/2008/4E

 

Schriftliche Ausfertigung des am 30.11.2006 in der öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung mündlich verkündeten

 

BESCHEIDES

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Dr. Lehofer gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 38 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG), idF BGBl. I Nr. 126/2002, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 30.11.2006 entschieden:

 

Der Berufung des A.S. vom 23.12.2005 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.07.2005, FZ. 04 15.977-BAT, wird stattgegeben und A.S. gemäß § 7 iVm § 10 Abs. 2 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG wird festgestellt, dass A.S. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

1. Der Berufungswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Inguschen, ist am 08.08.2004 illegal in das Bundesgebiet eingereist und brachte am selben Tag beim Bundesasylamt einen Asylantrag ein.

 

In der vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmezentrum Ost, am 17.08.2004 durchgeführten Einvernahme brachte er - kurz zusammengefasst - im Wesentlichen vor, er sei Angehöriger Religionsgemeinschaft der Muslime und der Volksgruppe der Inguschen. Er habe 15 Jahre lang in G. gelebt und in den letzten Jahren vor seiner Ausreise als Taxifahrer in Inguschetien gearbeitet. Nachdem in der Nacht von 21. auf 22.06.2004 die Wahabiten 200 Personen umgebracht hätten, seien alle Taxifahrer zum FSB geladen worden. Der Berufungswerber sei damals mehrere Stunden lang verhört worden, da alle Taxifahrer verdächtigt worden seien, den Wahabiten geholfen zu haben, er selbst habe jedoch mit den Wahabiten nichts zu tun gehabt. In Inguschetien würden ständig ethnische Säuberungen durchgeführt, wobei Taxifahrer besonders gefährdet seien. Ein Taxifahrer sei bereits von maskierten Leuten umgebracht worden, weshalb der Berufungswerber Angst um sein Leben habe. Einmal sei er auch Zeuge gewesen, als ein tschetschenischer Junge in seinem Fahrzeug von maskierten Männern erschossen worden sei.

 

Im Rahmen einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, am 04.02.2005 gab der Berufungswerber an, er habe sich bei seiner ersten Einvernahme nicht getraut, Namen anzugeben, da er zu viel Angst um sein Leben gehabt habe. In der Nacht vom 21. auf den 22.06.2004 hätten tschetschenische und inguschische Kämpfer die Hauptstadt kontrolliert. An diesem Abend habe der Berufungswerber einen Bekannten mit dem Taxi gefahren und habe am 23.06. von einem Verwandten, welcher ein hochrangiger Beamter der inguschischen Staatsanwaltschaft gewesen sei, die Information bekommen, dass der Fahrgast vom 21.06. an diesem Geschehen aktiv teilgenommen habe. Der Berufungswerber sei daher Informationsträger gewesen und hätte sich deshalb im Haus seines Onkels versteckt, der Leiter einer Abteilung im republikanischen Innenministerium gewesen sei. Am 28.06. sei ein Wagen mit Sicherheitsleuten zum Vater des Berufungswerbers gekommen, die diesen nach dem Aufenthalt des Berufungswerbers gefragt und gedroht hätten, man würde den Berufungswerber sowieso erwischen und die Schwierigkeiten dann beginnen würden. Man habe dem Berufungswerber die aktive Teilnahme an Geschehnissen vom 21. und 22.06.2004 zur Last gelegt. Zum Zeitpunkt der Vorfälle sei der Berufungswerber zu Hause gewesen. In den Verdacht des FSB sei er gekommen, da jemand gesagt habe, er habe das Auto des Berufungswerbers in der Nähre gesehen. Als der Sicherheitsdienst zu seinem Vater gekommen sei, sei der Berufungswerber bei seinem Onkel im Dorf I. gewesen. Er habe nie Kontakt mit dem Sicherheitsdienst gehabt, sondern sei lediglich am 22.06.2004 von den Leuten des FBS befragt worden, weshalb er so früh von der Arbeit weggegangen sei, wobei keine Verdächtigungen gegen den Berufungswerber ausgesprochen worden seien. Der Berufungswerber gab weiter an, sein Land verlassen zu haben, da er glaubte, zu viel zu wissen, da er die ihm zugetragene Information hatte.

 

Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, den Antrag des Asylwerbers gemäß § 7 AsylG abgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Russland gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zulässig ist. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde der Asylwerber aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen. Dies - kurz zusammengefasst - mit folgender Begründung:

 

Der Berufungswerber habe eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht glaubhaft machen können. So habe er vorgebracht, niemals Probleme mit den Sicherheitsbehörden gehabt zu haben, sondern wäre lediglich einmal von FBS-Leuten kurzfristig gefragt worden, warum er so früh schon zur Arbeit ginge. Er habe sein Heimatland auch unter Verwendung seines eigenen Reisepasses, den ihm der Schlepper aber auf der Reise abgenommen hätte, verlassen. Es sei dazu festzustellen, dass bei einem bestehenden Interesse der heimatlichen Behörden eine legale Ausreise keinesfalls möglich gewesen wäre.

 

Gegen diesen Bescheid hat der Asylwerber fristgerecht berufen und seine bereits getätigten Angaben wiederholt. Darüber hinaus hat der Berufungswerber vorgebracht, dass er seinen kranken Vater im Heimatland zurücklassen musste, welcher aus Sorge um das Leben des Berufungswerbers darauf bestanden habe, dass dieser ins Ausland ausreise.

