TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/20 C1 221612-0/2008

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Veröffentlicht am 20.10.2008
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Spruch

C1 221612-0/2008/14E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Fischer-Szilagyi als Einzelrichterin über die Beschwerde des K.S., geb. 00.00.1965, StA. Türkei, vom 15.03.2001 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.02.2001, Zahl: 01 00.257-BAG, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 AsylG 1997, BGBl I 1997/76, abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

Mit angefochtenem Bescheid wurde der Asylantrag des nunmehrigen Berufungswerbers vom 04.01.2001 gemäß § 7 AsylG abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt. In der Begründung ging die Erstbehörde von den Angaben des Asylwerbers aus, schloss jedoch aus dem gesamten Vorbringen, dass der Asylwerber in seiner Heimat keine Verfolgungshandlungen aus Konventionsgründen zu befürchten habe.

 

Hiegegen wurde das Rechtsmittel der Berufung eingebracht.

 

Im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung am 27.06.2002, zu welcher die Erstbehörde keinen Vertreter entsandte, gab der Berufungswerber Folgendes zu Protokoll:

 

"VL: Warum möchten Sie, dass Ihre Angaben zum Fluchtweg vertraulich behandelt werden?

 

BW: Das habe ich nie gesagt. Über die Dolmetscherin hat man mich gefragt, ob ich meinen Fluchtweg geheim halten will, ich habe aber nicht zugestimmt.

 

VL: Warum haben Sie am 30.12.2000 Ihr Elternhaus und am 31.12.2000 die Türkei verlassen?

 

BW: Ich war ohnehin geschieden und habe zwei Kinder. Ich musste fliehen.

 

VL: Warum mussten Sie fliehen?

 

BW: Wir sind im Südosten des Landes wohnhaft. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber im Südosten leben hauptsächlich Kurden. Ich habe im Dorf gelebt. Unsere Probleme begannen nach dem 12.09.1980, da war ein Putsch. Damals haben dann die Militärs regiert und haben dann damals schon begonnen, Dörfer zu überfallen, weil sie gesagt haben, ihr seid Kurden. Immer wieder haben sie auch mich mitgenommen, zur Wache, ohne irgendwelche Gründe anzugeben. Ständig wurden wir gequält. Ich habe auch in meiner Aussage zuletzt angegeben, dass zur jüngeren Zeit eine Hochzeitsfeier eines nahen Verwandten überfallen wurde, ohne irgendwelche Gründe anzugeben. Man hat damals etwa 30 Personen, einschließlich mir, mitgenommen.

 

VL: Wann war das in etwa?

 

BW: Im Jahr 2000. Ich glaube, das war gegen Ende des 6. Monats. Wir haben uns auch nicht getraut zu fragen, warum sie uns mitgenommen haben. Wenn man fragt, wird man entweder geschlagen oder gequält.

 

VL: Was ist mit diesen 30 Personen und Ihnen passiert?

 

BW: Sie haben uns zwei Tage festgehalten und dann wieder freigelassen. Alle 30. Das ist häufiger vorgekommen. Sie sagen nicht, du hast das begangen, deswegen nehmen wir dich mit. Sie sagen nichts. Z.B. sagt der Kommandant der Gendarmerie in unserem Dorf:

"Ich bin Gott hier!"

 

VL: Welches Dorf meinen Sie?

 

BW: Mein Dorf heißt I., im Bezirk B., die Großstadt heißt E..

 

VL: Wann haben Sie in diesem Dorf gelebt?

 

BW: Mein Vater hat in A. gewohnt und ich habe im genannten Dorf gewohnt, obwohl ich auch in A. gewohnt habe. Den Großteil meines Lebens habe ich aber im Dorf verbracht, weil wir dort auf Baumwollfeldern oder Tabakfeldern gearbeitet haben.

 

VL: Wie weit ist Ihr Dorf in etwa von A. entfernt?

 

BW: Etwa 100 km.

 

VL: Wie oft wurden Sie im Jahr 2000 von den türkischen Behörden angehalten bzw. mitgenommen?

 

BW: Im Jahr 2000, bevor ich ausgereist bin, wurde ich ca. 5 oder 6 Mal im Dorf festgehalten, wobei sie mich manchmal nur stundenweise festgehalten haben, von 2 bis 3 Stunden bis zu 2 bis 3 Tage. Das hing immer von der Laune des Gendarmeriekommandanten ab.

 

VL: Wissen Sie, warum man Sie festgehalten hat?

 

BW: Sie geben keine Gründe an. In unserem Dorf tauchen schon sehr viele Probleme auf, weil die eine Hälfte der Bevölkerung Aleviten und die andere Hälfte Sunniten sind. Ich bin kein Alevit. Man hat mich in der letzten Aussage gefragt, ob ich PKK-Anhänger oder Sympathisant bin, das habe ich verneint, ich bin es nicht. Aber die überwiegende Bevölkerung in unserem Dorf wählt die HADEP-Partei. Wenn im Allgemeinen diese Partei gewählt wird, nehmen sie als offensichtlich an, dass wir PKK-Unterstützer sind, weil sie meinen, die HADEP unterstützt die PKK. Als man mich einmal festgenommen hat und der Kommandant mich zu sich gerufen hat, habe ich mich am Tisch angehalten. Dafür habe ich 6 bis 7 Faustschläge erhalten. Er hat mich beschimpft und hat gemeint, dass dies nicht die Farm meines Vaters sei, dass ich mich hier nicht anhalten darf. Bei uns ist es nicht üblich, gegenüber einem Polizisten mit überschlagenen Beinen zu sitzen, oder einem Kommandanten gegenüber. Ich war einmal bei Gericht. Dort dürfen die Angeklagten nicht einmal sitzen.

 

VL: Haben Sie irgendwann einmal versucht, etwas gegen diese Übergriffe der Polizisten zu unternehmen?

 

BW: Gedacht habe ich schon oft daran, aber ich konnte nichts machen. Bei wem soll ich mich über wen beschweren? Ich kann mich nicht bei einem Polizisten über einen Polizisten beschweren?

 

VL: Sie können sich einen Rechtsanwalt nehmen und dann Anzeige gegen einen Polizisten erstatten, der Sie misshandelt hat.

 

BW: Wenn ich mit einem Rechtsanwalt gegen einen Polizisten oder Kommandanten vorgehe, habe ich mein eigenes Todesurteil unterschrieben. Ich glaube nicht, dass ich dann gesund weiterleben kann.

 

VL: Im erstinstanzlichen Verfahren haben Sie angegeben, dass Sie von Ihrem Dorf nach A. übersiedelt sind. Erklären Sie den Widerspruch zu Ihrer heutigen Aussage.

 

BW: Ich habe, wie vorhin gesagt, sowohl bei meinem Vater in G. gewohnt, wie auch in meinem Dorf.

 

VL: Vor der ersten Instanz haben Sie angegeben, dass Sie gar nicht mehr in Ihr Dorf zurückgekehrt sind?

 

BW: Entweder irre ich mich, oder der Dolmetscher hat sich geirrt.

 

VL: Warum haben Sie gleich die Türkei verlassen, warum sind Sie nicht in den Westen der Türkei in eine Großstadt gegangen?

