S8 401.580-1/2008/3E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. BÜCHELE als Einzelrichter über die Beschwerde des D.O., geb. 00.00.1990, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.09.2008, FZ. 08 05.194-EAST Ost, beschlossen:
Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, brachte am 15.06.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit Bescheid vom 01.09.2008, Zl 08 05.194-EAST Ost, wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück. Für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz ist gemäß Art. 16 Abs.1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) Polen zuständig (Spruchpunkt I.). Der Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen; demzufolge ist die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig (Spruchpunkt II.).
Gegen diese Bescheide erhoben der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde beim Asylgerichtshof und brachte im Wesentlichen vor, dass die familiäre Bindung zum Onkel der auch sein Vormund sei, nach Art. 8 EMRK durch die belangte Behörde nicht richtig gewürdigt worden sei. Der Vater des Beschwerdeführers sei getötet worden, als dieser vier Jahre alt war; die Mutter sei 2004 verschwunden. Seit dem Tod des Vaters sei der Beschwerdeführer bei seinem Onkel D.D. aufgewachsen; der Onkel sei auch für den Beschwerdeführer obsorgeberechtigt (dies wird mit der Kopie eines amtlichen Dokuments belegt). Der Beschwerdeführer sei mit seinem Onkel aus der Russischen Union nach Polen eingereist um von dort gemeinsam weiter zu einem Verwandten nach Deutschland zu reisen.
Mit Beschluss vom 25.09.2008 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerden wie folgt erwogen:
Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist diese Entscheidung mit einer Ausweisung zu verbinden; die Ausweisung gilt gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 ist eine Ausweisung u.a. unzulässig, wenn sie Art. 8 EMRK verletzen würde.
Gemäß Art. 8 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechtes nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Gemäß Art. 15 Dublin-Verordnung kann jeder Mitgliedsstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenzuführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung besagt, dass die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, prüfen. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Abs. 1 einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.
§ 41 Abs. 3 AsylG 2005 lautet:
"(3) In einem Verfahren über eine Berufung gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung ist § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Berufung gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Berufung gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint."
Nach den Materialien (Erläut. Zur RV, 952 BlgNR 22. GP, 66) ist im Falle von Ermittlungsmängeln die Entscheidung zu beheben, das Verfahren zuzulassen und an das Bundesasylamt zur Durchführung eines materiellen Verfahrens zurückzuverweisen. Diese Zulassung stehe einer späteren Zurückweisung nicht entgegen.
Der Gesetzgeber hat für das Verfahren über Berufungen gegen zurückweisende Bescheide sehr kurze Fristen (§ 41 Abs. 2, § 37 Abs. 3 AsylG 2005) vorgesehen, andererseits aber die Berufungsbehörde dazu verpflichtet, bei einem "mangelhaften Sachverhalt" der Berufung stattzugeben, ohne § 66 Abs. 2 AVG anzuwenden (§ 41 Abs. 3 AsylG 2005). Das Ermessen, das § 66 Abs. 3 AVG der Berufungsbehörde einräumt, allenfalls selbst zu verhandeln und zu entscheiden, besteht somit in einem solchen Verfahren nicht. Aus den Materialien (Erläut. zur RV, 952 BlgNR 22. GP, 66) geht hervor, dass "im Falle von Erhebungsmängel die Entscheidung zu beheben, das Verfahren zuzulassen und an das Bundesasylamt zur Durchführung eines materiellen Verfahrens zurückzuweisen" ist. Diese Zulassung stehe einer späteren Zurückweisung nicht entgegen. Daraus und aus den erwähnten kurzen Entscheidungsfristen ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Berufungsbehörde im Verfahren über Berufungen gegen zurückweisende Bescheide von einer Ermittlungstätigkeit möglichst entlasten wollte. Die Formulierung des § 41 Abs. 3 AsylG 2005 ("wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint"), schließt somit nicht aus, dass eine Stattgabe ganz allgemein in Frage kommt, wenn der Berufungsbehörde - auf Grund erforderlicher zusätzlicher Erhebungen - eine unverzügliche Erledigung der Berufung unmöglich ist.