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat hat über diese Berufung ein ergänzendes Ermittlungsverfahren im Zuge einer Berufungsverhandlung durchgeführt. Im Zuge der mündlichen Berufungsverhandlung wurde Beweis erhoben durch eine ergänzende Parteieinvernahme des Berufungswerbers sowie durch Verlesung und Erörterung folgender vom Verhandlungsleiter beigeschaffter Berichte zur Situation in der Russischen Föderation (Tschetschenien):

 

IHF Protests the Smear Campaign against the Moscow Helsinki Group - NGOs Face Prosecution (International Helsinki Federation for Human Rights, 25 January, 2006)

 

The Crisis in Chechnya and the Northern Caucasus at a Glance - 31 Jan 2006 (International Rescue Committee - IRC)

 

Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich Tschetschenien), Stand: Dezember 2005, vom 15.02.2006)

 

Report by Mr. Alvaro Gil-Robels, Commissioner for Human Rights, on his visit to the Chechen Republic on the Russian Federation 25-26 February 2006

 

Anfragebeantwortung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland für den Bayrischen Verwaltungsgerichtshof (Zahl: 508-516.80/44374 vom 03.03.2006)

 

Country Report on Human Rights Practises 2005 (U.S. Department of State, March 08, 2006)

 

Gutachten von Herrn Univ.-Prof. H. (Universität Wien, Institut für Politikwissenschaften vom 24.04.2006)

 

Gutachten von Herrn M.M. zur Lage der Frauen in Tschetschenien (Landesverteidigungsakademie vom 06.05.2006)

 

Die Tschetschenen sind Gefangene ihrer Angst (von Frau Anne Nivat, Deutsche Ausgabe Le Monde Diplomatique vom 12.05.2006)

 

Moskau zieht Truppen aus Tschetschenien ab (APA NZZ Nr. 185 vom 12.08.2006, Seite 7, Ressort International)

 

Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich Tschetschenien), Stand: Juli 2006, vom 18.08.2006)

 

Brautterror Tschetschenien, Die Willkür der Milizen des von Moskau eingesetzten Premiers Kadyrow kennt keine Grenzen (APA "profil" Nr. 26/06 vom 04.09.2006, Seite 6 Ressort Ausland)

 

Russia International Religious Freedom Report 2006 (U.S. Department of State, September 15, 2006)

 

Jamestown Foundation, Andrei Smirnov, Dagestans and Ingushetia hidden insurgency, 04.11.2006

 

Dagestan an Ingushetia mujaheddin show their faces, Jamestown.org, 03.11.2006

 

The gruelling experiences of young Ingushetia men in the Russian amry, 03.11.2006, iwpr.net

 

Agencies, Spy contact blames Russia for death, 25.11.2006

 

Auf Grundlage der vom Bundesasylamt durchgeführten Erhebungen und des dargestellten ergänzenden Ermittlungsverfahrens wird folgender Sachverhalt festgestellt und der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

Der Berufungswerber ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Inguschen. Er wurde am 00.00.1973 in V. in Kasachstan geboren, wo er bis zu seinem 7. Lebensjahr aufhältig war. Im Jahr 1980 übersiedelte der Berufungswerber mit seiner Familie nach G., Tschetschenien, und lebte dort bis 1994, danach zog der Berufungswerber gemeinsam mit seinem Vater nach Inguschetien, wo er sich bis zu seiner Ausreise aus der Russischen Föderation aufhielt. Der Berufungswerber besuchte von 1980 bis 1990 in G. die Grundschule, und von 1991 bis 1993 die Wirtschaftsuniversität G., die er jedoch abbrechen musste, als nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens das Institut für ungültig erklärt wurde. Von 1986 bis 1999 arbeitete der Berufungswerber darüber hinaus als Berufssportler und in Gelegenheitsjobs auf Baustellen. Von 2002 bis 2004 arbeitete der Berufungswerber als Taxifahrer. Der Berufungswerber wohnte zuletzt gemeinsam mit seinem Vater in einem Miethaus im inguschischen Dorf

D..

 

In der Nacht von 21. auf 22.06.2004 kam es in den Städten Nazran, Slipcovsk sowie Stanica Troickaja zu einem Überfall durch tschetschenische und inguschische Kämpfer. Am nächsten Tag wurde der Berufungswerber gemeinsam mit einigen anderen Taxifahrern zum FSB vorgeladen, da ihnen unterstellt wurde, von dem bevorstehenden Angriff gewusst zu haben und die Sicherheitsbehörden davon nicht informiert zu haben. Der Berufungswerber wurde in diesem Zusammenhang mehrere Stunden festgehalten und befragt, zu Übergriffen ist es dabei jedoch nicht gekommen. Der Berufungswerber erfuhr später, dass einer seiner Fahrgäste, den er vor dem Vorfall mehrmals in seinem Taxi befördert hatte, an den Geschehnissen teilgenommen hatte, weshalb der Berufungswerber am 24.06.2004 seinen Heimatort verließ und sich bis zu seiner Ausreise aus der Russischen Föderation bei einem Onkel versteckte. Vier Tage später wurde der Vater des Berufungswerbers von Sicherheitsleuten aufgesucht und nach dem Aufenthaltsort des Berufungswerbers befragt.

 

Der Berufungswerber verließ die Russische Föderation schleppergestützt mit seinem eigenen Auslands- und Inlandsreisepass, welche ihm in der Ukraine vom Schlepper abgenommen wurden.

 

In Inguschetien lebt noch ein Onkel väterlicherseits des Berufungswerbers, bei welchem der Berufungswerber nach seinem Umzug nach Inguschetien ein halbes Jahr gelebt hatte, der jedoch aufgrund der Verpflichtungen gegenüber seiner eigenen Familie den Berufungswerber und dessen Vater nicht länger beherbergen konnte. Die Eltern des Berufungswerbers sind verstorben.