 

BW: Ich habe mich auch eine Zeitlang in Istanbul aufgehalten.

 

VL: Wann?

 

BW: Ich glaube, es war 1992 und 1998. Mein Cousin lebte nämlich in Istanbuld, ich habe etwa 2 Wochen bei ihm verbracht, konnte aber nicht Fuß fassen. Ich habe versucht, dort Arbeit aufzunehmen. Man hat aber immer gesagt, warum soll ich einen Kurden beschäftigen?

 

VL: Warum haben Sie gleich auf Grund Ihrer Probleme in Ihrem Heimatgebiet die Türkei verlassen?

 

BW: Auch wenn ich in den Westen der Türkei gegangen wäre, ich hätte mich wieder zu meinen Leuten, die aus meinem Gebiet stammen, gesellen müssen. Ich hätte mich nicht mit einem aus dem Westen Stammenden zusammentun können.

 

VL: Worin liegt das Problem?

 

BW: Dann hätte ich dort die selben Probleme, wie in meinem Dorf.

 

VL: Warum?

 

BW: Wir stammen aus dem Osten.

 

VL: Das heißt, in jedem Gebiet der Türkei wird jeder Kurde wöchentlich von der Polizei oder der Gendarmerie mitgenommen und misshandelt?

 

BW: Ja, im Allgmeinen kann man das sagen. Es gibt auch sicher welche, die nicht festgenommen werden. Aber aus meine eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass das passieren wird.

 

VL: Haben Sie außerhalb Ihres Heimatgebietes Probleme mit den türkischen Behörden gehabt?

 

BW: Ja, in Istanbul hatte ich ein Problem. Ich war 10 Tage in Istanbul und man hat mich zweimal zur Polizei mitgenommen. Ich habe oft "Kaffeehäuser" besucht und mich dort aufgehalten, wo sich die Kurden eben aufhalten. So ein Kaffee wurde zweimal von der Polizei überfallen. Sie kommen einfach hinein und machen Ausweiskontrollen. Sie sehen sich die Ausweise an und sagen, du kommst daher.

 

VL: Ist das den anderen Leuten im Kaffeehaus auch passiert, oder nur Ihnen?

 

BW: Andere wurden auch mitgenommen, nicht nur ich allein.

 

VL: Wenn Sie immer wieder solchen Schikanen ausgesetzt waren, warum haben Sie erst im Dezember 2000 die Türkei verlassen?

 

BW: Ich hatte keine finanziellen Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Ich hatte es mir schon länger vorgenommen, aber ich hatte die finanzielle Möglichkeit nicht. Ich habe es mir nicht erst in den letzten Jahren vorgenommen. Das habe ich z.B. bei der ersten Aussage gar nicht erzählt:

 

Während des Wehrdienstes hat mir ein Vorgesetzter mit dem Gewehrkolben meine große Zehe gebrochen.

 

VL: Gibt es irgendwelche Beweise für Ihr Vorbringen?

 

BW: Nein, darüber verfüge ich leider nicht. Auch habe ich nur einen alten Vater in der Türkei. Ich habe keinen Bekannten in Österreich, der das mir Widerfahrene bezeugen könnte.

 

Verlesen werden die vorläufigen Feststellungen zur Situation in der Türkei, AA 20.03.2002 Punkt II.3., Punkt IV.1, Gutachten O. zu Zahl 224.784/0-X/24/01 vom 30.04.2002.

 

BW: Die Personen, die als Kurden in der Türkei ruhig leben können, finden sich in der Minderzahl.

 

VL: Möchten Sie noch etwas angeben?

 

BW: Eigentlich nicht, aber ich habe meine zwei Kinder in der Türkei zurückgelassen. Wenn mich Gründe dazu nicht gezwungen hätten, wäre ich sicher nicht hierhergekommen."

 

Im Rahmen der Fortsetzung der mündlichen Berufungsverhandlung am 27.03.2007, zu welcher die Erstbehörde abermals keinen Vertreter entsandte, gab der Berufungswerber Folgendes zu Protokoll:

 

"VL: Wie geht es Ihnen heute?

 

BW: Gut.

 

VL: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Heimat?

 

BW: Nicht viel.

 

VL: Lebt Ihr Vater noch in der Türkei?

 

BW: Mein Vater ist gestorben.

 

VL: Haben Sie noch Familienangehörige in der Türkei?

 

BW: Ja, ich habe Verwandte, meine Brüder und Schwestern. Die genauen Adressen weiß ich nicht, ein paar wohnen in G. und E..

 

VL: Haben diese Probleme mit den Behörden?

 

BW: Ich weiß es nicht genau.

 

VL: Was befürchten Sie, wenn Sie jetzt in die Türkei zurückkehren müssten?

 

BW: Ich komme 100%ig vor Gericht, danach ins Gefängnis. Meine Kinder kennen mich nicht einmal, weil ich mich von meiner Frau getrennt habe. Wenn ich anrufe, wollen sie nicht einmal mit mir sprechen. Ich habe keine Wohnung, keine Arbeit und kein Geld.

 

VL: Warum kommen Sie 100%ig vor Gericht und dann ins Gefängnis?

 

BW: Wie soll ich das erzählen? Wenn ich in mein Dorf gehe, kennt man mich, die Polizei und die Gendarmerie. Ich bin von dort geflüchtet. Wenn ich zurückkehre, bin ich überzeugt, dass ich dieselben Probleme haben werde wie vor meiner Flucht.

 

VL: Sind Sie vor Ihrer Flucht im Gefängnis gewesen, sind Sie vor Gericht gestellt worden?

 

BW: Ich bin vorübergehend inhaftiert gewesen.

 

VL: Warum glauben Sie, dass Sie vor Gericht gestellt werden?

 

BW: Früher gab es sehr viele Probleme. Ich nehme an, dass ich vor Gericht komme.

 

VL: Welche Probleme hatten Sie denn früher?

 

BW: Bei uns im Osten gibt es Kurden- und Türkenprobleme. Wenn Sie zufällig im Fernsehen beobachtet haben, vergangene Woche war das Newroz-Fest und es hat dort Probleme gegeben.

 

VL: Können Sie irgendwelche konkreten Aussagen, die Ihre Person betreffen, machen?

 

BW: Das ist fast dasselbe. Wenn ich dorthin komme, werde ich wieder Probleme wegen der Zugehörigkeit Kurden-Türken haben. Die Gendarmerie wird kommen, wird mich beschuldigen, dass ich PKK-Angehöriger bin. Die PKK wird kommen und sagen, dass ich Spitzel für die Polizei bin.

 

VL: Hatten Sie die Probleme mit der PKK schon vor Ihrer Flucht?

 

BW: Nicht so viel, wie mit den türkischen Polizisten und den Gendarmen. Aber doch mit den PKK-Leuten. Denn, wenn man dort lebt, kann man nicht irgendwo dazwischen sein, entweder muss man sich zur einen oder zur anderen Seite bekennen.

 

VL: Bis jetzt haben Sie nicht vorgebracht, dass Sie mit der PKK Probleme hatten?

 

BW: Weil mir keine diesbezügliche Frage gestellt wurde und ich von mir aus nicht darüber gesprochen habe. Ich hatte in meiner früheren Aussage schon erwähnt, dass ich kein PKK-Anhänger bin.

