TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/07 S7 401746-1/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2008
beobachten
merken
Spruch

S7 401746-1/2008/2E

 

S7 401747-1/2008/3E

 

S7 401748-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerden

 

1. des I.T., 00.00.1977 geb., gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom

 

13.09.2008, ZI. 08 07.826 EAST-West,

 

2. der I.Z., 00.00.1976 alias 00.00.1976 geb., gegen den Bescheid des

 

Bundesasylamtes vom 13.09.2008, ZI. 08 07.827 EAST-West,

 

3. des mj. K.M., 00.00.1995 geb., gesetzlich vertreten durch die Kindesmutter

 

I.Z., gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.09.2008, ZI. 08

 

07.834 EAST-West,

 

alle StA. Russische Föderation, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerden werden gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt.

 

Der Erstbeschwerdeführer, dessen Lebensgefährtin sowie deren mj. Sohn, alle Staatsangehörige der Russischen Föderation, reisten am 28.08.2008 illegal per PKW über Polen kommend in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte sie bzw. die gesetzliche Vertreterin, am selben Tag den Antrag auf internationalen Schutz.

 

Im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahmen gaben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin an, sie könnten deshalb nicht nach Polen zurück, da sie dort Probleme bekommen hätten bzw. wären sie sogar mit dem Tode bedroht worden. Ihr "Problem" in Polen begründeten sie damit, dass die Zweitbeschwerdeführerin, eine Muslime, in ihrer Heimat noch mit dem Vater ihres mj. Sohnes verheiratet sei aber bereits seit ca. zwei Jahren mit dem Erstbeschwerdeführer, einem Christen, zusammenleben würde. Aufgrund der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen, seien die Beschwerdeführer in Polen von anderen tschetschenischen Flüchtlingen verbal unter Druck gesetzt und bedroht worden. An die Polizei oder an einen in den Flüchtlingslagern aufhältigen sozialen Dienst hätten sich die Beschwerdeführer nicht gewandt. Der mj. Sohn der Zweitbeschwerdeführerin hätte kein eigenes Vorbringen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe in Österreich eine Cousine. Zudem habe die Beschwerdeführerin seit zwei bis drei Jahren Probleme mit der Schilddrüse und leide sie seit 1996 an einer Infektion. Vor einem Monat hätte sie erfahren, eine Zyste zu haben. Medikamente nehme sie keine ein. Auch der mj. Beschwerdeführer würde seit seiner Geburt an einer Infektion leiden.

 

Die erkennungsdienstlichen Behandlungen ergaben, dass der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweitbeschwerdeführerin bereits in Polen am 24.08.2008 Asylanträge stellten.

 

Am 29.08.2008 richtete das Bundesasylamt ein Wiederaufnahmegesuch für die drei im Betreff Genannten an Polen, das sich auf Art. 16 Abs 1 lit.c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates und auf den EURODAC-Treffer stützte.

 

Polen hat am 02.09.2008 seine Zustimmung zur Wiederaufnahme der Beschwerdeführer gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 erklärt.

 

Das Führen von Konsultationsverfahren mit Polen wurde den Beschwerdeführern bzw. der gesetzlichen Vertreterin am 04.09.2008 mitgeteilt.

 

2. Mit Bescheiden vom 13.09.2008, Zahl: 08 07.826 EAST-West, betreffend den Erstbeschwerdeführer, Zahl: 08 07.827 EAST-West, betreffend die Zweitbeschwerdeführerin, sowie Zahl: 08 07.834 EAST-West, betreffend den mj. Sohn der Zweitbeschwerdeführerin, wies das Bundesasylamt die Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück; stellte fest, dass für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit.c Dublin VO Polen zuständig sei, wies die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z1 AsylG dorthin aus und sprach überdies aus, dass gemäß § 10 Abs 4 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesen Bescheiden Feststellungen zum polnischen Asylverfahren, zur Versorgung von Asylwerbern sowie zur Praxis des Nonrefoulementschutzes betreffend Tschetschenen.

 

Beweiswürdigend wurde hervorgehoben, dass aufgrund der allgemeinen Lage in Polen in keinster Weise davon auszugehen sei, dass die im Betreff Genannten dort Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden könnten oder dass ihnen eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte dadurch drohen könnte.

