TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/06 S12 401749-1/2008

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Veröffentlicht am 06.10.2008
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Spruch

S12 401.749-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Maurer-Kober als Einzelrichterin über die Beschwerde des M.S. auch M.S., geb. 00.00.1971, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.09.2008, FZ. 08 07.551 EAST-WEST, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1.1 Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger inguschetischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat sein Heimatland gemeinsam mit seiner Ehefrau und den beiden mj. Kindern am 16.08.2008 mit dem Zug verlassen, ist am 21.08.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

1.2. Bei der Erstbefragung am Tag der Antragstellung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EAST in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Tschetschenisch gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei mit dem Zug über Moskau, Brest bis nach Terespol gereist. An der polnischen Grenze sei er dann von den polnischen Behörden erkennungsdienstlich behandelt worden. Seine Familie habe polnische Asylkarten bekommen und sie seien aufgefordert worden, selbständig ins Lager Dembark zu fahren. Er habe jedoch Angst gehabt, in diesem Lager Personen zu treffen, mit denen er Probleme habe. Er sei daher nach lediglich 10 Stunden Aufenthalt an der polnischen Grenze sofort mit seiner Familie in einem kleinen Bus nach Österreich weitergefahren. Gegen eine Rückkehr nach Polen spreche, dass er Angst habe, dort die Personen zu treffen, mit denen er eine Blutrache habe.

 

Eine Eurodac-Abfrage vom selben Tag ergab, dass der Beschwerdeführer bereits am 20.08.2008 in Polen einen Asylantrag gestellt hatte .

 

1.3. Am 28.08.2008 richtete das Bundesasylamt ein Wiederaufnahmeersuchen an die zuständige polnische Behörde.

 

1.4. Mit Schreiben vom 29.08.2008 (eingelangt am 02.09.2008) erklärte sich Polen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (in der Folge: Dublin II-VO), für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig.

 

1.5. Am 29.08.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (§§ 4, 5, 68 Abs. 1 AVG, §29 Abs.3 Z 4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit Polen seit 28.04.2008 geführt werden (vgl. AS 45f).

 

1.6. Am 08.09.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle West, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen und gab er dabei im Wesentlichen an, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Er habe seit ca. 2 Jahren Nieren- und Magenprobleme. In seinem Herkunftsstaat habe er sich selbst mit Volksmedizin behandelt. Derzeit nehme er keine Medikamente. Er habe weder im Bereich der EU noch in Österreich Verwandte. Er habe in Polen einen Asylantrag gestellt, habe aber dort nicht bleiben wollen, da in Polen seine Feinde leben würden. Seit 2003 oder 2004 würde Blutrache mit der Familie T. herrschen. Sein Feind T. habe ihn am 20.08.2008 in Terespol am Bahnhof gesehen und habe ihm gedroht, dass er ihn irgendwann erwischen und umbringen werde. Er sei dann sofort weggelaufen und mit seiner Familie weiter nach Österreich gefahren. Er wisse weder wo T. in Polen aufhältig sei, noch seit wann dieser in Polen lebe. Er habe keine Anzeige bei der Polizei in Polen gemacht. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, warum er am Bahnhof in Terespol nicht sofort zur polnischen Polizei gegangen sei und eine Anzeige getätigt habe, da in Terespol die polnische Polizei sehr stark vertreten sei, erklärte er, dass er nicht polnisch spreche und die Polizei ihm auch nicht helfen könne. Bei ihnen sei es so, dass man sich im Falle der Bedrohung durch Blutrache sofort verstecken müsse. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, seine Ausweisung nach Polen zu veranlassen, brachte er vor, in Polen sei es für seine Familie und ihn sehr gefährlich.

 

2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 21.08.2008 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Polen zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG zulässig sei.