 

VL: Warum können Sie nicht in einer anderen Gegend in der Türkei leben?

 

BW: In den meisten Gebieten der Türkei gibt es dieselben Probleme, Istanbul, Ankara, und sogar Izmir. In meiner Stadt sowieso. In den östlichen Städten, G., E. ist es ebenso.

 

VL: Sie haben angegeben, dass noch Brüder von Ihnen, zumindest in der Nähe von G. wohnen. Wie viele und können Sie das Alter angeben?

 

BW: Ich habe ältere 3 Brüder, ich weiß nicht, wo genau sie wohnen. Ich habe auch noch 2 Schwestern.

 

VL: Wieso können Ihre Brüder in der Türkei leben und Sie nicht?

 

BW: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es mein Charakter, der es mir nicht ermöglicht, unten zu leben. Ich bin davon überzeugt, dass sie auch nicht in Ruhe leben.

 

VL: Sie haben eine Zeit lang in Istanbul gelebt?

 

BW: Ja.

 

VL: Wie lange waren Sie dort?

 

BW: Ca. 2 oder 3 Monate.

 

VL: Hatten Sie in dieser Zeit Probleme?

 

BW: Ich habe in Istanbul bei meinem Cousin gewohnt. Seine Wohnung wurde mehrmals von der Polizei durchsucht, sie haben sonst aber nichts gemacht. Diese Durchsuchungen seitens der Polizei gibt es auch in Kaffeehäusern, die Kurden gehören. Im Bezirk Gazi von Istanbul leben durchwegs kurdische Leute.

 

VL: Warum haben Sie bei der letzten Verhandlung nicht gesagt, dass auch die Wohnung Ihres Cousins durchsucht wurde?

 

BW: Das weiß ich nicht.

 

VL: Wollen Sie noch irgendetwas angeben?

 

BW: Ich möchte nicht übertreiben und nicht lügen. Was ich vorgebracht habe, entspricht dem, was ich erlebt habe. Ich möchte mein weiteres Leben in Österreich bleiben und hier tätig sein. Ich habe eine gute Arbeit gefunden, kann aber keine Arbeitsbewilligung bekommen.

 

VL: Haben Sie irgendwelche familiären Verbindungen in Österreich?

 

BW: Ich habe hier eine Nichte, sonst niemanden.

 

Verlesen werden die aktuellen im Akt aufliegenden Länderberichte.

 

BW: Ich weiß, dass in Istanbul viele Kurden leben. Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass sie ständig mit Problemen konfrontiert sind. Seit meiner Ankunft in Österreich bin ich ein guter Bürger, ich werde nie Probleme machen. Ich möchte problemlos das Leben in Österreich führen."

 

Folgender entscheidungsrelevanter Sachverhalt wird festgestellt:

 

Der Berufungswerber ist türkischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden. Er hat die Türkei verlassen, ist in Österreich illegal eingereist und hat am 04.01.2001 gegenständlichen Asylantrag gestellt.

 

Diese Feststellungen ergeben sich aus den Angaben des Berufungswerbers und aus dem Akteninhalt.

 

Es wird nicht festgestellt, dass der Berufungswerber einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt war bzw. ist. Weiters wird nicht festgestellt, dass der Berufungswerber im Falle seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

 

Im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung haben sich eklatante Widersprüche und Ungereimtheiten im Vorbringen des Berufungswerbers ergeben, welche dieser nicht schlüssig zu erklären vermochte.

 

Im erstinstanzlichen Verfahren gab der Berufungswerber an, er sei seit seinem 15. Lebensjahr nach Laune der Beamten festgenommen und für mehrere Stunden oder bis zu einem Tag festgehalten worden und deshalb sei er aus der Türkei geflüchtet. Im Gegensatz dazu wird vom Berufungswerber in den schriftlichen Berufungsausführungen ausgeführt, dass er ungefähr seit seinem 15. Lebensjahr wöchentlich von der örtlichen Gendarmerie angehalten und dabei ein bis zwei Tage festgehalten worden wäre. Außerdem sei er nach diesen Ausführungen - der Berufungswerber erwähnte diesen Umstand in den Einvernahmen weder im erstinstanzlichen Verfahren noch vor der erkennenden Behörde - an einen Heizkörper gefesselt und von den Polizisten geschlagen und getreten worden. In der Berufungsverhandlung am 27.06.2002 schilderte der Berufungswerber die Polizeischikanen in einer dritten Version dergestalt, dass er im Jahr 2000, bevor er ausgereist - laut eigenen Angaben erfolgte die Ausreise am 31.12.2000 - sei, von türkischen Behörden ca. 5 oder 6 Mal im Dorf festgehalten worden sei, wobei sie ihn manchmal nur 2 bis 3 Stunden und manchmal bis zu 2 oder 3 Tagen festgehalten hätten. Außerdem schilderte er erstmals einen Vorfall, bei dem die Polizei Ende Juni 2000 die Hochzeitsfeier eines nahen Verwandten überfallen haben und 30 Personen (einschließlich den Berufungswerber selbst) mitgenommen haben soll. Die unterschiedlichen Angaben zur Häufigkeit der Anhaltungen (von wöchentlich bis ca. 6 Mal jährlich) sowie hinsichtlich der Behandlung während diesen Anhaltungen zeigen deutlich, dass seine Angaben den Fluchtgrund betreffend nicht in sich schlüssig und somit unglaubwürdig sind. Gerade in Hinblick auf die in der Berufung in dieser Intensität erstmals vorgebrachten Schläge und Tritte durch die Polizei - in der Einvernahme am 09.02.2001 war die Rede von einer Ohrfeige, da er sich am Tisch angehalten habe - ist es nicht nachvollziehbar, dass der Berufungswerber bei tatsächlichem Erleben dieser traumatischen Ereignisse (Fesselung an einen Heizkörper, Schläge und Tritte durch Polizisten, aber auch Überfall einer Hochzeitsfeier samt Festnahme von 30 Personen), diese nicht gleich in der ersten Einvernahme detailreich und ausführlich geschildert hat. Dazu kommt, dass der Berufungswerber in der Berufungsverhandlung am 27.06.2002 im Gegensatz zu der Einvernahme am 09.02.2001 aussagte, dass er auf Grund des Anhaltens am Tisch 6 bis 7 Faustschläge erhalten habe. Hätte der Berufungswerber die geschilderten Schläge oder die Ohrfeige tatsächlich erhalten, dann wüsste er, ob es eine Ohrfeige oder mehrere Faustschläge waren, da zwischen einem Faustschlag und einer Ohrfeige (Schlag mit offener Hand) in der Auswirkung ein erheblicher Unterschied besteht. Zusätzlich zu diesen eklatanten Widersprüchen erweiterte der Berufungswerber in der Fortsetzung der Berufungsverhandlung seine Gründe für die Flucht aus der Türkei in unglaubwürdiger Weise dahingehend, dass er nicht nur Probleme mit der Polizei, sondern auch mit der PKK gehabt habe. Auf Vorhalt, warum er denn dies nicht schon früher vorgebracht habe, antwortete er nur, dass ihm keine diesbezügliche Frage gestellt worden sei.