 

Zur politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation (Tschetschenien sowie Inguschetien) wird Folgendes festgestellt:

 

Allgemeine politische Lage

 

Im Oktober 1999 begann der sog. "Zweite Tschetschenienkrieg", im offiziellen russischen Sprachgebrauch als "Antiterroristische Operation" bezeichnet. Nach Ende der offenen Kämpfe im Frühjahr 2000 und der Einsetzung einer Moskau-freundlichen Übergangsverwaltung wurde die vorherige tschetschenische Regierung unter dem 1997 gewählten Präsidenten Maschadow und deren Sicherheitskräfte zu "Rebellen". Diese gingen mit Sprengstoffanschlägen, Feuerüberfällen, Hubschrauberabschüssen und Geiselnahmen aus dem Untergrund gegen die - aus ihrer Sicht - russischen "Besatzer" vor. ...

 

Auch nach der Ermordung des tschetschenischen Präsident Ahmed Kadyrow am 09.05.2004 setzte Moskau seine Strategie des "politischen Prozesses" fort, Verantwortung in Moskau-freundliche tschetschenische Hände zu übertragen. Am 29.08.2004 wurde der bisherige Innenminister Alu Alchanow zum neuen Präsidenten gewählt. Unabhängige Beobachter kritisierten die Wahl als stark manipuliert. "Starker Mann" in der Republik ist der Sohn des ermordeten Präsidenten, Ramsan Kadyrow, Vize-Premier und Befehlshaber über den Sicherheitsdienst. Dessen Mitarbeiter, den sog. "Kadyrowzy" werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Morde) zur Last gelegt.

 

Kadyrows Stellung wurde durch die Parlamentswahlen in Tschetschenien vom 27. November 2005 gestärkt, die mit einem deutlichen Sieg der kremlnahen Partei "Einiges Russland" endeten. Menschenrechtler kritisierten, dass es bei diesen Wahlen massive Unregelmäßigkeiten gegeben habe.

 

Seit dem Mord an Ahmed Kadyrow nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den Rebellen und den russischen/tschetschenischen Sicherheitskräften an Umfang und Schärfe zu. Die Kette der durch die Rebellen verübten Terror- und Selbstmordanschläge in- und außerhalb Tschetscheniens reißt nicht ab. Höhepunkt war Anfang September 2004 die blutige Geiselnahme in der Schule von Beslan/Nordossetien, bei der 330 Menschen (davon 168 Kinder) getötet und hunderte Kinder und Erwachsene z.T. schwer verletzt wurden. Am 13.10.2005 überfielen 200 bis 240 Rebellen in Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien, verschiedene Objekte der Sicherheitskräfte, u. a. das Hauptquartier der Spezialeinheiten des Innenministeriums (OMON). Dabei kamen nach offiziellen Angaben 92 Rebellen, 35 Polizisten und 10 Zivilisten ums Leben; 22 Polizisten und 23 Zivilisten seien verletzt worden - inoffizielle Zahlen liegen zum Teil erheblich höher.

 

Präsident Putin will die russischen Truppen in Tschetschenien deutlich reduzieren. Schon jetzt regiert dort de facto unangefochten Ramsan Kadyrow, der Sohn des ermordeten Ex-Präsidenten. Seine Autorität verdankt er seinen Kämpfern und einem sichtbaren Wiederaufbau. Doch von Rechtsstaatlichkeit ist Tschetschenien noch weit entfernt. ...

 

Nach Kadyrows Ermordung wurde dessen Privatarmee - die "Kadyrowzi" - in mehreren Etappen ausgebaut und schliesslich in offizielle Streitkräfte des Innenministeriums umgewandelt. Im Ergebnis hat sich eine mehrere tausend Mann starke Truppe gebildet, die zum grossen Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfern besteht und deren Kommandanten ihren Eid auf Kadyrow geschworen haben. Neben diesen Kräften gibt es noch zwei tschetschenische Regimenter, die unter föderalem Kommando stehen, sowie die regulären russischen Truppen. Kadyrow aber hat erfolgreich die Praxis seines Vaters fortgesetzt, Rebellen durch Argumente, Geld und auch Gewalt - zum Beispiel durch die Entführung von Angehörigen - zum Überlaufen zu bewegen. Im Kampf gegen die Separatisten erwiesen sich die Instrumente Kadyrows als eindeutig effektiver als der Einsatz russischer Soldaten. Zwar herrscht unter den russischen Militärs ein erhebliches Misstrauen gegenüber den Kämpfern Kadyrows. Doch Putins Entscheid, die russische Militärpräsenz zu reduzieren, ist auch ein Zeichen der Anerkennung für Kadyrow. Nach und nach hat der Kreml den wegen seiner Brutalität und mangelnden Bildung geschmähten, aber schlauen und offensichtlich mit einem sicheren Machtinstinkt versehenen Kadyrow belohnt und aufgebaut. ... Ebenso bedeutsam wie auch trügerisch ist der von Menschenrechtlern gemeldete Rückgang von Gewaltverbrechen. Die Zahl der Morde und Verschleppungen sei im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen, meldete die angesehene Menschenrechtsorganisation Memorial Anfang August. In ihrem Bericht dokumentiert Memorial 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen seit August des vergangenen Jahres. Für das vorherige Jahr hatte Memorial noch 310 Morde und 418 Verschleppungen aufgelistet. Menschenrechtler geben jedoch zu bedenken, dass die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte, da unter Kadyrow ein Regime der Angst herrsche, das dazu führe, dass viele Menschenrechtsverletzungen aus Angst vor Repressalien erst gar nicht mehr angezeigt würden. Wie viele Verbrechen aus welchen Motiven auf das Konto der Anhänger Kadyrows gehen, bleibt häufig ungeklärt.

