TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/21 D5 260777-0/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.10.2008
beobachten
merken
Spruch

D5 260777-0/2008/11E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Christine AMANN als Vorsitzende und den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Beisitzer über die Beschwerde des D.T., geb. 00.00.1999, StA. der Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.5.2005, FZ. 04 13.206-BAG, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und D.T. gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 wird festgestellt, dass D.T. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Der minderjährige Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger und tschetschenischer Volksgruppenzugehöriger, reiste am 27.6.2004 zusammen mit seinem Vater (AIS Zl. 04 13.200), seiner Mutter (AIS Zl. 04 13.201) und seinen beiden Brüdern (AIS Zl. 04 13.203, 04 13.207) illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte seine Mutter als seine gesetzliche Vertreterin am selben Tag einen Asylantrag. Am 29.6.2004, 9.7.2004 und am 3.5.2005 fanden die niederschriftlichen Einvernahmen der gesetzlichen Vertreterin vor dem Bundesasylamt statt. Mit Bescheid vom 9.5.2005, Zahl: 04 13.206-BAG, wies das Bundesasylamt den Asylantrag des minderjährigen Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 ab (= Spruchteil I.) und erklärte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des minderjährigen Beschwerdeführers in die Russische Föderation für zulässig (= Spruchteil II.); weiters verfügte das Bundesasylamt darin, dass der minderjährige Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 "aus dem österreichischen Bundesgebiet" (ohne Angabe des Zielstaates) ausgewiesen werde (= Spruchteil III.). Gegen diesen Bescheid erhob der Vertreter des minderjährigen Beschwerdeführers im Familienverfahren am 23.5. 2005 fristgerecht eine Beschwerde.

 

Der Vater des minderjährigen Beschwerdeführers gab im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt, zu seinen Fluchtgründen befragt, im Wesentlichen Folgendes an:

 

Er habe in Tschetschenien seit Beginn des Krieges Probleme gehabt. Sein Bruder sei am 11.5.2001 erschossen worden. Darüber habe er bei der örtlichen Behörde eine Anzeige erstattet, es sei ihm dort aber gesagt worden, dass solche Dinge aufgrund des in Tschetschenien herrschenden Ausnahmezustandes nicht verfolgt würden. Acht Monate später sei er im Hause seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden: Falls er die Anzeige nicht zurückziehe, sei ihm gedroht worden, dass er etwas erleben werde. Sein Vater habe einen Herzanfall erlitten und sei an dessen Folgen verstorben. Nach der Beisetzung seines Vaters hätte er versucht, ständig seinen Wohnsitz zu verlegen, jedoch habe dies nichts genützt. Am 00.00.2003 seien Maskierte in das Haus eingedrungen und hätten ihn sowie seinen ältesten Sohn geschlagen. Sein zweiter Sohn habe alles mitbekommen und schlafe noch heute sehr schlecht. Seine Ehefrau sei zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen und habe als Folge dieses Überfalles eine Frühgeburt erlitten. Seit diesem00.00., als die Maskierten bei ihnen zu Hause eingedrungen seien, habe er beabsichtigt, mit seiner Familie Tschetschenien zu verlassen. Im April 2004 hätten er und seine Familie dann Tschetschenien verlassen.

 

Die Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers gab im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt, zu ihren Fluchtgründen befragt, im Wesentlichen Folgendes an:

 

Der Bruder ihres Mannes sei im Mai 2001 tot aufgefunden worden. Es sei gesagt worden, dass er angeschossen worden sei. Acht Monate später sei ihr Mann im Haus seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden. Ihr Schwiegervater habe einen Herzanfall erlitten und sei an den Folgen im Krankenhaus verstorben. Am 00.00.2003 seien Maskierte in das Haus eingedrungen und hätten ihren Mann sowie ihren ältesten Sohn geschlagen. Ihr zweiter Sohn habe dies alles mitbekommen. Sie sei zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen und habe sich sehr aufgeregt, worauf sie das Bewusstsein verloren habe. Deshalb habe sie eine Frühgeburt erlitten. Ihr jüngster Sohn sei mit sieben Monaten auf die Welt gekommen. Wenn sie heute über die Vorfälle spreche, bekomme sie Herzprobleme. Sie habe zuhause Angst.

 

Das Bundesasylamt stellte im o.a. Bescheid vom 9.5.2005 zunächst im Wesentlichen fest:

 

Der minderjährige Beschwerdeführer gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an. Er habe Tschetschenien wegen des Bürgerkrieges beziehungsweise wegen der mit diesem Bürgerkrieg in direktem Zusammenhang stehenden Folgen verlassen. Andere Gründe habe der minderjährige Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der minderjährige Beschwerdeführer sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe.

 

In der Folge traf das Bundesasylamt auf Seite 11 bis 19 des o.a. Bescheides Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation im Allgemeinen und zur Situation von Tschetschenen im Besonderen.

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt darin im Wesentlichen aus:

 

Die Angaben des minderjährigen Beschwerdeführers, seine Heimat wegen der allgemeinen Folgen des Bürgerkrieges verlassen zu haben, seien glaubhaft.