 

Die Unglaubwürdigkeit der Angaben des Berufungswerbers wird außerdem dadurch verstärkt, dass er im erstinstanzlichen Verfahren angegeben hat, auf Grund der Schikanen durch die Polizei von seinem Dorf nach G. übersiedelt zu sein, dort jedoch die Kurden ebenfalls durch die Polizei schikaniert worden wären. Dazu im Widerspruch stehend gab er in der Berufungsverhandlung am 27.06.2002 an: "Mein Vater hat in A. gewohnt und ich habe im genannten Dorf gewohnt, obwohl ich auch in A. gewohnt habe." Auf Vorhalt dieser Unstimmigkeit in seinen Angaben, antwortete der Berufungswerber lediglich lapidar, dass er sowohl bei seinem Vater in G. als auch in seinem Dorf gewohnt habe.

 

Schlussendlich gab der Berufungswerber in der Berufungsverhandlung am 27.06.2002 an, dass er 2 Wochen bei seinem Cousin in Istanbul verbracht habe. In derselben Verhandlung gab er einige Fragen später an, 10 Tage in Istanbul verbracht zu haben und dort im Zuge von Überfällen auf von Kurden besuchten Kaffeehäusern, wo er sich oft aufgehalten habe, durch die Polizei, von dieser zweimal mitgenommen worden zu sein. In gänzlich anderer Weise schilderte der Berufungswerber seinen Aufenthalt in Istanbul in der Fortsetzung der Berufungsverhandlung am 27.03.2007. Er gab an, dass er ca. 2 bis 3 Monate in Istanbul bei seinem Cousin gewohnt habe. In dieser Zeit sei die Wohnung des Cousins von der Polizei mehrmals durchsucht worden. Ansonsten habe die Polizei nichts gemacht. Durchsuchungen seitens der Polizei gebe es auch in Kaffeehäusern, die Kurden gehören. Auf Vorhalt, dass der Berufungswerber in der letzten Verhandlung nicht erwähnt habe, dass auch die Wohnung des Cousins durchsucht worden sei, antwortete dieser: "Das weiß ich nicht." Es zeigt sich somit deutlich, dass es dem Berufungswerber nicht möglich war, den Aufenthalt in Istanbul in einer schlüssigen und plausiblen Weise kohärent zu schildern. Die zeitliche Dauer des Aufenthaltes in Istanbul variiert in den Angaben des Berufungswerbers zwischen 10 Tagen und 2 bis 3 Monaten. Die erkennende Behörde verkennt nicht, dass eine genaue Datumsangabe oft auf Grund des Zeitablaufes nicht möglich ist. Dennoch muss man in der Lage sein, selbst länger zurückliegende Zeiträume zumindest ansatzweise und nicht mit einer Divergenz zwischen Tagen und Monaten identisch angeben zu können. Dazu kommt, dass der Berufungswerber seinen Aufenthalt in Istanbul vage, wenig detailreich und widersprüchlich schilderte. So erwähnte der Berufungswerber die in der Berufungsverhandlung geschilderten zweimaligen Mitnahmen durch die Polizei in der Fortsetzung der Berufungsverhandlung nicht einmal mehr, sondern schilderte sogar im Widerspruch dazu stehend, dass zwar die Wohnung des Cousins zweimal durchsucht worden sei, die Polizei aber sonst nichts gemacht habe. Es wurde somit der Eindruck, dass der Berufungswerber die geschilderten Ereignisse gar nicht selbst durchlebt hat, sondern ein rein gedankliches Konstrukt geschildert hat, verstärkt.

 

Hinzu kommt, dass laut eigenen Angaben des Berufungswerbers drei ältere Brüder und zwei Schwestern von ihm in der Türkei leben. Diese sind, obwohl der Berufungswerber die Türkei Ende 2000 verlassen hat, noch immer in der Türkei aufhältig. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Länderfeststellungen verwiesen, die zwar eine schwierige Situation der Kurden in der Türkei schildern, aber keine flächendeckende Schikane oder Verfolgung derselben.

 

Im Gesamtzusammenhang betrachtet weist das ohnehin vage und allgemein gehaltene Vorbringen des Berufungswerbers sohin eklatante Widersprüche und Ungereimtheiten auf, welche der Berufungswerber nicht zu klären vermochte. Stattdessen hat sich im Zuge des Verfahrens vor der erkennenden Behörde der Eindruck verstärkt, dass der Berufungswerber ein konstruiertes Vorbringen erstattet hat und war daher sein gesamtes Vorbringen als unglaubwürdig zu werten. Somit war nicht davon auszugehen, dass er in der Türkei einer asylrechtlich relevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt war bzw. ist.

 

Zu der Situation in der Türkei, insbesondere zu der Behandlung von Rückkehrern bzw. von Kurden, wird Folgendes festgestellt:

 

Die Türkei verbindet Elemente einer modernen, westlichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft mit einem lebendigen und in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelten Islam, mit ausgeprägtem Nationalismus, Klientelstrukturen und zum Teil noch traditionellen Lebensformen, insbesondere in ländlichen Gegenden. Die Türkei betrachtet sich als Modell eines laizistischen Staates mit überwiegend islamischer Bevölkerung. Die früher starken politischen Gegensätze hatten sich in den vergangen drei Jahren zunächst abgeschwächt, die Polarisierung zwischen Vertretern des Laizismus und der AKP nahm jedoch vor dem Hintergrund der 2007 anstehenden Wahlen (Staatspräsident, Parlament) wieder zu. Seit November 2002 hat die AKP-Regierung ein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 1920er Jahren gilt. Insgesamt wurden seit 2002 acht "Reformpakete" verabschiedet, die in kurzer Zeit umwälzende gesetzgeberische Neuerungen brachten; ein neuntes Reformpaket wird seit dem 16.9.2006 im Parlament beraten, die meisten Gesetze aus diesem Paket wurden inzwischen verabschiedet und sind zum Teil bereits in Kraft getreten. Die Umsetzung einiger der neu in Kraft getretenen Gesetze geht jedoch langsamer vonstatten als erwartet.

 

Ein herausragendes politisches und für die gesamte Türkei wegweisendes Ereignis der letzten Jahrzehnte ist der auf den Beschluss des Europäischen Rates (ER) vom 17.12.2004 zurückgehende Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zum 03.10.2005. Die zu Grunde liegenden Schlussfolgerungen des ER stellen u.a. fest, dass die "Türkei die politischen Kriterien für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt...". Der Europäische Rat hatte damit die Anstrengungen zu mehr Rechtsstaatlichkeit sowie die Reformbereitschaft von Regierung, Parlament und weiten Teilen der Bevölkerung gewürdigt. In ihrem Fortschrittsbericht vom 08.11.2006 greift die EU-Kommission vor allem zwei Kritikpunkte auf: mangelnde Flexibilität in der Zypernfrage und Defizite bei der Meinungs- und Religionsfreiheit sowie den Minderheitenrechten.

 

Die Kernpunkte der bisherigen acht "Reformpakete" sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in weiteren in der Türkei gesprochenen Sprachen neben Türkisch (dies betrifft in erster Linie Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichternde Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z.B. bei den Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die zum 01.06.2005 in Kraft getretenen Strafgesetze sollen sich im Rahmen von EU-Standards halten. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert (vergleichbar Art. 25 GG). Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden.