Der Onkel der Beschwerdeführer ist ein derzeit in Österreich lebende Asylwerber, dessen Antrag auf internationalen Schutz am 07.06.2008 zugelassen wurde (AIS Zahl 07 11.614) und ihm somit eine zeitlich befristete Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet zukommt.
Grundsätzlich wäre im vorliegenden Fall jedenfalls gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin-Verordnung Polen zur Prüfung des Asylantrages des Beschwerdeführers zuständig. Polen stimmte einer Rückübernahme der Beschwerdeführer gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin-Verordnung auch zu. Da aber der Onkel des Beschwerdeführers sein Asylverfahren in Österreich betreibt, ist zu prüfen, ob Österreich im Fall des Beschwerdeführers im Hinblick auf Art. 8 EMRK ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung anzuwenden hätte.
Im Erkenntnis VfSlg. 16.122/2001, das die Verfassungsmäßigkeit des § 5 AsylG 2005 in der Stammfassung zum Gegenstand hatte, führte der Verfassungsgerichtshof aus, eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung des § 5 Abs. 1 AsylG 2005 sei durch die Heranziehung des Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens von der Asylbehörde zu vermeiden; durch diese Verpflichtung zum Selbsteintritt würden sich die aus dem Blickwinkel der Art. 3 und 8 EMRK vorgebrachten Bedenken erledigen. In seinem Erkenntnis vom 15.10.2004, G 237, 238/03 u.a. ging der Verfassungsgerichtshof "im Hinblick auf die inhaltlich gleiche Regelung in der Dublin-Verordnung davon aus, dass diese - zum gegenüber Dänemark weiterhin anwendbaren Dubliner Übereinkommen - angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zutreffen" (S. 155 des Erk.).
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens das Vorhandensein einer Familie voraussetzt.
Zum Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern auch z.B. die Beziehungen zwischen Geschwistern, (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. dazu EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR vom 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR vom 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR vom 14.03.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311;
Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK - Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761;
vgl. auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423; VwGH vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600-14; VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0235-9, wo der VwGH im letztgenannten Erkenntnis feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben. Der Begriff des Familienlebens ist darüber hinaus nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR vom 23.04.1997, X ua). Bei dem Begriff "Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK" handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.
Im vorliegenden Fall ist das Bundesasylamt davon ausgegangen, dass zwischen der Beschwerdeführer und sein Onkel ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis besteht. Weiters bejaht es das Vorliegen eines Familienverhältnisses im Sinne des Art 8 EMRK zwischen dem zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährigen Asylwerber und seinem Onkel. Auf Grund dieser familiären Anknüpfungspunkte könne ein gewisses - wenn auch loses - familiäres Anknüpfungsmoment zum Onkel des Beschwerdeführers nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer dermaßen auf die Unterstützung angewiesen sei, wonach ein derartiges qualifiziertes Pflege-, Unterhalts- und/oder Unterstützungsverhältnis vorliegen würde, sodass dem Beschwerdeführer ein weiterer Verbleib im Gebiet der Europäischen Union außerhalb des Bundesgebietes der Republik Österreich schlicht unzumutbar wäre.
Das Bundesasylamt hat es jedoch zur Gänze unterlassen, auf welchen Erwägungen obige Feststellungen beruhen.
Mit dem in Art. 15 Dublin-Verordnung genannten Begriff "andere Familienangehörige" ist - dem Wesen einer flexiblen Bestimmung angepasst - ein weiter Familienbegriff angesprochen, der über jenen des Art. 2 lit i leg cit hinausgeht. Darunter fallen jedenfalls Geschwister und sämtliche Verwandte in gerader Linie. So sollte bei einem intensiven Abhängigkeitsverhältnis auch eine Zusammenführung von Cousins grundsätzlich möglich sein (Schmid/Filzwieser, Kommentar zur Dublin II-VO, Art. 15, K 7, S. 113).
Aufgrund der obigen Ausführungen muss davon ausgegangen werden, dass sich das Bundesasylamt nicht ausreichend mit der Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses des Beschwerdeführers zu seinem Onkel auseinandergesetzt hat, sodass gegebenenfalls die Bestimmung des Art. 15 Dublin-Verordnung zur Anwendung gelangen würde.
Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 entfallen.