 

Ein besonderes Beziehungsverhältnis oder gar ein Pflege- oder Abhängigkeitsverhältnis zu der von der Zweitbeschwerdeführerin ins Treffen geführten, in Österreich aufhältigen Cousine, sei von der Zweitbeschwerdeführerin nicht dargetan worden.

 

Gegen diese Bescheide richtet sich die mit 29.09.2008 rechtzeitig eingebrachte Beschwerde.

 

Darin wird zunächst der Sachverhalt und der bisherige Verfahrensgang wiedergegeben. Sodann wird der Erstbehörde die Vernachlässigung ihrer Ermittlungspflicht vorgeworfen. Aufgrund der sie treffenden amtswegigen Ermittlungspflicht wäre die belangte Behörde jedenfalls verpflichtet gewesen, im einzelnen zu klären, welche Lebenssituation die Beschwerdeführer in Polen vorgefunden hätten und was sie veranlasst hätte, von Polen nach Österreich zu flüchten. Polen wäre kein sicherer Staat. Im Falle ihrer Rückkehr hätten die Beschwerdeführer Schwierigkeiten und Versorgungsdefizite zu erwarten. Sodann wird in der Beschwerdeschrift auf eine Länderdokumentation von ACCORD vom 04.03.2008 hingewiesen und diese auszugsweise zitiert. Ebenso werden Berichte des UNHCR und von USTOS - US apartement of states erwähnt. Die Überstellung der drei Beschwerdeführer nach Polen würde die Gefahr eines Refoulement mit sich bringen, was eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 33 GFK und § 50 FPG bedeuten würde. Auch seien die Befürchtungen der im Betreff Genannten und das ihnen bereits Widerfahrene in Bezug auf Polen nicht ausreichend von der Erstinstanz gewürdigt worden. Indem eine Gesundheitsuntersuchung im Verfahren 1. Instanz gänzlich unterblieb, seien aus diesem Grund wesentliche, durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte verletzt worden. Der mj. Beschwerdeführer befinde sich aufgrund der Beschwerden in der letzten Zeit (Angstzustände, Nässen in der Nacht) im Krankenhaus und auch die Zweitbeschwerdeführerin würde sich unter ärztlicher Kontrolle befinden. Der Beschwerdeschrift beigefügt ist die Kopie einer Ambulanzkarte sowie einer Überweisung/Einweisung an das KH V..

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch die zuständige Richterin über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Der Verfahrensgang und der Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

2.2. Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs 3 und Abs 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.3. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit der Republik Polen gemäß Art. 16 Abs 1 lit c Dublin II VO besteht. Augrund der plausiblen Angaben der Beschwerdeführer und der EURPDAC-Treffer, nahm das Bundesasylamt das Konsultationsverfahren mit Polen auf und erklärte sich Polen zur Wiederaufnahme der im Betreff Genannten gemäß Art. 16 Abs 1 lit c Dublin II VO bereit. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben und ist diese im Verfahren nicht bestritten worden.

 

Ebenso unbestrittenermaßen ist im Asylverfahren der Beschwerdeführer noch keine Sachentscheidung in Polen gefallen.

 

Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, Zl. 2005/20/0444). Das Konsultationsverfahren erfolgte mängelfrei.

 

Im Lichte des Art. 7 VO 1560/2003 ergibt sich auch keine Verpflichtung seitens der beteiligten Mitgliedstaaten oder seitens der Regelungen der Dublin II VO, dass die Überstellung in einer Weise durchgeführt wird, die potentiell belastenden Zwangscharakter aufweist.

 

2.4. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11 festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich richtigerweise an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin II VO).

 

2.5. Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO², K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt, Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.6. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK:

 

Familiäre Bezüge in Österreich sind im Verfahren nicht hervorgekommen, ebenso wenig - schon aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer - schützenswerte Aspekte des Privatlebens wie beispielsweise eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl 1802, 1803/06-11).

 

Nach den Angaben der Zweitbeschwerdeführerin würde sich ihre Cousine in Österreich aufhalten, ihren Aufenthaltsstatus kenne sie allerdings nicht. Auch habe sie mit dieser Cousine keinerlei Kontakt und hätten sie auch im Herkunftsstaat nie zusammengelebt. Die Cousine hätte die Zweitbeschwerdeführerin niemals unterstützt, weder finanziell noch auf eine andere Art und Weise. "Mir hat nie jemand geholfen (Seite 97 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes)."