 

Fachleute gehen davon aus, dass ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei von 72 Millionen - also ca. 14 Millionen Menschen - (zumindest teilweise) kurdischstämmig ist. Im Westen der Türkei und an der Südküste leben die Hälfte bis annähernd zwei Drittel von ihnen: ca. 3 Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Ca. sechs Millionen kurdischstämmige Kurden leben in der Ost- und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Kurden leben auch im Nord-Irak, Iran, in Syrien und Georgien. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig. Allein aufgrund ihrer Abstammung sind und waren türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeit nie staatlichen Repressionen unterworfen. Über erhöhte Strafzumessung in Strafverfahren liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse vor. Aus den Ausweispapieren, auch aus Vor- oder Nachnamen, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Kleinkindern dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden). Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus. Innenminister Aksu z.B. ist kurdischer Abstammung. Er hat Reden auf kurdisch gehalten, allerdings nicht bei offiziellen Anlässen. Die Tatsache, dass "Separatismus" und "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande" kurdischstämmigen Türken weit öfter als anderen Türken vorgeworfen wurde, liegt daran, dass die Unterstützung der Terrororganisation PKK sich nahezu ausschließlich aus kurdischstämmigen Kreisen rekrutierte.

 

Türkische Regierungen versprechen seit langem, die wirtschaftliche und soziale Lage des in weiten Teilen noch semifeudal strukturierten und wenig entwickelten Südostens der Türkei zu verbessern. Nach einer jüngst veröffentlichten Studie des Instituts für Bevölkerungsstudien der Haceteppe Universität Ankara (Tgyona) sind in den letzten 20 Jahren (1986 bis 2005) zwischen 953.680 bis

1.201.200 Personen aus "Sicherheitsgründen" aus den 14 Provinzen im Osten und Südosten der Türkei abgewandert, davon im Zeitraum 1986 bis1990 31,6 %, von 1991 bis 1995 61,3 %, von 1996 bis 2000 5 % und von 2001 bis 2005 2,1 %. Aus den Daten von Tgyona ist zu entnehmen, dass zwischen 91.000 und 101.200 Personen, die aus Sicherheitsgründen in den letzten 20 Jahren aus den ländlichen Gebieten der 14 Provinzen abgewandert waren, an den Ausgangsort zurückgekehrt sind; zählt man die Städter hinzu, so sind es zwischen 112.000 und 124.000 Personen. Dies sind 10,9 bis 12,1 % der Personen, die aus Sicherheitsgründen aus den 14 Provinzen abgewandert waren.

 

Menschenrechtsorganisationen, z.B. Human Rights Watch, schätzen die Zahl der Binnenflüchtlinge auf bis zu zwei Millionen und gehen von geringeren Rückkehrerzahlen als die Regierung aus. An einem wirklichen Rückkehrer-Konzept fehlt es nach wie vor. Ohne eine staatliche Anschubfinanzierung wird den meisten der in die Städte geflüchteten Menschen eine Rückkehr in die Dörfer nicht möglich sein. Oft fehlt es auch am Willen, in die in beruflicher und privater Hinsicht meist perspektivlosen Dörfer des Südostens zurückzukehren. Ein erster symbolbeladener Besuch des Ministerpräsidenten Erdogan in Diyarbakir am 12.08.2005 führte zu der Hoffnung, dass die Regierung das "Kurdenproblem" nunmehr als solches wahrnimmt (Erdogan: "Es gibt ein kurdisches Problem. Dies ist auch mein Problem."). Kritisiert wird allerdings, dass dieser Ankündigung keine Taten folgten.

 

Viele türkische Bürger kurdischer Abstammung sind bzw. waren Anhänger oder Mitglieder der die Interessen von Kurden vertretenden Parteien DTP, DEHAP (bis zu ihrer Selbstauflösung) bzw. HADEP (bis zu ihrem Verbot). Dem Auswärtigen Amt wurden zahlreiche Anfragen zu Mitgliedschaften von Asylbewerbern in der HADEP vorgelegt, auch zu Mitgliedschaften, die schon viele Jahre zurückliegen. Abgesehen davon, dass solche Mitgliedschaften in der HADEP nicht mehr in zuverlässiger Weise überprüft werden können, ist kein Fall bekannt geworden, in dem die einfache Mitgliedschaft in der HADEP oder in der DEHAP - ohne besondere, z.B. strafrechtlich relevante Verdachtsmomente - zu Repressalien gegen die Betreffenden geführt hätte.

 

Der Gebrauch des Kurdischen als Umgangssprache und in Buchveröffentlichungen sowie Printmedien ist keinen Restriktionen ausgesetzt. Der Gebrauch des Kurdischen, d.h. der beiden in der Türkei vorwiegend gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmanci und Zaza, im "öffentlichen Raum" ist noch eingeschränkt, im Schriftverkehr mit Behörden nicht erlaubt. Das Reformpaket vom 03.08.2002 hatte bereits das Verbot von Rundfunk- und Fernsehsendungen auf Kurdisch aufgehoben (der Gebrauch im Radio wurde damals schon toleriert). Sendungen in kurdischer und in anderen "Sprachen und Dialekten, die in der Türkei üblicherweise gesprochen werden" - so der Wortlaut - sind damit zugelassen; ihre Zulassung steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassung stehen und nicht gegen "die unteilbare Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation" gerichtet sein dürfen. Nach einem sehr schwierigen Implementierungsprozess mit einigen Rückschlägen werden seit Juni 2004 - also 22 Monate nach Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen - im staatlichen Fernsehen TRT in der Sendung "Kültürel Zenginligimiz" ("Unser kultureller Reichtum") wöchentlich je eine halbe Stunde in Bosnisch, Arabisch und Tscherkessisch sowie in Kurmanci und Zaza ausgestrahlt. Es sind jedoch nur Nachrichten, Musik und Kulturprogramme gestattet, türkische Untertitel bzw. Übersetzungen auf Türkisch sind Pflicht. Bis vor kurzem durften nur überregionale Sender Programme in diesen Sprachen ausstrahlen (TV:

bis 45 Minuten täglich und vier Stunden wöchentlich, Radio: bis zu einer Stunde täglich und fünf Stunden wöchentlich). Attraktiver für die kurdische Bevölkerung im Südosten sind die von Sendern aus Europa und Nordirak ausgestrahlten Sendungen in kurdischen Sprachen. Die Rundfunk- und Fernseh-Aufsichtsbehörde RTÜK hat am 07.03.2006 auch privaten regionalen Sendern erlaubt, innerhalb der o.a. Grenzen ihre Sendungen in kurdischen Sprachen auszustrahlen. Seit dem 23.03.2006 strahlen Gün TV und Söz TV aus Diyarbakir sowie Medya FM Radio kurdischsprachige Programme aus.

 

Das Reformpaket vom 03.08.2002 erlaubte mit der Änderung des Gesetzes über den Fremdsprachenunterricht, dass in privaten Lehreinrichtungen Kurse in den oben genannten "Sprachen und Dialekten" abgehalten werden. Nach erheblichen Implementierungsschwierigkeiten wurden seit April 2004 Kurdischkurse an privaten Lehrinstituten in vielen türkischen Großstädten angeboten. Da die Nachfrage jedoch hinter den Erwartungen zurück blieb, wurden alle Kurse aus wirtschaftlichen Gründen wieder geschlossen. Kurdischunterricht und Unterricht in kurdischer Sprache an Schulen sind nach wie vor verboten. Nach dem Parteiengesetz sind öffentliche Reden von Politikern in einer anderen als der türkischen Sprache verboten.