 

Während die Rebellen spätestens seit der Ermordung des radikalsten Terroristenführers Schamil Bassajew am 10. Juli entscheidend geschwächt sind und ihren Kampf um die Unabhängigkeit längst verloren haben, ist an die Stelle des alten Konfliktes nun eine Atmosphäre der weitgehenden Willkür und Rechtlosigkeit unter dem autoritären Regime Kadyrows getreten. Paradoxerweise hat Kadyrow für Tschetschenien von Moskau Freiräume abgerungen, für welche die Rebellen vergeblich ins Feld zogen. Wie stark die Verbitterung und mögliche Widerstände innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft gegenüber dem Machthaber sind, ist von aussen schwer zu beurteilen. Für die Beobachter stellt sich heute nur die Frage, wann Kadyrow auch das Placet Putins für das Präsidentenamt erhält. Dabei ist Kadyrows Machtfülle nicht wenigen im Kreml ein Dorn im Auge, schliesslich könnte er irgendwann zu stark und unkontrollierbar werden. Doch zurzeit, so scheint es, hat Moskau in Tschetschenien kaum eine Alternative.

 

Der Tschetschenienkonflikt hat längst auf die Nachbarrepubliken (insbesondere Inguschetien und Dagestan, aber auch Kabardino-Balkarien und Nordossetien) übergegriffen. Wesentlicher Faktor der Instabilität sind die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der gesamten Region, die einhergehen mit Korruption und Clanwirtschaft. Föderale Gelder kommen nur zu einem geringen Teil am Bestimmungsort an.

 

Menschenrechts- und Sicherheitslage in Tschetschenien

 

In Tschetschenien finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. An erster Stelle steht dabei das "Verschwindenlassen" von Menschen - es herrscht deshalb weiter ein "Klima der Angst" (Memorial). Der Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin schreibt in seinem Jahresbericht vom 21.04.2006 in Bezug auf Tschetschenien: "Unmittelbaren Einfluss auf die Menschenrechtslage in Russland und auf das gesellschaftliche Klima hat nach wie vor die Situation in Tschetschenien. (...) Die Lage in Tschetschenien bleibt schwierig und angespannt".

 

Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und Presse berichten, dass es auch nach Beginn des von offizieller Seite festgestellten "politischen Prozesses" zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung komme, dabei insbesondere zu willkürlichen Festnahmen, Entführungen, Verschwindenlassen und Ermordung von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstählen. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass reales Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Den "Kadyrowzy" werden von Menschenrechtsorganisationen zahlreiche dieser Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Nach Human Rights Watch haben die "Kadyrowzy" 2004/05 die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst; Memorial hält sie für eine kriminelle Vereinigung.

 

Menschenrechtsorganisationen berichten außerdem von zahlreichen Fällen von "Verschwindenlassen" von Zivilisten in Tschetschenien. Im Jahre 2005 wurden nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 wurden laut "Memorial" 103 Personen entführt, von denen 50 befreit und sechs getötet worden seien; 38 seien verschwunden, neun im Gefängnis. Da Memorial nur etwa 25 - 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein. Seit Beginn des 2. Tschetschenienkrieges im Jahre 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. In einer amtlichen Datenbank über Personen, die seit 1991 entführt wurden, befanden sich im Januar 2006 nach Angaben von Präsident Alu Alchanow die Namen von 2.548 Personen.

 

Nach Beobachtungen des ehemaligen Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine Besorgnis erregende Entwicklung. .... Der tschetschenische Ministerpräsident Ramsan Kadyrow hat sich öffentlich für gesetzliche Regelungen ausgesprochen, die die Strafverfolgung von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen ermöglichen.

 

In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater "Nord-Ost" (Oktober 2002) kam es zu "Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien, die unter der Leitung des stv. Oberbefehlshabers der föderalen Truppen standen. Es wurde systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften (Streitkräfte, Innere Truppen, Spezialkräfte der Geheimdienste) umstellt und durchsucht. ..

 

Schwere Verbrechen und Vergehen werden auch von Seiten der Rebellen begangen (Beslan). ...

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter deren Ausmaß zurück, so dass nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein "Klima der Straflosigkeit" entstanden sei.

 

Menschenrechtsorganisationen berichten, dass anscheinend aufgrund der Beteiligung von Selbstmordattentäterinnen an zahlreichen Terroranschlägen Frauen in stärkerem Maße ins Visier der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geraten.

 

Das (erg.: deutsche) Auswärtige Amt hat keine Kenntnis von Fällen, in denen Personen, die Separatisten in Tschetschenien unterstützt haben, verurteilt worden sind. Aus Agenturmeldungen sind einige Fälle bekannt, in denen es zu Verhaftungen von Personen gekommen ist, die von tschetschenischen oder föderalen Behörden verdächtigt wurden, für Rebellen unterstützende Dienste geleistet zu haben, wobei hier keine Festlegung auf die Zeit des zweiten Tschetschenienkrieges erfolgen kann.

 

Auch Menschenrechtsorganisationen sind keine Verurteilungen von Unterstützern bekannt geworden. Sie weisen allerdings auf Fälle hin, in denen solche Personen festgenommen und ihnen danach willkürlich schwere Verbrechen unterstellt worden sind. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen können Umgang und Bekanntschaft mit tschetschenischen Kämpfern grundsätzlich gefährlich werden.