 

Im vorliegenden Fall bestätigen die Angaben der Zweitbeschwerdeführerin, dass weder von einer intensiv sozialen noch von einer finanziellen Bindung im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses zu ihrer in Österreich aufhältigen Cousine ausgegangen werden kann. Auch wurde eine derartige Abhängigkeit zu keinem Zeitpunkt behauptet. Folglich würden die Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Polen in ihrem durch Art. 8 EMRK verfassungsrechtlich gewährleistetem Recht auf Achtung und Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden.

 

Artikel 8 EMRK setzt das Bestehen einer Familie voraus und gelangt dann zur Anwendung, wenn im Zeitpunkt des Eingriffs ein reales Familienleben existiert. Das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK reicht über den Kreis der Kernfamilie hinaus, und kann auch die Großfamilie einschließen, sofern die Beteiligten durch die Führung eines gemeinsamen Haushaltes, durch spezifische Abhängigkeitsverhältnisse oder durch andere tatsächlich gelebte Bande miteinander verbunden sind (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458).

 

Auch zwischen Geschwistern, Onkeln/Tanten und Nichten/Neffen kann ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegen. In diesen Fällen muss allerdings auf das Bestehen eines tatsächlichen und hinreichend intensiven Familienlebens abgestellt werden. Ob das Familienleben tatsächlich besteht und hinreichend intensiv ist, wird vom EGMR anhand folgender Kriterien beurteilt:

 

Zusammenleben der betroffenen Personen,

 

und/oder Bestehen einer finanziellen oder sonstigen Abhängigkeit.

 

Im vorliegenden Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer in Österreich Angehörige haben, zu denen ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK besteht.

 

2.7. Kritik am polnischen Asylwesen:

 

Hiezu ist einleitend festzuhalten, dass die seinerzeitige Judikatur zu § 4 AsylG 1997 und vor dem Beitritt zur Europäischen Union am 01.04.2006 nicht mehr unmittelbar relevant ist (zuletzt VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673). Konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische AsylwerberInnen unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. Der bloße Umstand, dass eine Reihe von Asylverfahren negativ endet (wobei in Polen notorischerweise AntragstellerInnen aus Tschetschenien zumindest tolerierten Aufenthalt erhalten) ist mangels Bestehen eines allgemeinen Konsens über eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Russland (auch in Österreich wird eine solche in der Regel nicht bejaht) und mangels verifizierbarer Angaben über ein Fehlverhalten polnischer Behörden im vorliegenden Fall kein ausreichendes Argument die Regelvermutung des § 5 Abs 3 AsylG erschüttern zu können.

 

Hervorzuheben ist insbesondere, dass bei tschetschenischen AntragstellerInnen in Polen praktisch keine Abschiebungen in die Russische Föderation erfolgen (siehe im Bescheid vom 04.09.2008 "C. Feststellungen zur Lage im Mitgliedstaat"). Die Einführung des "subsidiären Schutzstatus" neben Flüchtlingsstatus und "tolerated stay" lässt ebenso keine potentielle Gefährdung tschetschenischer Schutzsuchender erkennen, sodass auf die näheren Details des Inkrafttretens der jeweiligen Regelungen und des genauen Inhalts vorangegangener Gesetzesänderungen hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht näher einzugehen war, da jedenfalls keine dieser Gesetzesänderungen Grund zur Annahme gibt, dass Polen nunmehr allgemein oder im Besonderen gegenüber tschetschenischen Schutzsuchenden bedenkliche Sonderpositionen vertrete.

 

Auch allfälligen Angriffen wären die im Betreff Genannte nicht wehrlos ausgesetzt, sondern steht ihnen die Möglichkeit offen, allfällige gegen sie gerichtete kriminelle Handlungen in Polen bei der Polizei zur Anzeige zu bringen und dort staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Dass sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben, gaben sie selbst im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahmen zu Protokoll. Somit kann im konkreten Fall bei einer Rückkehr insgesamt kein reales Risiko für die Beschwerdeführer erblickt werden.

 

2.8. Medizinische Krankheitszustände; Behandlung in Polen:

 

Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung nach Polen nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

 

In diesem Zusammenhang ist vorerst auf das jüngste diesbezügliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9) zu verweisen, welches die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK festhält (D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06).