 

Die Vergabe kurdischer Vornamen unterlag bis 2003 Restriktionen. Behördlicherseits wurde die Vergabe kurdischer Vornamen früher als politische Einflussnahme der PKK gedeutet. Das Reformpaket vom 19.06.2003 änderte das Personenstandsgesetz dahingehend, dass nur noch Vornamen verboten sind, die gegen die "Moral und öffentliche Ordnung" verstoßen; Verbote wegen Verstoßes gegen "nationale Kultur, Traditionen und Gebräuche" sind nicht mehr vorgesehen. In der Praxis ist damit die Vergabe von kurdischen, aber auch anderen, ausländischen Vornamen erlaubt. Ein Runderlass des türkischen Innenministeriums weist darauf hin, dass die nur im Kurdischen, nicht jedoch im offiziellen türkischen Alphabet vorhandenen Buchstaben w, x und q bei der Namensvergabe nicht zulässig sind und ins Türkische transkribiert werden müssen. Als Folge sind auch Gerichtsverfahren zu dieser Problematik anhängig.

 

Dem traditionellen kurdischen Newrozfest (Neujahr am 21. März), das die kulturelle Identität der Kurden jedes Jahr symbolhaft besonders sichtbar macht, standen die türkischen Sicherheitskräfte jahrelang besonders misstrauisch gegenüber. Die letzten drei Newrozfeste verliefen in einer entspannten Atmosphäre der Toleranz auch unter Beteiligung offizieller Stellen, ganz im Gegensatz zu Newrozfesten in einigen der Vorjahre, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Festnahmen kam. Ministerpräsident Erdogan bezeichnete das Newrozfest in einer Erklärung als wichtigen Faktor, der "den Zusammenhalt der Nation stärke" (allerdings kam es 2006 unmittelbar nach dem Newrozfest zu gewaltsamen Auseinandersetzungen,

s. dazu den folgenden Abschnitt).

 

Die Kurdenfrage ist eng verflochten mit dem jahrzehntelangen Kampf der türkischen Staatsgewalt gegen die von Abdullah Öcalan gegründete sog. "Kurdische Arbeiterpartei" (PKK) und ihre terroristischen Aktionen. Das in Deutschland und der EU bestehende Verbot der Terrororganisation PKK erstreckte sich auch auf die Nachfolgeorganisationen unter anderem Namen (s.u.). Die türkische Regierung hatte lange Zeit die Kurdenfrage nur einseitig als Kampf gegen Terrorismus und Separatismus der PKK betrachtet, ohne daneben die kulturelle Dimension zu sehen. Die 1984 von der PKK begonnenen und bis 1999 andauernden gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den türkischen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei haben fast 35.000 Menschenleben unter PKK-Kämpfern, türkischen Sicherheitskräften und der Zivilbevölkerung gefordert. Seitdem hat sich die Lage beruhigt. Die Stärke der PKK wird aktuell auf noch 5.000-5.500 Kämpfer geschätzt, davon ca. zwei Drittel im Nordirak. Türkische Erwartungen, die USA würden im Nordirak gegen die PKK

 

vorgehen, haben sich bisher nicht erfüllt.

 

Die PKK verkündete jedoch zum 01.06.2004 die Beendigung des von ihr ausgerufenen "Waffenstillstands". Seitdem kam es im Südosten nach offiziellen Angaben wieder vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und PKK-Terroristen, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind, obwohl die PKK am 19. August 2005 einen auf einen Monat befristeten Waffenstillstand verkündete. Die PKK verkündete am 1.Oktober 2006 erneut einen einseitigen Waffenstillstand (s.u.). Nach türkischen Angaben kamen in den letzten drei Jahren 359 PKK-Terroristen, 203 türkische Soldaten, 21 Polizisten und 22 Dorfschützer zu Tode. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe in diesem Jahr sollen nach Presseangaben mindestens 110 PKK-Mitglieder und 78 Soldaten ums Leben gekommen sein.

 

Einen weiteren negativen Wendepunkt für das sich über die letzten Jahre langsam verbessernde Verhältnis zwischen kurdischstämmiger Bevölkerung und türkischem Zentralstaat bildete ein von Gendarmerieangehörigen begangener Anschlag auf das Buchgeschäft eines ehemaligen PKK-Mitglieds in einer Kleinstadt im Südosten der Türkei (Semdinli) im November 2005. Danach war ein weiterer deutlicher Anstieg der Spannungen in der Region zu verzeichnen. Aufgrund schwerer Vorwürfe gegen den designierten Generalstabschef leitete der Staatsanwalt Ermittlungen ein. Dies hatte zur Folge, dass gegen den Staatsanwalt ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung seiner Kompetenzen eröffnet wurde, das inzwischen dazu führte, dass der Staatsanwalt aus seinem Amt entfernt wurde. Diese Begleitumstände im Fall Semdinli lösten erneut eine Kontroverse um die Rolle der Armee aus und dürften das in der Region vorhandene generelle Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen weiter verstärkt haben. Ein vorläufiger Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten erreicht, als es zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK sowie türkischen Sicherheitskräften kam. Auslöser der Unruhen war die Beerdigung von vier in einem Gefecht mit türkischen Sicherheitskräften getöteten PKK-Terroristen. Die Ausschreitungen haben in der gesamten Türkei mindestens 15 Todesopfer, darunter mindestens drei Kinder unter 10 Jahren, sowie mehr als 350 Verletzte - hierunter knapp 200 Sicherheitskräfte - gefordert. Erstmals seit langer Zeit hat die PKK 2005 und 2006 auch wieder Bombenattentate gegen touristische Ziele verübt, so z.B. am 16.07.2005 in Kusadasi (bei Izmir) mit fünf Todesopfern, am 02.04.2006 in Istanbul und zuletzt bei einer Anschlagsserie am 27. und 28. August 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, die drei Todesopfer und zahlreiche Verletzte forderte. Trotz der Erklärung eines "einseitigen Waffenstillstands" durch die PKK am 1. Oktober 2006 kommt es weiterhin zu Auseinandersetzungen zwischen der Terrororganisation und türkischen Sicherheitskräften. Anschläge auf touristische Ziele hat es seitdem nicht mehr gegeben.

 

Von 2002 bis 2004 hatte sich die Terrororganisation PKK mehrfach umbenannt (KADEK/KHK/KONGRA-GEL). Mittlerweile ist sie zu ihrer alten Bezeichnung PKK zurückgekehrt. (Für die von ihr selbst als politisch bezeichnete Betätigung im Ausland hat sie jedoch die Bezeichnung KONGRA-GEL beibehalten). Ihr Anführer, der zu lebenslanger Haft verurteilte Abdullah Öcalan, befindet sich seit 1999 im Gefängnis auf der Insel Imrali im Marmara-Meer. Es wird vermutet, dass er aus der Haft über seine Rechtsanwälte weiterhin die PKK lenkt. Im Zusammenhang mit dem neuen Strafvollzugsgesetz war beabsichtigt, Möglichkeiten der Steuerung der PKK durch Öcalan durch Einschränkungen im Verkehr mit seinen Rechtsanwälten zu unterbinden. Kurdischen Quellen zufolge soll sich die PKK in letzter Zeit wieder verstärkt der Anwerbung "junger Kämpfer" widmen. Nach Berichten PKK nahestehender Medien sind zahlreiche neue Guerillakämpfer in die Reihen der "Volksverteidigungskräfte" HPG aufgenommen und danach in ihre Einsatzgebiete entsandt worden.