 

Besonders seit Beginn des sog. "Zweiten Tschetschenienkrieges" (Herbst 1999) wurden auch die in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation lebenden Tschetschenen - allein in Moskau gibt es etwa 200.000, davon jedoch laut Volkszählung von 2002 lediglich 14.465 offiziell registrierte - Ziel benachteiligender Praktiken der Behörden. Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, z.T. ohne rechtliche Begründung, Festnahmen, Strafverfahren aufgrund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Offensichtliche Diskriminierungen, wie das Fälschen von Beweismitteln oder die Verfolgung durch die Miliz, sind im Vergleich zum ersten Tschetschenienkrieg seltener geworden. Subtile Formen der Diskriminierung bestehen fort. Tschetschenen haben zum Beispiel weiterhin Schwierigkeiten, eine Wohnortregistrierung auf legalem Wege zu erlangen.

 

Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist nicht gewährleistet. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Zwar hat auch nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen die Anzahl von Gewaltakten sowohl von Seiten der durch Fahndungserfolge der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geschwächten Rebellen als auch von Seiten der Sicherheitskräfte selbst zuletzt abgenommen, doch sind immer noch willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschläge an der Tagesordnung... .

 

Im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten hat sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden. Dem Auswärtigem Amt sind jedoch keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden. Am 24.01.2006 hat das tschetschenische Parlament eine Ausschuss eingerichtet (Vorsitzender: Parlamentspräsident Abdurachmanow), der Diskriminierungen gegen Tschetschenen aufklären und die Suche nach Vermissten überwachen soll.

 

Die Bevölkerung begegnet Tschetschenen größtenteils mit Misstrauen. Hier wirken sich latenter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Teilen der russischen Bevölkerung und insbesondere die negative Wahrnehmung der Tschetschenen aus. Berichte über Kontakte der tschetschenischen Rebellen zu den Taliban und Osama Bin Laden, die Geiselnahme 2002 in Moskau und die Anschläge 2004 haben dies noch verstärkt.

 

Fremdenfeindliche Ressentiments haben in der Bevölkerung in den letzten Jahren zugenommen und beschränken sich längst nicht mehr auf die ältere Generation und die weniger gebildeten Schichten. Sie richten sich insbesondere gegen Tschetschenen und andere Kaukasier, so genannte "Tschornyje" ("Schwarze"). Der Tschetschenienkonflikt und die Angst vor Terroranschlägen verstärken diese Tendenz.

 

Versorgungslage

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in letzter Zeit etwas verbessert (in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hingegen eher verschlechtert). Der zivile Wiederaufbau der völlig zerstörten Republik konzentriert sich auf die Hauptstadt Grosny. Von den im föderalen Budget 2006 für den Wiederaufbau vorgesehenen Mitteln ist im ersten Halbjahr 2006 noch kein Anteil ausgezahlt worden.

 

Auch die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist derzeit blockiert. Nach Angaben von Präsident Alchanow sind bisher 2 Milliarden Rubel an Kompensationszahlungen geleistet worden.

 

Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Der russische Migrationsdienst gibt nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen offen zu, dass von den Entschädigungszahlungen 15 Prozent nach Moskau, 15 Prozent an die lokalen Behörden, zehn Prozent an die zuständige Bank und ein gewisser Prozentsatz an den Migrationsdienst selbst gehen. Verschiedene Schätzungen u.a. des (am 01.04.2006 aus seinem Amt ausgeschieden) Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen.

 

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist vom Nahrungsmittelangebot her gewährleistet. Allerdings leben immer noch - trotz erheblicher sozialpolitischer Fortschritte - rund 20 Mio. Russen (knapp 15% der Bevölkerung) unter dem statistischen Existenzminimum. Es gibt staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe für bedürftige Personen auf sehr niedrigem Niveau), die jedoch faktisch noch nicht einmal den Grundbedarf deckt. 2006 werden für Bildung, Gesundheit und sozialen Wohnungsbau (im Rahmen der sog. "Nationalen Projekte") zusätzlich 180 Milliarden Rubel (ca. 5,3 Milliarden Euro) ausgegeben. Kritiker befürchten indes, dass das Geld in falsche Hände geraten könne.

 

Die tschetschenische Bevölkerung lebt unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft, insbesondere in Grosny. Internationalen Hilfsorganisationen ist es nur sehr begrenzt und punktuell möglich, Nahrungsmittel in das Krisengebiet zu liefern. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau Tschetscheniens sachgerecht verwendet werden. Das IKRK hat im Jahre 2006 für humanitäre Projekte im Nordkaukasus 20 Mio. US$ vorgesehen.

 

Etwa 50% des Wohnraums ist seit dem ersten Krieg (1994-1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80% (russischer Durchschnitt: 7,6%). Das reale Pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa ein Zehntel des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Viel Geld wird in Tschetschenien mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient. Zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus der Ferne schickt.

 

Die medizinische Grundversorgung in Russland ist theoretisch grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu.

 

Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten. So stehen beispielsweise seit April 2006 am Republikanischen Krankenhaus in Grosny zehn Dialysegeräte zur Verfügung, so dass Patienten mit Nierenerkrankungen nunmehr auch in Tschetschenien behandelt werden können.