 

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. In der eigenhändig vom Beschwerdeführer in russischer Sprache verfassten Beschwerde wird im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen bekräftigt. Polen sei für seine Familie aufgrund der Bedrohung durch T. nicht sicher. Der Beschwerde beigelegt wurden zwei weitere russische Schriftstücke. Der angebliche Aussteller des ersten Schriftstückes, M. B. bestätigt darin, dass sich der Blutrachegegner des Beschwerdeführers in Warschau befinde. Er sei davon überzeugt, dass die Familie des Beschwerdeführers deswegen in Polen in Gefahr wäre. Das weitere Schriftstück ist von B.K. verfasst. Die Ausstellerin könne bestätigen, dass der Beschwerdeführer in Inguschetien eine Blutrache mit der Familie T. gehabt habe. Im Jahr 2003 habe sie in der Nachbarschaft der Familie

M. gelebt und wisse daher über dieses Problem bescheid.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger inguschetischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat sein Heimatland verlassen und ist am 21.08.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

Der Beschwerdeführer hat bereits am 20.08.2008 in Polen einen Asylantrag gestellt.

 

Der Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen stehen keine physischen oder psychischen Krankheiten entgegen.

 

Der Beschwerdeführer ist gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinen zwei minderjährigen Kindern nach Österreich gereist; diese haben jeweils auch Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Weitere Familienangehörige oder Personen, mit denen er in einer familienähnlichen Gemeinschaft lebt, hat der Beschwerdeführer in Österreich, im Bereich der EU, Norwegen oder Island nicht.

 

Polen hat sich mit Schreiben vom 29.08.2008 (eingelangt am 02.09.2008) gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO ausdrücklich für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

1.2. Die in § 28 Abs. 2 AsylG festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG gilt nicht, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß der Dublin II-VO binnen Frist mitgeteilt wurde, weshalb kein Übergang der Zuständigkeit an Österreich wegen Fristüberschreitung eingetreten ist.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 21.08.2008, aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 08.09.2008 sowie aus der Zuständigkeitserklärung Polens vom 29.08.2008.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde tritt.

 

3.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin II-VO ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Staates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO wird ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, von jenem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Dublin II-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 Dublin II-VO die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.3. Gemäß Art. 16 Abs. 1 lit c Dublin II-VO ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin II-VO oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.4. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer bereits in Polen einen Asylantrag gestellt hat und, dass Polen einer Übernahme des Beschwerdeführers auf Grundlage des Art. 16 (1) c Dublin II-VO am 29.04.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Polens zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

3.5. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.5.1. Der Verfassungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 08.03.2001, G 117/00 u.a. VfSlg 16.122, aus, dass § 5 AsylG nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden. Dieser Rechtsansicht schloss sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, an.

 

Hatte der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15.10.2005, G 237/03 u.a. ausgesprochen, dass jene zum Dubliner Übereinkommen angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO zutreffen, ergänzte er in seinem Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05-11, dies dahingehend, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die entsprechende Vergewisserung durch den Rat erfolgt sei; eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Eintrittsrecht zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (dem ein - die Zuständigkeit Italiens nach dem Dubliner Übereinkommen betreffender - Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates zugrunde lag) sowie in dem (bereits die Dublin-VO betreffenden) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095-9, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Verfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist, ob ein - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiiertes "real risk" besteht, dass ein aufgrund der Dublin-VO in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wird ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

3.5.2. Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Polen die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Ein konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische Asylwerber unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. In diesem Zusammenhang ist lediglich der Vollständigkeit halber noch anzuführen, dass von Seiten Polens keine systemwidrigen Verletzungen der Verpflichtungen aus der Dublin II-VO bekannt sind. Auch geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat sind für sich genommen keine ausreichende Grundlage dafür, dass die österreichischen Asylbehörden vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müssten (vgl. u. a. VwGH vom 31.05.2008, Zl. 2005/20/0095). Im Übrigen erhalten Antragsteller aus Tschetschenien in Polen zumindest tolerierten Aufenthalt.

 

Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich ein systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Polen keinesfalls erkennen und gelten im Übrigen die Mitgliedstaaten der EU als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige. Zudem war festzustellen, dass ein im besonderen Maße substantiiertes Vorbringen bzw. das Vorliegen besonderer von dem Beschwerdeführer bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen ließen, im Verfahren nicht hervorgekommen sind. Konkret besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass etwa der Beschwerdeführer im Zuge einer so genannten "ungeprüften Kettenabschiebung" in sein Heimatland, also nach Russland zurückgeschoben werden könnte.