 

Die PKK bezeichnet ihre terroristischen Aktionen als "Freiheitskampf". Sie befindet sich nach Einschätzung von Beobachtern vor einer Spaltung. Während ein Flügel, darunter die Führungskader in Mitteleuropa, die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat propagiert und dies auch umsetzt, will ein anderer Teil die gewaltsamen Auseinandersetzungen beenden, der Idee eines eigenen kurdischen Staates abschwören und in einen Dialog mit der türkischen Regierung eintreten, um über diesen Weg eine erweiterte Amnestie anzustreben. Zwischen diesen beiden Extremen innerhalb der PKK dürfte es weitere Interessengruppen geben.

 

Die überwiegende Mehrheit der kurdischstämmigen Bevölkerung tritt für ein friedliches Miteinander ein. Sie hat kein Interesse an einer Wiederaufnahme bzw. Fortsetzung des bewaffneten Kampfes.

 

Das "Gesetz zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft" vom 06.08.2003 ist in der Praxis nur noch auf wenige Konstellationen anwendbar. Es eröffnete z.B. Mitgliedern und Unterstützern terroristischer Organisationen, die nicht an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt waren und sich freiwillig stellen, Straffreiheit. Anträge auf Strafminderung sind noch möglich, nicht jedoch Anträge auf völlige Straffreiheit. Ausdrücklich ausgeschlossen vom Gesetz sind vor allem Führungskader der Organisationen, die gemäß Legaldefinition gegenüber allen Mitgliedern auf nationaler Ebene weisungsbefugt sind oder waren. Offiziellen Angaben (Stand: Ende 2004) zufolge hatten sich nur 352 PKK-Angehörige, die nicht bereits eine Haftstrafe verbüßten, gestellt. Hinzu kommen 1726 Personen, die wegen Delikten in Verbindung mit PKK-Aktivitäten inhaftiert sind. Mit Ausnahme der Inhaftierten haben wichtige PKK-Mitglieder angeblich nur ganz vereinzelt Anträge gestellt. Die Regierung erklärt den zahlenmäßigen Misserfolg der Regelung mit dem großen Druck und der Kontrolle innerhalb der PKK, die ein Ausscheren aus der Gruppe unmöglich machten. Glaubwürdigen Presseberichten zufolge hat es Fälle gegeben, in denen wiedereingliederungsbereite PKK-Angehörige auf Anordnung von PKK-Führungskadern hingerichtet wurden. Das führende DEHAP-Mitglied Fidan wurde im Juli 2005 allem Anschein nach von der PKK ermordet, nachdem er sich öffentlich von ihr distanziert hatte.

 

Das Wiedereingliederungsgesetz war seinem Wortlaut nach nicht auf PKK-Straftäter beschränkt. Deshalb haben auch zahlreiche Anhänger anderer Organisationen (u.a. Hizbullah, DHKP-C, die sog. "Sivas-Attentäter" und sogar einige an den Anschlägen in Istanbul vom 15./20.11.2003 Beteiligte) Anträge gestellt. Ingesamt gingen bis Anfang März 2004 4100 Anträge ein, die meisten davon von bereits verurteilten Straftätern. Vor allem der Ausschluss von Führungskadern wurde von Teilen der Öffentlichkeit, insbesondere aber von der DEHAP und der PKK, selbst kritisiert und dafür verantwortlich gemacht, dass die mit dem Gesetz verbundenen Erwartungen - dazu gehörte auch die Herauslösung von PKK-Angehörigen aus ihrem Rückzugsgebiet im Nordirak - nicht erfüllt wurden. Die DEHAP forderte nach wie vor eine Generalamnestie, auch für Abdullah Öcalan und die Führungskader.

 

Im Juni 2004 wurde ein Gesetz über die Entschädigung von Opfern terroristischer Gewalttaten und der Terrorbekämpfung verabschiedet. Art. 221 Abs. 2 n.F. tStGB (in Kraft seit 01.06.2005) fasst die Reuebestimmungen neu. Aufgrund der neu gefassten Reuebestimmungen wurden im Jahre 2005 67 Mitglieder der PKK frei gelassen, sowie in der Regel ihre Strafakten geschlossen.

 

Der Notstand ("OHAL") bzw. zuvor "Ausnahmezustand" galt im Südosten der Türkei ununterbrochen ab 1979. Er wurde bereits zum 30.11.2002 in den letzten beiden Provinzen Diyarbakir und Sirnak endgültig beendet.

 

Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. (so die vom BT-Petitionsausschuss übermittelte Falldarstellung nach freiwilliger Ausreise einer kurdischstämmigen Familie, die kurz vor der Abschiebung stand und wiederholt über mehrere Tage befragt wurde). Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, gemustert und ggf. einberufen zu werden (u.U. nach Durchführung eines Strafverfahrens). Es sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Suchvermerke zu früheren Straftaten oder über Wehrdienstentziehung von den zuständigen türkischen Behörden versehentlich nicht gelöscht worden waren, was bei den Betroffenen zur kurzzeitigen Ingewahrsamnahme bei Einreise führte. Das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahren Fälle, in denen konkret Behauptungen von Misshandlung oder Folter in die Türkei abgeschobener Personen (vor allem abgelehnter Asylbewerber) vorgetragen wurden, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durch seine Auslandsvertretungen überprüft. Dem Auswärtigen Amt ist seit vier Jahren kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. Im Jahr 2005 wurde ein Fall an das Auswärtige Amt zur Überprüfung mit der Behauptung heran getragen, dass ein abgelehnter Asylbewerber nach Rückkehr misshandelt worden sei. Ein Teil der lediglich mündlichen Angaben stellte sich in der Folge von Nachforschungen als falsch heraus. Die mündlichen Misshandlungsvorwürfe konnten nicht verifiziert werden, da keine ärztlichen Untersuchungsergebnisse vorlagen. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. Das Auswärtige Amt geht deshalb davon aus, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei nur aufgrund vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist. Misshandlung oder Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt aus.

 

Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind weiterhin durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt. Die Wirtschaftskrise der Jahre 2001/2002 hat die wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten noch verstärkt. Der Abwanderungsdruck aus dem Südosten in den Süden und Westen der Türkei und in das Ausland hält an. Angesichts der Beruhigung der Lage im Südosten, wegen der schwierigen Lebensbedingungen und hohen Arbeitslosigkeit in den Armutsgebieten der großen Städte nimmt in letzter Zeit die Zahl der Rückkehrer in die Provinzstädte und Dörfer im Osten und Südosten der Türkei jedoch wieder zu.

 

...

 

Der für das Jahr 2006 gültige Netto-Mindestlohn beträgt (umgerechnet) ca. 240 ¿. (Einige Beispiele für normale türkische Bruttogehälter, Stand 2005: Richter an einem oberen Gericht ca.