 

Ausweichmöglichkeiten und Relokation

 

Besorgniserregend bleibt die humanitäre Notlage der tschetschenischen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens. Neben über 200.000 Binnenvertriebenen innerhalb Tschetscheniens befanden sich nach VN-Angaben im April 2006 in der Datenbank für humanitäre Hilfe noch 24.162 tschetschenische Binnenvertriebene in Inguschetien (8.828 in Übergangs-, 15.334 in Privatunterkünften). Auch in den übrigen nordkaukasischen Nachbarrepubliken halten sich tschetschenische Binnenflüchtlinge auf: ca. 10.000 in Dagestan, 4.000 in Nordossetien, 10.000 in Kabardino-Balkarien und 23.000 in Karatschajewo-Tscherkessien. Darüber hinaus gibt es praktisch in allen russischen Großstädten eine große, durch Flüchtlinge noch wachsende tschetschenische Diaspora: 200.000 in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau), 70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion (Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 05.06.2006). Tschetschenische Flüchtlinge leben auch in Georgien (nach letzter offizieller Registrierung vom Dezember 2004 2.619 tschetschenische Flüchtlinge), Aserbaidschan (ca. 8.000) und Kasachstan (ca. 12.000). Etwa 31.000 tschetschenische Flüchtlinge sollen sich in Westeuropa aufhalten. Die russische Regierung arbeitet auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Binnenflüchtlinge (etwa 500.000) hin. Als Ausdruck einer angeblichen "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien wurden die letzten Zeltlager in Inguschetien aufgelöst (das Lager "Bart" am 01.03.2004, "Sputnik" am 01.04.2004 und "Satsita" am 10.06.2004). Trotz finanzieller Anreize für eine Rückkehr nach Tschetschenien ist die Zahl der Flüchtlinge in Inguschetien aber nach wie vor hoch.

 

Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge in den Übergangsunterkünften in der russischen Teilrepublik Inguschetien sind unter allen Aspekten schwierig. Inguschetien und das russische Katastrophenschutzministerium können nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe leisten und sind mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Unter Leitung des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen (OCHA) leisten zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen seit Jahren umfangreiche humanitäre Hilfe in der Region. OCHA stellte den rund 1,2 Mio. betroffenen Menschen im Nordkaukasus auch 2005 wieder knapp 62 Mio. US-$ zur Verfügung. Gleichzeitig fahren die russischen Migrationsbehörden die Versorgung der Binnenflüchtlinge in Inguschetien allmählich zurück. Auch UNHCR und Dänischer Flüchtlingsrat planen, die Zahl der Hilfsberechtigten unter den Flüchtlingen in Inguschetien ab Mai 2006 zu verringern; u.a. sollen Familien ohne Behinderte und ohne Familienangehörige über 50 Jahre nicht mehr vom Lebensmittelprogramm erfasst werden (erwartete Reduzierung der bisher erfassten 25.000 Flüchtlinge um 9 %). Aus Sicherheitsgründen ist die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Tschetschenien nur deutlich eingeschränkt möglich.

 

In Tschetschenien wurden für die Flüchtlinge provisorische Unterkünfte errichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten der inzwischen in Tschetschenien fertig gestellten zeitweiligen Unterkünfte reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Außerdem berichten UNICEF und andere VN-Organisationen von desolaten sanitären Verhältnissen und schlechten Lebensbedingungen in großen Teilen der von ihnen betreuten Übergangsunterkünfte in Grosny (Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, unbefriedigende Sicherheitslage.

 

Die Weiterreise von tschetschenischen Flüchtlingen in andere Teile der Russischen Föderation ist grundsätzlich möglich, trifft aber sowohl auf Transportprobleme als auch auf fehlende Aufnahmekapazitäten. Soweit zur Weiterreise die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, kann sie bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. In großen Städten (z.B. in Moskau und St. Petersburg) wird der Zuzug von Personen jeglicher Volkszugehörigkeit erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.

 

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen, besonders in Moskau, häufig die Registrierung verweigert wird. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Viele Vermieter weigern sich, entsprechende Vordrucke auszufüllen, weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen. Dies ist ein generelles Problem, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit des Mieters. Kaukasier dürften jedoch größere Probleme haben als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden

 

Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber Rückgeführten im Besonderen bei der Niederlassung verstärkt. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Vorgehensweise der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern .Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können.

 

Lage in den Nachbarrepubliken im Nordkaukasus

 

Der ungelöste Tschetschenienkonflikt hat längst auch auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus übergegriffen und destabilisiert die gesamte Region. Neben Tschetschenien am meisten betroffen sind Inguschetien und Dagestan. Die gesamte Region ist wirtschaftlich und sozial eine der am meisten benachteiligten in der Russischen Föderation. Sie leidet in ganz besonderem Maße unter Korruption, ethnischen Spannungen und der Machtausübung durch einzelne Clans.

 

a. In Dagestan finden seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Ziel von Anschlägen sind Polizeiautos und -patrouillen, Bahnlinien, Gas- und Stromleitungen und öffentliche Gebäude. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen, allen voran Festnahmen und Folter. Diese Übergriffe sind willkürlich, nicht gegen spezielle Bevölkerungsgruppen gerichtet. Rebellen begehen gezielt Anschläge auf Angehörige der Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen und politische Führungskader.

 

b. In Inguschetien wird die Sicherheitslage inzwischen von internationalen Organisationen (u.a. den VN) als schlechter als in Tschetschenien eingeschätzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Inguschetien zu schweren Menschenrechtsverletzungen einschließlich extralegaler Tötung und dem "Verschwinden" von Zivilisten - verübt durch russische wie einheimische Sicherheitskräfte und tschetschenische Rebellen, denen sich immer mehr Inguschen anschließen. Zu Beginn des Jahres 2006 kam es in Inguschetien auch zu gezielten Übergriffen auf russischstämmige Bewohner, deren Zahl durch ein gezieltes Regierungsprogramm wieder erhöht werden sollte (eine zuständige Verwaltungsangehörige wurde ermordet). Die Wirtschaftslage Inguschetiens ist prekär. Der Anteil der föderalen Mittel am Haushalt der Republik ist mit 89,2 % sogar noch höher als in Tschetschenien (dort 80,6). Die Perspektivlosigkeit vieler junger Männer ist ein Nährboden für Gewalt.