 

Was die Glaubwürdigkeit des auf eine Bedrohung durch Blutrache bezogenen Vorbringens des Beschwerdeführers betrifft, so ist zunächst in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass der Beschwerdeführer sein diesbezügliches Vorbringen im Zuge seines Asylverfahrens sukzessive steigerte. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes schilderte er lediglich seine allgemeine Angst; in Polen in einem Flüchtlingslager auf Personen zu treffen, mit welchen eine Blutrache bestehen würde. Er erklärte weiters, aufgrund dieser Angst erst gar nicht das Flüchtlingslager aufgesucht zu haben, sondern sofort nach Österreich weitergereist zu sein. Der Beschwerdeführer behauptete vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes jedoch nicht, dass er in Polen tatsächlich bereits einen seiner Feinde getroffen habe. Erst im Rahmen seiner Einvernahme vor der Erstaufnahmestelle Ost am 08.09.2008 gab er an, bereits in Terespol mit seinem Verfolger zusammengestoßen zu sein und deshalb sofort mit seiner Familie weiter nach Österreich geflohen zu sein. Nach Ansicht des Asylgerichtshofes ist nicht nachvollziehbar, warum der Beschwerdeführer, sollte es tatsächlich zu einer Bedrohung in Terespol gekommen sein, diesen Vorfall nicht bereits anlässlich der Erstbefragung schilderte. Darüber hinaus ergaben sich Widersprüche zum Vorbringen seiner Ehefrau. Während der Beschwerdeführer nur von einer Person sprach, welche ihn in Terespol bedroht hätte, sprach die Ehefrau des Beschwerdeführers in ihrer Einvernahme vor der EAST West jeweils von mehreren Personen. Es kann nun im gegenständlichen Fall aber ohnedies dahingestellt bleiben, ob die Behauptung, in Polen drohe durch andere russische Staatsbürger Blutrache, den Tatsachen entspricht und die mit der Beschwerde vorgelegten angeblichen Bestätigungen zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit zu führen geeignet wären, weil - selbst bei Zutreffen dieses Vorbringens (Zusammentreffen mit einem Verfolger in Terespol) - nicht davon ausgegangen werden kann, dass die polnischen Behörden nicht willens und nicht in der Lage wären, den Beschwerdeführer vor den von ihm behaupteten rechtswidrigen Übergriffen durch Privatpersonen - im Rahmen dessen, was einem Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln realistischer Weise zugesonnen werden kann - zu schützen, wobei anzumerken ist, dass in diesem Zusammenhang nicht gefordert werden kann, dass der Staat in der Lage ist, Schutz gegen jedwede Art von Übergriffen durch Dritte, sohin absoluten Schutz, zu gewähren. Das Vorbringen des Beschwerdeführers im erstinstanzlichen Verfahren und in der Beschwerde ist nicht ausreichend konkret gehalten, um das reale Risiko einer Schutzverweigerung oder Schutzunfähigkeit des polnischen Staates gerade bezogen auf den Beschwerdeführer darzutun, zumal der Beschwerdeführer im Zuge der erstinstanzlichen Einvernahme am 08.09.2008 selbst angab, sich nicht an die Polizei in Polen gewandt zu haben. Aus den Feststellungen des Bundesasylamtes ergibt sich, dass in polnischen Flüchtlingslagern rum um die Uhr professionelle Sicherheitsorgane ihren Dienst versehen. Sollte es zu gewaltsamen Vorfällen in einem der Lager kommen, ist der Sicherheitsdienst verpflichtet, umgehend die Polizei und das Management des Lagers zu informieren und unverzüglich Maßnahmen einzuleiten. Die Flüchtlinge seien immer davon in Kenntnis gesetzt, dass sie in solchen Fällen Gewährung der sozialen Hilfe außerhalb des Flüchtlingszentrums wegen Sicherheitsgründen beantragen können (siehe Seite 24f des erstinstanzlichen Bescheides).

 

Es besteht somit für den Beschwerdeführer in Polen jederzeit die Möglichkeit, bei allfälligen, gegen ihn gerichteten kriminellen Handlungen diese zur Anzeige zu bringen und staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen.