1.400 ¿, jüngerer Polizist 450 ¿, Universitätsprofessor ca. 1.290 ¿.) Aufgrund von Arbeitslosigkeit bzw. geringer Erwerbstätigenquote, Inflation bei gleichzeitigem Preisanstieg für Dollar-indexierte bzw. importierte Waren (bes. Energie, Importe) hat es für die ärmeren Schichten eine deutliche Verschlechterung des Lebensstandards gegeben, obwohl seit Anfang des Jahres 2002 in begrenztem Maße Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausgezahlt werden. Die Arbeitslosenquote liegt deutlich über den offiziell angegebenen 9,1 Prozent. Schätzungen gehen von landesweit neun Millionen Arbeitslosen aus, was einem Anteil von über 30 Prozent entspräche. In vielen Gegenden des Südostens liegt die Arbeitslosigkeit de facto bei 70%, ein Faktor, der zu dem hohen Migrationsdruck aus diesen Regionen entscheidend beiträgt. Aufgrund der immer noch hohen Zinsen sind Wohnungskredite für viele Menschen unerschwinglich.

 

Die Türkei kennt bisher keine staatliche Sozialhilfe nach EU-Standard. Der Förderungsfonds für Sozialhilfe und Solidarität ("Sosyal Yardimlasma ve Dayanismayi Tesvik Fonu"), der von einem mit Staatssekretären und hohen Beamten aus verschiedenen Ministerien besetzten Gremium geleitet wird, hilft auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 3294 vom 29.05.1986 für einige Monate bei sozialen Notlagen. Unter vorübergehenden Maßnahmen können dabei z.B. die Übernahme der Wohnmiete, Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung, mit Heizmaterial für den Winter oder mit medizinisch erforderlichen Geräten für Behinderte fallen. Gemäß Art. 2 des Gesetzes sind Leistungen an türkische Staatsangehörige möglich, die sich in Armut oder Not befinden, nicht sozialversichert sind und von keiner Einrichtung für Sozialsicherheit Gehalt oder Einnahmen beziehen. Da die Auszahlung und Gewährleistung der unterschiedlichen Hilfsangebote lokal vorgenommen werden, ist die Entscheidungsfindung oft an subjektiven Kriterien orientiert, personenabhängig und uneinheitlich. Um diese Situation zu verbessern, sieht die Regierung vor, im Rahmen der Reformierung der Sozialversicherungssysteme auch die Sozialhilfe zu vereinheitlichen. Die Regierung will hierbei ein Existenzminimum festlegen, das bei einem Drittel des täglichen Mindestlohns liegen soll. Die bisherige Gesetzesänderung, die zum Januar 2007 in Kraft treten wird, beinhaltet aber noch keine Einführung einer einheitlichen Sozialhilfe.

 

Vor Inanspruchnahme wird die Mittellosigkeit des Antragstellers innerhalb von ca. fünf Tagen geprüft - vergleichbar der Prüfung eines Antrags für eine "Yesil kart". Zur Überbrückung der schlimmsten Not kann eine Soforthilfe von zurzeit bis zu 60 ¿ gezahlt werden. Anlaufstelle zur Beantragung der sozialen Leistungen sind die Stadt- bzw. Gemeindeverwaltungen.

 

Die Regierung hat am 28.9.2006 die Europäische Sozialcharta ratifiziert und sich damit zu einer Anhebung der sozialen Standards im Land verpflichtet. Allerdings hat sie einen Vorbehalt zu verschiedenen Artikeln eingelegt (u.a. zu Art. 4 Abs. 1: Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt, das ausreicht, um ihnen und ihren Familienangehörigen einen angemessenen Lebensunterhalt zu sichern; Art. 5: Vereinigungsfreiheit; Art. 6: Recht auf Kollektivverhandlungen). Da der hohe Anteil informeller Beschäftigung und der aktuelle Mindestlohn von 380,46 YTL die Versorgung der Familie durch Erwerbseinkommen oft nicht gewährleistet und die soziale Unterstützung durch den Staat - wie oben erwähnt - nur unzureichend ist, bleibt die soziale Unterstützung Bedürftiger darüber hinaus im wesentlichen der Großfamilie und religiösen Stiftungen überlassen.

 

In der Türkei gibt es neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiert, mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standard entsprechen. Das türkische Gesundheitssystem verbessert sich laufend.

 

Die Zuständigkeit für die Krankenhäuser der Sozialversicherung (SSK) ist im Februar 2005 auf das Gesundheitsministerium übergegangen, dem somit ca. 1150 Krankenhäuser mit ca. 175.000 Betten unterstehen. Ab Januar 2007 werden auch die Universitätskliniken unter die Aufsicht des Gesundheitsministeriums gestellt. Die Behandlung in diesen Krankenhäusern ist für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten unentgeltlich. Für ärztliche Behandlungen ist je Erkrankungsfall eine Zuzahlung des Patienten vorgesehen. Die Kosten für manche Medikamente - diese sind in der Türkei meist erheblich preiswerter als in Deutschland - werden teilweise von den Versicherten getragen (20% bei Versicherten und deren Familienangehörigen, 10% bei Rentnern und deren Familienangehörigen). In der staatlichen Krankenversicherung sind Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen versichert. Die Behandlung in den staatlichen "Zentren für Mutter und Kind sowie Familienplanung" ist generell unentgeltlich. In der Türkei nehmen eine ständig steigende Zahl von privaten Krankenhäusern ihren Betrieb auf. Sowohl staatliche als auch private Krankenhäuser werben mit Erfolg im Ausland für Behandlungen in der Türkei. Die stationären Kosten liegen oft nur bei 25 % der Kosten in westlichen Industrieländern, sind aber in Relation zu den türkischen Einkommensverhältnissen höher als dort.

 

Gemessen an der Qualität besteht ein deutlicher Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Krankenhäusern. Während die Versorgung in den modernen privaten Einrichtungen westlichen Standards entspricht, gilt dies nicht immer für öffentliche Krankenhäuser. Vor allem auf dem Land sind erhebliche Defizite festzustellen. Geräte- und personelle Ausstattung reichen oft nicht aus, um nötige Behandlungen rechtzeitig durchzuführen. Auch ist die Versorgung mit Medikamenten in vielen ländlichen Gebieten nicht immer zufrieden stellend. Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" ("yesil kart") ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Die Voraussetzungen, unter denen mittellose Personen in der Türkei die Grüne Karte erhalten, ergeben sich aus dem Gesetz Nr. 3816 vom 18.06.1992 und aus dem Änderungsgesetz Nr. 5222 vom 14.7.2004. Eine Grüne Karte kann nur in der Türkei beantragt werden, da die Voraussetzungen, die die o.g. Gesetze zur Aushändigung der Karte vorgeben, nur in der Türkei überprüft werden können. Zum Erwerb der Grünen Karte muss der Antragsteller gegenüber dem Landratsamt an seinem Wohnsitz seine Mittellosigkeit (z.B. durch Bescheinigungen des Finanzamtes oder der Sozialversicherung, Grundbuchauszüge) nachweisen. Sein laufendes Einkommen darf ein Drittel des Mindestlohnes nicht überschreiten. Die

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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