 

c. Die Geiselnahme von Beslan 2004 und die Kämpfe in Naltschik im Herbst 2005 zeigen, dass auch vormals eher ruhige Republiken wie Kabardino-Balkarien und Nordossetien zunehmend in die Gewaltspirale einbezogen werden. Urheber der Anschläge sind verschiedene islamistische Gruppierungen, die untereinander vernetzt sind und zum Teil aus dem Ausland, zum Teil aber von korrupten Sicherheitskräften und dem Militär mit Waffen versorgt werden. Der Kampf der russischen und einheimischen Sicherheitskräfte gegen den Terrorismus nimmt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen immer brutalere Formen an. Der Rebellenüberfall auf Naltschik vom Herbst 2005 bildete den Höhepunkt einer zunehmenden Zahl von Übergriffen bewaffneter Kämpfer und Banden. Die föderalen und republikanischen Sicherheitskräfte reagierten darauf auch in Kabardino-Balkarien mit Säuberungsoperationen. Kein Monat vergeht, ohne dass dem Auswärtigen Amt Fälle von tödlichen Auseinandersetzungen in Kabardino - Balkarien bekannt werden. Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und Mord an "Terrorverdächtigen" sind nach übereinstimmenden Angaben aller Beobachter im ganzen Nordkaukasus an der Tagesordnung. Als besonders erschreckendes Beispiel im Zusammenhang mit dem Vorgehen der Behörden in Kabardino-Balkarien gegen islamistische Tendenzen berichtete Memorial den Fall einer Frau Gasiewa, die am 20.06.2005 von einem Milizionär erschlagen wurde, angeblich weil sie traditionellislamische Kleidung trug. Auch die verheerende Wirtschaftslage führt vor allem bei der jungen Generation zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Erlittene Misshandlungen resultieren nicht selten in Racheakten an den Sicherheitskräften.

 

Die russische Regierung ist sich der Risiken in der Südregion bewusst. Nach dem Geiseldrama von Beslan wurde der bisherige Leiter der Präsidialadministration, Dmitri Kosak, als Bevollmächtigter in den Nordkaukasus entsandt. Er hat auch öffentlich die soziale und wirtschaftliche Misere und die Korruption angeprangert, ohne jedoch eine Lösung für die zum Teil jahrhundertealten Konflikte in der Region aufgezeigt zu haben. Die von Moskau verfolgte repressive Politik der "starken Hand" gegenüber den Separatisten und der "Tschetschenisierung" des Konflikts hat bislang trotz der Beteuerungen der russischen Regierung, es gebe in Tschetschenien keine kriegerischen Handlungen mehr, nicht zu einer grundlegenden Befriedung der Lage im Nordkaukasus geführt (beispielhaft gezeigt durch einen Anschlag auf russische Soldaten mit mindestens sieben Toten am 04.07.2006).

 

Diese Feststellungen gründen sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Zu den vom Berufungswerber vorgebrachten, seine Person betreffenden

Fluchtgründen:

 

Die Feststellungen zur Identität und zu den Fluchtgründen des Berufungswerbers ergeben sich aus seinen niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt und der ergänzenden Einvernahme in der Berufungsverhandlung sowie aus den vorgelegten Dokumenten (Bestätigungen über Fahrschulprüfungen sowie Bestätigung der staatlichen Pensionsversicherung der Russischen Föderation, vgl Beilagen ./A - ./D zu OZ 3).

 

Das Vorbringen des Berufungswerbers zu seinen Fluchtgründen erscheint sowohl aufgrund seiner detaillierten Schilderung der Erlebnisse als auch vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Situation im Heimatland des Berufungswerbers glaubwürdig.

 

Der Berufungswerber machte bereits in seinen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt zu den Umständen und Hintergründen seiner Verhaftung und Befragung ausführliche Angaben. In der mündlichen Berufungsverhandlung gab er übereinstimmend mit seinem bisherigen Vorbringen an, man habe ihm vorgeworfen, sein Fahrzeug sei gesehen worden und man habe ihn nach einem Fahrgast befragt, den er vor den Zwischenfällen befördert habe und der darin verwickelt gewesen sei, und vermochte ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse zu zeichnen. Zu den Ausführungen des Bundesasylamtes im angefochtenen Bescheid, dass aus dem gesamten Vorbringen kein relevanter Grund für die Gewährung von Asyl für den Antragsteller erkennbar gewesen sei, ist zu bemerken, dass der Berufungswerber schlüssig und nachvollziehbar darlegen konnte, dass er einerseits von Angehörigen des FSB verhaftet und nach den Vorkommnissen des 21./22. Juni befragt worden war, sowie dass ihm hierbei unterstellt worden sei, an terroristischen Aktivitäten beteiligt oder zumindest davon informiert gewesen zu sein und Beteiligte gekannt habe, und dass andererseits auch nach der Abreise des Berufungswerbers aus seinem Heimatort dessen Vater von Beamten des Sicherheitsdienstes aufgesucht und nach dem Aufenthaltsort des Berufungswerbers befragt worden sei.

 

Das Vorbringen des Berufungswerbers, wonach er nach den Überfällen in Inguschetien in der Nacht von 21. auf 22. Juni 2004 in das Blickfeld der russischen Behörden geraten sei, erscheint auch unter Berücksichtigung der Situation in seinem Heimatland, wie sie in den herangezogenen internationalen Berichten beschrieben wird, plausibel. Daher ist die Befürchtung des Berufungswerbers, durch die russischen Sondereinheiten in Tschetschenien und Inguschetien bzw. rivalisierende Clans aufgrund der Vermutung seiner Beteiligung an terroristischen Aktivitäten überwacht zu werden und Übergriffen ausgesetzt zu sein, keineswegs realitätsfremd.