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

Jüngste Rechtsprechung des EGMR (N vs UK, 27.05.2008) und Literaturmeinungen (Premiszl, Migralex 2/2008, 54ff, Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in "Dublin-Verfahren") bestätigen diese Einschätzung, wobei noch darauf hinzuweisen ist, dass EU-Staaten verpflichtet sind, die Aufnahmerichtlinie umzusetzen und sohin jedenfalls eine begründete Vermutung des Bestehens einer medizinischen Versorgung besteht.

 

Aus diesen Judikaturlinien des EGMR ergibt sich jedenfalls der für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevante Prüfungsmaßstab.

 

Nach der geltenden Rechtslage ist eine Überstellung dann unzulässig, wenn die Durchführung eine in den Bereich des Art 3 EMRK reichende Verschlechterung des Krankheitsverlaufs oder der Heilungsmöglichkeiten bewirken würde; dabei sind die von den Asylbehörden festzustellenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat als Hintergrundinformation beachtlich, sodass es sich quasi um eine "erweiterte Prüfung der Transportfähigkeit" handelt.

 

Maßgebliche Kriterien für die Beurteilung der Art. 3 EMRK-Relevanz einer psychischen Erkrankung angesichts einer Abschiebung sind Aufenthalte in geschlossenen Psychiatrien infolge von Einweisungen oder auch Freiwilligkeit, die Häufigkeit, Regelmäßigkeit und Intensität der Inanspruchnahme medizinisch-psychiatrischer Leistungen, die Möglichkeit einer wenn auch gemessen am Aufenthaltsstaat schlechteren medizinischen Versorgung im Zielstaat sowie die vom Abschiebestaat gewährleisteten Garantien in Hinblick auf eine möglichst schonende Verbringung. Rechtfertigen diese Kriterien eine Abschiebung, hat eine denkmögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder ungünstige Entwicklung des Gesundheitszustands außer Betracht zu bleiben, geschweige denn vermag die Verursachung von überstellungsbedingtem mentalen Stress eine Abschiebung unzulässig machen.

 

Akut existenzbedrohende Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung nach Polen sind der Aktenlage nicht zu entnehmen.

 

Bezüglich der Infektionen und Erkrankungen der Zweitbeschwerdeführerin sowie ihres mj. Sohnes, hat die Erstinstanz alle nötigen Feststellungen getroffen und ein ordnungsgemäßes Beweisverfahren durchgeführt. Zur Vermeidung von Wiederholungen schließt sich die erkennende Behörde den Ausführungen der Erstinstanz an.

 

Zu der der Beschwerdeschrift in Kopie beigelegter Ambulanzkarte des LKH V. sowie der Überweisung/Einweisung an das KH V. ist anzumerken, dass sich der mj.K.M. lediglich von 00.00.08 bis 00.00.08 in stationärer Behandlung im LKH V. wegen angeblicher Angstzustände und Bettnässen befand, er mittlerweile wieder entlassen wurde und die ins Treffen geführten behaupteten krankheitswertigen Zustände gemäß der Judikaturlinie des EGMR einer Abschiebung der Beschwerdeführer nach Polen in keinster Weise entgegenstehen.

 

Auf Basis der Aktenlage ist ferner festzuhalten, dass auch Ausführungen, wonach Personen, die in Polen Asyl beantragen, durch mangelhafte Versorgung existentiell bedroht wären (dies, in einem Mitgliedstaat der EU) das reale Bild grob überzeichnen (siehe insbesondere die in den Erstbescheiden wiedergegebene Anfragebeantwortung der ÖB Warschau vom 12.12.2006, der ebenso nicht substantiiert entgegnet wurde; siehe "C. Feststellungen zur Lage im Mitgliedsstaat" in den Bescheiden vom 13.09.2008).

 

Es stellt daher eine Überstellung der Beschwerdeführer nach Polen keinesfalls eine Verletzung des Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO dar.

 

2.9. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art 3 Abs 2 VO 343/2003 infolge drohender Verletzung von Art 3 oder Art 8 EMRK zu verpflichten.

 

Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung der Beschwerdeführer erforderlich erscheinen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

Gemäß § 41 Abs 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, Ausweisung, familiäre Situation, gesundheitliche Beeinträchtigung, Intensität, medizinische Versorgung, real risk, staatlicher Schutz, Überstellungsrisiko (ab 08.04.2008)
Zuletzt aktualisiert am
28.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten