TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/20 E3 312446-1/2008

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Veröffentlicht am 20.10.2008
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Spruch

E3 312.446-1/2008-9E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. HERZOG-LIEBMINGER als Einzelrichterin über die Beschwerde der A.A., geb. 00.00.1985, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.05.2007, FZ. 06 09.453-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.01.2008 sowie am 19.02.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und A.A. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass A.A. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und SACHVERHALT

 

I.1. Die Beschwerdeführerin brachte gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem minderjährigen Sohn am 07.09.2006 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich ein. Sie wurde hiezu am 26.09.2006 und am 03.01.2007 niederschriftlich vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost und Außenstelle Traiskirchen einvernommen.

 

I.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.05.2007, Zl. 06 09.453-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 AsylG abgelehnt und der Status der Asylberechtigten nicht zuerkannt und festgestellt, dass gemäß § 8 Abs. 1 Ziffer 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt werde. Unter Einem wurde die Antragstellerin gemäß § 10 Abs. 1 Ziffer 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen; im wesentlichen mit der Begründung im Verfahren ihres Ehegatten (Familienverfahren).

 

I.3. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist "Berufung" (nunmehr: "Beschwerde") erhoben. Diese "Berufung" wurde seitens der Erstbehörde ohne weitere Anträge der Berufungsbehörde vorgelegt. Hinsichtlich des Inhaltes der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

 

I.4. Die Beschwerdeführerin hat am 00.00.2007 in Österreich einen Sohn geboren.

 

I.5. Das zuständige Mitglied des Unabhängigen Bundesasylsenates führte am 04.01.2008 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführerin, ihr Gatte und ihre beiden minderjährigen Kinder teilnahmen. Das Bundesasylamt hat seine Nicht-Teilnahme mit Schreiben vom 07.12.2007 entschuldigt und den Antrag gestellt, die Berufung abzuweisen.

 

I.6. Mit Datum 24.01.2008 langte beim Unabhängigen Bundesasylsenat ein anonymes Schreiben ein, in welchem im wesentlichen mitgeteilt wurde, dass es sich bei den vom Gatten der Beschwerdeführerin geltend gemachten Fluchtgründen um ein wahrheitswidriges Vorbringen handeln würde. Aufgrund dieses Umstandes war es erforderlich das Beweisverfahren, da es sich hierbei um ein neues Beweismittel handelt, welches geeignet erscheint eine anderslautende Entscheidung herbeizuführen, wieder aufzunehmen und fand am 19.02.2008 eine neuerliche öffentliche mündliche Verhandlung statt.

 

Im Zuge dieser mündlichen Verhandlung wurden der Beschwerdeführerin sowie ihrem Ehegatten das anonyme Schreiben zur Kenntnis gebracht und wurden beide neuerlich umfassend zu den einzelnen Geschehnissen in Tschetschenien befragt.

 

Am Schluss der mündlichen Verhandlung wurde der Ehegatte der Beschwerdeführerin aufgefordert, eine Meldebestätigung sowie die Sterbeurkunde des Vaters bis zum 18.03.2008 im Original in Vorlage zu bringen und kam er dieser Aufforderung auch fristgerecht nach.

 

Die Bestätigung des Büros für gerichtsmedizinische Gutachten, die Todesurkunde vom Standesamt, sowie die Geburtsurkunde vom Standesamt, sowie die Meldebestätigung einer Urkundentechnischen Untersuchung durch die Polizeiinspektion St.Georgen i.A. zugeführt und hat diese Untersuchung ergeben, dass sich keine Hinweise auf das Vorliegen von Verfälschungen ergeben würde.

 

I.7. Mit Schreiben vom 24.04.2008 wurde an die deutsch kaukasische Gesellschaft ein Ersuchen um Tatsachenüberprüfung gerichtet und langte das Ermittlungsergebnis am 15.09.2008 beim Asylgerichtshof ein. In diesem wird bestätig, dass der Vater des Ehegatten der Beschwerdeführerin, Herr A.K., sowie die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie in G. gewohnt haben, der Schwiegervater den Widerstand unterstützte und im September 2004 bei einer gezielten Säuberung durch Uniformierte in seinem Haus erschossen worden war.

 

I.8. Mit Schreiben vom 18.09.2008 wurden die Beschwerdeführer sowie das Bundesasylamt vom Ergebnis der Beweisaufnahme gemäß § 45 Absatz 3 AVG verständigt und wurde ihnen die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt. In seiner Stellungnahme, eingelangt beim Asylgerichtshof am 24.09.2008, brachte der Ehegatte der Beschwerdeführerin vor, dass durch die Ermittlungen nun die Wahrheit bestätigt worden sei. Seitens des Bundesasylamtes langte keine Stellungnahme zur Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme ein.

 

I.9. Hinsichtlich des Verfahrensherganges und Parteienvorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. DER ASYLGERICHTSHOF HAT ERWOGEN:

 

Gemäß dem Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl. I Nr. 4/2008, wurde der Asylgerichtshof - bei gleichzeitigem Außerkrafttreten des Bundesgesetzes über den unabhängigen Bundesasylsenat - eingerichtet und treten die dort getroffenen Änderungen des Asylgesetzes mit 01.07.2008 in Kraft; folglich ist das AsylG 2005 ab diesem Zeitpunkt in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008 anzuwenden.

 

1. Verfahren vor dem Asylgerichtshof

 

Hinsichtlich des Verfahrens vor dem Asylgerichtshof waren die einschlägigen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100 in der geltenden Fassung (im Folgenden: "AsylG 2005") anzuwenden. Gemäß § 9 Abs. 1 AsylGHG, BGBl. I Nr. 4/2008 in der geltenden Fassung entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, soweit eine Entscheidung durch einen Einzelrichter oder Kammersenat nicht bundesgesetzlich vorgesehen ist. Gemäß § 60 Abs. 3 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide nach den §§ 4 und 5 AsylG 2005 und nach § 68 AVG durch Einzelrichter. Gemäß § 42 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartender Verfahren stellt, sowie gemäß § 11 Abs. 4 AsylGHG, wenn im zuständigen Senat kein Entscheidungsentwurf die Zustimmung des Senates findet durch einen Kammersenat. Im vorliegenden Verfahren liegen die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter vor.

 

2. Zuständigkeit der erkennenden Einzelrichterin

 

Gem. § 75 (7) Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 4/2008 sind am 1. Juli 2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der geltenden Bestimmungen weiterzuführen:

 

2.1. Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern dies Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängige Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

......

 

Im Rahmen der Interpretation des § 75 (7) ist mit einer Anhängigkeit der Verfahren beim Unabhängigen Bundesasylsenat mit 30.6.2008 auszugehen (vgl. Art. 151 Abs. 39 Z.1 B-VG). Der in der genannten Übergangsbestimmung genannte 1. Juli 2008 ist im Sinne der im oa. Klammerausdruck genannten Bestimmung des B-VG zu lesen.

 

Die erkennende Richterin, welche mit Beschluss der Bundesregierung vom 21.5.2008 mit Wirksamkeit vom 1.7.2008 zur Richterin des Asylgerichtshofes ernannt wurde, führte im gegenständlichen Verfahren als Mitglied des Unabhängigen Bundesasylsenates am 04.01.2008 sowie am 19.02.2008 eine öffentliche Berufungsverhandlung durch. Sie hat daher das Verfahren, welches am 30.6.2008 bzw. 1.7.2008 noch anhängig ist, als Einzelrichterin weiterzuführen.

 

3. Anzuwendendes Verfahrensrecht

 

Gem. § 23 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof, BGBl. I, Nr. 4/2008 (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG) idgF sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr.51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt, weshalb im gegenständlichen Fall im hier ersichtlichen Umfang das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl. Nr.51 zur Anwendung gelangt.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die erkennende Gericht, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Gem. § 75 (1) des Asylgesetzes 2005, BGBl I Nr. 4/2008 (AsylG 2005) sind alle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt. Die §§ 24, 26, 54 bis 57 und 60 dieses Bundesgesetzes sind auf diese Verfahren anzuwenden. § 27 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass das Bundesasylamt oder der Asylgerichtshof zur Erlassung einer Ausweisung zuständig ist und der Sachverhalt, der zur Einleitung des Ausweisungsverfahrens führen würde, nach dem 31. Dezember 2005 verwirklicht wurde. § 57 Abs. 5 und 6 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass nur Sachverhalte, die nach dem 31. Dezember 2005 verwirklicht wurden, zur Anwendung dieser Bestimmungen führen.

 

Im gegenständlichen Fall wurde der Antrag auf internationalen Schutz am 07.09.2006 gestellt, weshalb das AsylG 2005 zur Anwendung gelangt.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die erkennende Behörde, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

4. Festgestellt wird:

 

4.1. Zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin wird festgestellt:

 

Die Beschwerdeführerin ist russische Staatsangehörige und gehört der kumykischen Volksgruppe an. Sie ist Ehegattin und somit Teil der Kernfamilie des A.M., dem mit Erkenntnis vom heutigen Tag Asyl gewährt wurde. Eigene Fluchtgründe sind für sie im Verfahren nicht hervorgekommen.

 

4.2. Zur Lage in der Russischen Föderation werden im gegenständlichen Zusammenhang aufgrund der oben genannten in der Verhandlung in das Verfahren eingeführten Beweismittel folgende relevante Ausführungen getroffen:

 

./A UK Home Office, Operational Guidance Note, Russian Federation, 14.11.2006, UKHO, dem Internet entnehmbar.

 

./B Dt. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien vom 17.03.2007, AA.

 

./C US State Department, Russia, Country Reports on Human Rights Practices 2006 vom 06.03.2007, USDOS, dem Internet entnehmbar.

 

./D Centre for Eastern Studies, Chechnya, between a Caucasian "Jihad" and "hidden" separatism (Macej Falkovski), Jänner 2007, CES 1, dem Internet entnehmbar

 

./E NZZ, "Beschwerliche Rückkehr zur Normalität in Grozny", 06.01.2007, NZZ 1.

 

./F NZZ: "Russland ist mittlerweile das zweitgrößte Immigrationsland der Welt", 03.02.2007, NZZ 2.

 

./G APA, " Kadyrov als neuer tschetschenischer Präsident vereidigt", 05.04.2007, APA.

 

./H Inter-Agency Transitional Workplan for the Northern Caucasus, 2007, IWP, dem Internet entnehmbar

 

./I Auskunft des Vertrauensanwaltes der ÖB Moskau vom 16.11.2006, Fragen 8-11. ÖB1

 

./J Auskunft der ÖB Moskau vom 20.07.2006, ÖB 2

 

./K Centre for Eastern Studies, Demographic Situation in Russia (Leszek Szerepka), Juli 2006, CES 2, dem Internet entnehmbar

 

./L ACCORD, Auskunft vom 13.09.2005 zur Situation von Tschetschenen außerhalb des Nordkaukasus, ACCORD

 

./M Schweizer Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus, Klaus Ammann, Jänner 2007, SFH

 

./N Dagestan: BFM, Russland, Dagestan-Ein zweites Tschetschenien, Teil 1 und 2, April 2006, BFM

 

./O Inguschetien: BBC News, Regions and Territories, Ingushetia, 21.01.2007, BBC, dem Internet entnehmbar

 

Folgerungen:

 

Im Jahr 2006 kam es in Russland zu einer Reihe von, auch schwerwiegenden, Menschenrechtsproblemen, die auch staatliche (Sicherheits-)organe betrafen. Die demokratische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Volk wurde weiter schwächer. Medien- und Meinungsfreiheit wurden in einigen Bereichen beschränkt. An positiven Entwicklungen waren Reformen der Strafgerichtsbarkeit und die verstärkte staatliche Verfolgung von rassischen und ethnischen Diskriminierungen zu verzeichnen (USDOS)

 

In Tschetschenien kam es weiterhin zu einigen straflosen Menschenrechtsverletzungen durch russische Organe und tschetschenische Regierungskräfte, wobei sich die allgemeine Sicherheitslage insbesondere in Städten und anderen Talregionen stabilisiert hat (USDOS, SFH, NZZ 1). Staatliche Sicherheitsaufgaben wurden zunehmend an die "pro-russischen" Kräfte um den nunmehrigen Präsidenten Ramzan Kadyrov übergeben, die mit zum Teil rechtswidrigen Methoden gegen (vermeintliche) Gegner vorgehen, es gibt daher weiterhin Entführungen und Morde durch diese Kräfte. Die Zahl der Morde und Verschleppungen ist nach Zählung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" zwar wesentlich zurückgegangen, es besteht jedoch eine Dunkelziffer, da unter Kadyrov ein Klima der Angst herrscht und auch häufig ungeklärt bleibt, wie viele Verbrechen aus welchen Motiven auf das Konto von Kadyrov gehen. Die "Kadyrovzi" sind nun eine mehrere Tausend Mann starke Truppe, die zum großen Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfern besteht. Rebellen wurden von Kadyrov mit Geld oder durch Entführung von Angehörigen zum Überlaufen gebracht. Offene Kämpfe gibt es derzeit weniger. "Tschetschenische Rebellen", obwohl stark geschwächt, begingen weiterhin einige (schwere) Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, die auch zivile Opfer forderten. Eine Zusammenarbeit zwischen russischen und den "pro-russischen Kadyrov-Kräften" kann jedenfalls zur Zeit nicht ausgeschlossen werden (CES1, SFH, USDOS, AA, APA, NZZ 1).

 

Seit einigen Jahren fließt viel Geld aus Russland nach Tschetschenien, für Waisen, für zerstörte Häuser, wobei jedoch 60 bis 70 Prozent des Geldes in korrupten Kanälen verschwinden. Es kann dennoch von einem nunmehr rasanten ökonomischen Aufschwung (Eröffnung von Geschäften und Lokalen), sowie insgesamt einer zaghaften Normalisierung und Stabilisierung gesprochen werden, wobei die wirtschaftliche und soziale Lage aber weiterhin, wie im gesamten Nordkaukasus, verglichen mit anderen Regionen Russlands, schlecht ist. Lokale Menschenrechtsorganisationen haben begonnen sich zu etablieren, erste Ansätze zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft sind zu beobachten. Es gibt auch staatliche Institutionen zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen, diese sind aber vielfach noch zu schwach ausgeprägt. Der Wiederaufbau wird auch durch von Kadyrov verlangte "freiwilligen Spenden" aller Staatsbediensteten finanziert (CES 1, NZZ 1, IWP, SFH). Großflächige humanitäre Hilfsoperationen wurden in der 2. Jahreshälfte 2006 in der Region durchgeführt, es wurden auch konkrete Projekte zur Stärkung der Gesundheit junger Menschen und des lokalen Gesundheitswesens durchgeführt; ein umfassender koordinierter Arbeitsplan der (internationalen) Hilfsorganisationen für das Jahr 2007 im Nord-Kaukasus bei verbessertem Zugang insbesondere nach Tschetschenien ist erarbeitet worden, eine graduelle Verbesserung der Lage in 2007 wird erwartet (IWP).

 

Die meisten Binnenvertriebenen Tschetschenen sind nach Tschetschenien zurückgekehrt, einige leben aber weiterhin in Nachbarrepubliken und anderen Teilen Russlands (z.B. 200.000 in Moskau, 50.000 in der Wolgaregion, 40.000 in Inguschetien/Dagestan). Die tschetschenische Volksgruppe ist insgesamt in vielen Teilen der Russischen Föderation vertreten. Es existieren dort vielfach auch Netzwerke der Tschetschenen, beziehungsweise Hilfsorganisationen, die sich für ihre Rechte einsetzen (ACCORD, IWP, CES 2).

 

Die Sicherheitslage in Inguschetien ist jedenfalls seit Sommer 2004 schlecht, es kommt öfters zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen russischen Organen und tschetschenischen, respektive islamistischen Rebellen, wobei die Staatsorgane jedenfalls zeitweise Gefahr liefen, die Kontrolle zu verlieren, Rebellen haben auch verschiedene Mordanschläge begangen, diese Gewaltakte ziehen auch unbeteiligte Zivilpersonen in Mitleidenschaft (BBC, SFH).

 

In Dagestan kommt es derzeit verstärkt zu Angriffen des islamistischen Untergrundes auf Sicherheitskräfte. Zivilpersonen werden fallweise in Mitleidenschaft gezogen, wenn auch in ungleich geringerem Ausmaß als in Tschetschenien. Sicherheitskräfte führen im Hinterland vermehrt Kontrollen durch. Insgesamt ist die Lage durch die Vielzahl interethnischer Auseinandersetzungen, soziale und ökonomische Probleme sowie Korruption (wogegen es häufig zu Demonstrationen kommt) erschwert. Es gibt fundamentale Unterschiede zur Auseinandersetzung in Tschetschenien. Die Bevölkerung steht nicht hinter den Islamisten und stellen diese keine Alternative zum politischen System der Republik unter Muchu Aliev dar (BFM, SFH, CES 1).

 

Ob eine Ansiedlung in anderen Teilen der Russischen Föderation möglich ist, ist bei Fehlen staatlicher Verfolgung im Einzelfall zu prüfen, dabei spielen angesichts von möglichen Schwierigkeiten bei der Registrierung ein Netzwerk von Verwandten und Bekannten und die Möglichkeit der Kontaktierung von NGO's eine Rolle. Nichtregistrierte Tschetschenen können allenfalls in der tschetschenischen Diaspora innerhalb Russlands überleben, wobei wiederum Faktoren wie Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse relevant sein können. Für arbeitsfähige Menschen hat sich die Möglichkeit der Teilnahme am Arbeitsmarkt in anderen Teilen Russlands jedoch erhöht. Grundsätzlich kann in 2006/2007 insgesamt nicht von einer Verbesserung der menschenrechtlichen Lage der Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens in Russland gesprochen werden. Das Risiko zum Opfer von Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen zu werden, ist im Regelfall höher als bei anderen Ethnien. Die Schwere solcher Risken ist im Einzelfall zu prüfen. Die Registrierung ist in Südrussland leichter, die Sicherheitslage in den benachbarten Kaukasusrepubliken, insbesondere Dagestan und Inguschetien, ist aber kritisch und muss im Einzelfall geprüft werden. Direkte staatliche Repression nur in Folge einer Asylantragstellung konnte bei Tschetschenen bisher nicht nachgewiesen werden (AA, ACCORD, CES 2, USDOS, UKHO, ÖB 1, NZZ 2).

 

Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und eine medizinische Grundversorgung sind in Russland, einschließlich der Kaukasus-Region im allgemeinen gegeben, die Bevölkerung Tschetscheniens lebt trotz erster Erfolge von entsprechenden Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen und einer grundsätzlich positiven Tendenz schwierig und kann dies in einzelnen Fällen unzumutbar sein (AA, IWP).

 

Gefälschte Dokumente oder unwahre Zeitungsmeldungen, mit denen staatliche Repressionsmaßnahmen dokumentiert werden sollen, werden regelmäßig bei Asylsuchenden aus der Russischen Föderation im allgemeinen und der Kaukasusregion im besonderen festgestellt. Von staatlichen Behörden ausgestellte Dokumente sind nicht selten mit unrichtigem Inhalt ausgestellt oder gefälscht;

Personenstandsurkunden und andere Dokumente (z.B. Haftbefehle) können gekauft werden. Häufig werden falsche Namen und Adressen in Asylverfahren angegeben. Aussagekräftig sind insbesondere echte Inlandspässe (AA).

 

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es durch Bestechung möglich ist, echte Auslandspässe zu erhalten und russische Kontrollen, z.B. beim Verlassen der Kaukasus-Region zu passieren, obwohl eine Suche durch föderale russische Organe erfolgt. Bei der Ausreise nach Weißrussland gibt es in der Regel keine Kontrollen (ÖB 2).

 

5. Beweiswürdigung:

 

5.1. zu 4.1. (Beschwerdeführerin und deren Fluchtgründe)

 

5.1.1. Die Beschwerdeführerin und ihr Gatte erweckten in der mündlichen Berufungsverhandlung einen persönlich glaubhaften Eindruck. Am Verwandtschafts-verhältnis zum Ehegatten der Beschwerdeführerin bestanden keine Zweifel. Die Beschwerdeführerin versuchte soweit es ihr möglich war an der Entscheidungsfindung mitzuwirken. Die Angaben der Beschwerdeführerin in den Berufungsverhandlungen standen in einer Gesamtschau im Einklang zu jenen ihres Gatten. Überdies wird hinsichtlich des anonymen Schreibens auf sämtliche Ausführungen zu Punkt 5.1. des Erkenntnisses des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag betreffend den Ehegatten verwiesen.

 

5.1.2. Die Feststellungen zur Lage in Russland (Tschetschenien) ergeben sich aus einer Gesamtschau der zitierten angeführten aktuellen Quellen, denen von beiden Verfahrensparteien nicht entgegengetreten wurde.

 

6. Rechtliche Würdigung

 

6.1. Zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

 

6.1.2. Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz idF BGBL. I Nr. 100/2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling iSd AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung".

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. (VwGH E vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/0011).

 

Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, Zl. 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, Zl. 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose.

Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

 

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, Zl. 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183, VwGH 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).

 

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).

 

Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH 27.01.2000, Zl. 99/20/0519, VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256, VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0177, VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203, VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0291, VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153, u.a.).

 

6.1.3. Gemäß § 34 AsylG in der Fassung BGBl. I Nr. 100/2005 stellen Familienangehörige (§ 2 Z 22) eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder eines Asylwerbers einen Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

 

Gemäß Absatz 2 leg. cit. hat die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienange-hörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) BGBl Nr. 210/1958, mit dem Familienangehörigen in einem anderen Staat nicht möglich ist.

 

Gemäß Absatz 4 leg.cit. hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Dies ist entweder die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid.

 

Gemäß § 2 Z 22 leg.cit. ist somit ein Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung unverheiratetes, minderjähriges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, ist, sofern die Familieneigenschaft bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.

 

6.1.4. Da keinerlei Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das bestehende Familienleben der Beschwerdeführerin mit ihrem Ehegatten in einem anderen Staat, nämlich insbesondere in ihrem Herkunftsstaat Russland, möglich ist, war ihr aus diesem Grunde gemäß § 34 Absatz 2 Asyl 2005, Asyl zu gewähren.

 

6.1.5 Wie erwähnt, haben sich keine eigenen Fluchtgründe im Sinne einer politischen Verfolgung oder der Zugehörigkeit zu einer allfälligen sozialen Gruppe der Familie eines nach der GFK verfolgten Familienmitgliedes ergeben. Die gegen den Ehegatten gerichteten Verfolgungshandlungen haben nicht zu negativen Konsequenzen für die Beschwerdeführerin geführt. Dass es eine "Sippenhaftung" für Familienangehörige von verfolgten Familienmitgliedern gibt, kann aus den Feststellungen nicht allgemein bejaht werden, im gegenständlichen Fall sind, bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt, keine Hinweise für eine individuelle andere Situation hervorgekommen.

 

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Familienverband, Familienverfahren, Sippenhaftung, soziale Gruppe
Zuletzt aktualisiert am
13.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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