 

Der Beschwerdeführer hat sohin kein Vorbringen erstattet, welches die Annahme rechtfertigen könnte, dass ihm in Polen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Akut existenzbedrohende Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung nach Polen sind der Aktenlage nicht zu entnehmen. Der Beschwerdeführer behauptete lediglich, seit ca. 2 Jahren an Nieren- und Magenproblemen zu leiden, ohne diese gesundheitlichen Probleme näher zu erläutern. Er erklärte keine Medikamente zu nehmen und legte auch keine ärztliche Bestätigungen und Belege vor. Diese Umstände sprechen selbst bei Zugrundelegung gewisser gesundheitlicher Probleme des Beschwerdeführers jedenfalls gegen die Art. 3 EMRK-Relevanz des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers und ist von Überstellungsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen. Es sind somit nach Ansicht des Asylgerichtshofes zu dieser Frage weitere Beweisaufnahmen nicht erforderlich gewesen.

 

Betreffend die Abschiebung bzw. Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen wird lediglich der Vollständigkeit halber zusätzlich auf die relevante Judikatur des EGMR verwiesen:

 

Abschiebungen trotz Krankheitszuständen können sowohl in den Schutzbereich des Artikel 3 EMRK als auch jenen des Artikel 8 EMRK (psychiatrische Integrität als Teil des Rechts auf Persönlichkeitsentfaltung) fallen. Nach dem EGMR (vgl. auch VwGH 28.06.2005, Zl. 2005/01/0080) hat sich die Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung auf die allgemeine Situation im Zielland als auch auf die persönlichen Umstände des Antragstellers zu erstrecken. Für die Prüfung der allgemeinen Situation wurden Berichte anerkannter Organisationen (z.B. der WHO), aus denen jedenfalls eine medizinische erreichbare Grundversorgung, wenn auch nicht kostenfrei, hervorgeht, als ausreichend angesehen. Der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter sind als im Aufenthaltsland, und eventuell "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend. Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend; Selbstmordgefahr kann ausschlaggebend sein, wenn eine Person in psychiatrischer Spitalsbehandlung ist; vgl. KALDIK v Deutschland, 22.09.2005, Rs 28526/05; Einzelfallprüfung erforderlich), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen; bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. Auch Selbstmordabsichten hindern eine Abschiebung für sich genommen nicht. In der Beschwerdesache OVDIENKO v Finnland vom 31.05.2005, Nr. 1383/04, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der seit 2002 in psychiatrischer Behandlung war und selbstmordgefährdet war, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes ¿real risk'. Im psychiatrischen Bereich kann als Leitentscheidung weiterhin BENSAID v. the United Kingdom, Nr. 44599/98, § 38, ECHR 2001-I, angesehen werden, in der die Abschiebung einer an Schizophrenie leidenden Person nach Algerien für zulässig erklärt wurde.

 

Im Lichte dieser Rechtsprechung des EGMR ist sohin zusammenfassend festzuhalten, dass es nicht erforderlich ist, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Polen denselben Standard haben müssen wie etwa in Deutschland bzw. Österreich. Durch eine Abschiebung des Beschwerdeführers wird Artikel 3 EMRK nicht verletzt und reicht es jedenfalls aus, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Land der Abschiebung verfügbar sind, was in Polen jedenfalls der Fall ist.

 

Somit ist festzuhalten, dass die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers nicht jene besondere Schwere aufweist, um eine Überstellung nach Polen als im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehend zu werten.

 

3.5.3. Ferner ist eine Überprüfung gemäß Art. 8 EMRK dahingehend vorzunehmen, ob der Beschwerdeführer über im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK relevante Verbindungen in Österreich verfügt.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im gegenständlichen Fall hat der Beschwerdeführer selbst angegeben, dass er keine Verwandten in Österreich sowie im Bereich der EU (einschließlich Norwegen und Island) habe, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere Nahebeziehung bestehe. Folglich würde der Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Polen in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden. Da auch die mit dem Beschwerdeführer gemeinsam eingereisten Familienmitglieder, welche ebenfalls Asylanträge gestellt haben, eine negative Ausweisungsentscheidung erhalten haben und somit die gesamte Familie nach Polen überstellt wird, ist auch in diesem Zusammenhang kein Eingriff in Art. 8 EMRK gegeben.

 

3.5.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 3, 8 EMRK besteht.

 

3.5.5. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.5.6. Hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes im Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5.7. Die Beschwerde erwies sich somit als nicht berechtigt und war daher spruchgemäß abzuweisen.

 

3.5.8. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, Familienbegriff, gesteigertes Vorbringen, Glaubwürdigkeit, Interessensabwägung, Rechtsschutzstandard, Sicherheitslage
Zuletzt aktualisiert am
28.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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