 

Zusammengefasst sieht die Berufungsbehörde demnach keinen hinreichenden Grund, dem Vorbringen zu den Fluchtgründen die Glaubwürdigkeit zu versagen.

 

Die Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation einschließlich Tschetschenien gründen sich auf die zitierten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen die Verfahrensparteien nicht entgegengetreten sind, besteht für die erkennende Behörde kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Mit 01.07.2008 hat der Gesetzgeber den Asylgerichtshof als unabhängige Kontrollinstanz in Asylsachen eingerichtet. Die maßgeblichen verfassungsmäßigen Bestimmungen bezüglich der Einrichtung des Asylgerichtshofes befinden sich in den Art. 129c ff. B-VG. Gemäß Art. 151 Abs. 39 Z. 1 B-VG wird mit 01.07.2008 der bisherige unabhängige Bundesasylsenat zum Asylgerichtshof. Laut Z. 4 leg. cit. sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen. Bereits aufgrund der genannten Bestimmungen und der in ihnen erkennbar vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Kontinuität ergibt sich, dass der Asylgerichtshof auch für die schriftliche Ausfertigung von mündlich verkündeten Bescheiden des unabhängigen Bundesasylsenates zuständig ist. Im vorliegenden Fall wurde der Berufungsbescheid mit o. a. Spruch am 30.11.2006 und damit vor Einrichtung des Asylgerichtshofes beschlossen und öffentlich verkündet.

 

Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. Das gegenständliche Verfahren ist somit nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997, idF BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG) zu führen.

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling im Sinne des AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die "begründete Furcht vor Verfolgung". Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiver Weise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen stellen im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr dar, wobei hiefür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist.

 

Im vorliegenden Sachverhalt ist die erkennende Behörde der Ansicht, dass die Furcht des Berufungswerbers vor politisch und ethnisch motivierter Verfolgung wohlbegründet ist.

 

Nach dem glaubhaften Asylvorbringen des Berufungswerbers zum Entscheidungszeitpunkt in Verbindung mit den eingeführten aktuellen Beweismitteln und dem aktuellen Wissensstand betreffend der Situation von Tschetschenen und Inguschen in Tschetschenien oder Inguschetien, die sich schon seit einiger Zeit außerhalb des Heimatlandes befinden, sowie wenn Angehörige oder Verwandte bereits als Kämpfer in Erscheinung getreten sind, sowie aufgrund der gegenseitigen Schuldzuweisungen, bzw. Kämpfen unter den Clans bzw. gegen die Sondereinheiten der Russen, sowie unter Berücksichtigung der gegenseitigen Gewaltausübung, extraglegalen Liquidierungen, Entführungen, Erpressungen gegen vermutete Gegner, bzw. Spione durch verschiedene tschetschenische und inguschische Clans, bzw. die russischen Einheiten in Inguschetien, wobei auf Grund des individuellen Vorbringens des Asylberufungswerbers auch die willkürliche Unterstellung von terroristischen Aktivitäten auf Grund des Untertauchens oder Nichtauffindens in Betracht zu ziehen ist, insbesondere auch da der Vater des Berufungswerbers nach dessen Abreise von Beamten des Sicherheitsdienstes aufgesucht und nach dem Aufenthaltsort des Berufungswerbers befragt wurde, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen, dass der Berufungswerber einer asylrechtlich relevanten Verfolgung durch die russischen Behörden, ausgesetzt ist.

 

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegen somit wegen der unterstellten aktiven terroristischen Tätigkeit durch russische Sicherheitsbehörden als auch durch verfeindete tschetschenische Clans, in Verbindung mit der Ethnie des Berufungswerbers, aktuelle Gründe von asylrelevanten Verfolgungen im Sinne der GFK vor.

 

Darüber hinaus ist aufgrund der Länderfeststellungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Berufungswerber außerhalb Inguschetiens asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt wäre oder dagegen keinen effektiven behördlichen Schutz zu erwarten hätte.

 

Eine interne Fluchtalternative in der Russischen Föderation kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Wie aus den getroffenen Feststellungen hervorgeht, wäre es dem Berufungswerber wegen der generell gegenüber Kaukasiern praktizierten Restriktionen beim Erwerb von Zuzugsgenehmigungen praktisch unmöglich, sich außerhalb Tschetscheniens oder Inguschetiens niederzulassen und sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Der Berufungswerber verfügt auch nicht über Angehörige außerhalb Tschetscheniens oder Inguschetiens, die ihn im Falle eines Umzuges in eine andere Region der Russischen Föderation unterstützen könnten. Auch hat der Berufungswerber bereits durch mehrfache Umzüge gemeinsam mit seinem Vater versucht, bei Verwandten Unterkunft zu nehmen, diese waren jedoch nicht in der Lage, den Berufungswerber bei sich aufzunehmen und längerfristig Wohnung nehmen zu lassen, sodass auch nicht damit zu rechnen ist, dass der Berufungswerber finanzielle Unterstützung durch Verwandte erhalten kann. Dies gilt umso mehr, als auch der Vater des Berufungswerbers nach dessen Ausreise verstorben ist. Aus diesen Gründen wäre dem Berufungswerber eine Rückkehr nach Inguschetien oder eine Umsiedelung in eine der angrenzenden Teilrepubliken nicht zumutbar.

 

Zusammenfassend wird festgehalten, dass sich der Berufungswerber aus wohlbegründeter Furcht einerseits wegen einer ihm unterstellten politischen Gesinnung, andererseits wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit verfolgt zu werden, außerhalb der Russischen Föderation befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren und auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlußgründe vorliegt.

 

Gemäß § 12 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
ethnische Verfolgung, gesamte Staatsgebiet, politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit, wohlbegründete Furcht
Zuletzt aktualisiert am
06.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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