 

Im Verfahren nach dem Asylgesetz sei es unabdingbare Voraussetzung für die Bewertung des Vorbringens eines Beschwerdeführers zu den Fluchtgründen als glaubhaft, dass der Asylwerber nicht bloß eine "leere" Rahmengeschichte im Zuge der Einvernahme vorbringe, ohne diese durch das Vorbringen von Details, Interaktionen, glaubhafte Emotionen etc. zu substantiieren bzw. "mit Leben zu erfüllen". Da im Asylverfahren unzweifelhaft die niederschriftliche Aussage eines Asylwerbers vor den Asylbehörden die zentrale Erkenntnisquelle für die Entscheidung darstelle, reiche es keinesfalls aus, dass ein Asylwerber lediglich nicht zu widerlegende Behauptungen aufstelle, welche einer Verifizierung nicht zugänglich seien. Im konkreten Fall habe der minderjährige Beschwerdeführer jedoch diesen Voraussetzungen für die Qualifizierung eines Erlebnisberichtes nicht entsprochen. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen sei die von ihm vor der Asylbehörde präsentierte "Fluchtgeschichte" tatsächlich als zu "blass", wenig detailreich und zu oberflächlich und daher in Folge als keinesfalls glaubhaft zu qualifizieren gewesen.

 

Bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes führte das Bundesasylamt im o.a. Bescheid zu § 7 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil I.) insbesondere aus:

 

Essentielles Erfordernis für die Gewährung von Asyl sei die Glaubhaftmachung einer aktuell drohenden Verfolgung aus politischen, religiösen, rassischen, ethnischen oder sozialen Gründen, bzw. eine wohlbegründete Furcht vor einer solchen. Wie bereits ausgeführt worden sei, könne der minderjährige Beschwerdeführer eine derartige Gefahr nicht plausibel machen. Das Bundesasylamt gelange nach rechtlicher Würdigung zum Schluss, dass es nicht plausibel sei, dass dem minderjährigen Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat Russland Verfolgung iSd GFK drohe.

 

In Bezug auf die Entscheidung über den subsidiären Schutz gemäß § 8 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil II.) führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus:

 

Das Bestehen einer Gefährdungssituation iSd § 57 Abs. 2 FrG sei bereits unter Spruchpunkt I. geprüft und verneint worden. Eine drohende Gefahr iSd § 57 Abs. 1 FrG habe der minderjährige Beschwerdeführer nicht konkretisieren können. Das Vorbringen des minderjährigen Beschwerdeführers hinsichtlich individueller Gefährdung sei als nicht plausibel zu bezeichnen. Auch sonstige Hinweise auf das Vorliegen einer Gefahr iSd § 57 FrG können nicht festgestellt werden. Das Bundesasylamt gelange daher zum Schluss, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden können, dass der minderjährige Beschwerdeführer im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in Russland einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Es sei daher festzustellen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Russland zulässig sei.

 

In Bezug auf die verfügte Ausweisung gemäß § 8 Abs. 2 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil III.) führte das Bundesasylamt zusammengefasst aus, dass die in Österreich lebenden Familienangehörigen des minderjährigen Beschwerdeführers selbst Asylwerber ohne Berechtigung zum dauernden Aufenthalt seien und deren Asylanträge ebenfalls negativ entschieden worden seien. Es liege somit kein Familienbezug zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich vor. Der Aufenthalt der Angehörigen sei so wie der des minderjährigen Beschwerdeführers nur ein vorübergehender. Die Ausweisung stelle daher keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der gesetzliche Vertreter des minderjährigen Beschwerdeführers am 23.5.2005 fristgerecht eine Beschwerde, in welcher er Folgendes geltend machte:

 

Er bekämpfe den Bescheid in allen Spruchpunkten wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts. Das Bundesasylamt behaupte, dass sein Bericht zu "blass", "wenig detailreich" und zu "oberflächlich" sei. Was daran blass sein solle, erkläre die Behörde nicht, auch habe sie keinen Versuch unternommen, sie zwecks Vervollständigung ihrer angeblich oberflächlichen Angaben zu befragen. Das Bundesasylamt verstehe offenbar nicht, dass gerade traumatisierte Menschen, die Schreckliches mitgemacht hätten, oft nicht imstande seien, Einzelheiten zu erzählen. Es sei seitens des Bundesasylamtes den einzelnen Punkten seines Vorbringens, etwa die Ermordung des Bruders, den Überfällen der Maskierten, dem Herztod seines Vaters, dem schlechten psychischen Zustand seines Sohnes, der Frühgeburt seiner Ehefrau (all das infolge von Verfolgungshandlungen), nicht das Geringste entgegengesetzt worden, daher beschränke er sich darauf, zu bekräftigen, dass sein Vorbringen in allen diesen Punkten der Wahrheit entspreche. Alle diese schweren Eingriffe in seine Integrität seien wegen der Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe, somit aus zumindest einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe geschehen. Aus all dem ergebe sich, dass er sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftsstaates befinde.

 

Das Bundesasylamt übersehe weiters, dass der aus dem Refoulementverbot abzuleitende Schutz unabhängig vom Bestehen der Flüchtlingseigenschaft bestehe. Es hätten daher unabhängig von der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft die Voraussetzungen des Refoulementverbotes im konkreten Fall geprüft werden müssen. Diese Gefahrenprognose habe das Bundesasylamt jedoch unterlassen und somit den Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet.

 

Er stelle daher die Anträge,

 

eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens aufgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, wie dargestellt, anzuordnen;

 

eine mündliche Verhandlung durchzuführen;

 

ihm nach dem AsylG 1997 Asyl zu gewähren;

 

die über ihn verhängte Ausweisung aufzuheben, in eventu

 

gemäß § 8 Abs.1 AsylG 1997 festzustellen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Tschetschenien und nach Russland gemäß § 57 FrG nicht zulässig sei;

 

ihm gemäß § 15 AsylG 1997 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr zu erteilen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgendes ist als glaubwürdiges Vorbringen der gesetzlichen Vertreter des minderjährigen Beschwerdeführers zu qualifizieren und als maßgebender Sachverhalt festzustellen:

 

Der minderjährige Beschwerdeführer, russischer Staatsangehöriger moslemischen Glaubens und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, ist der Sohn des M. (AIS Zl. 04 13.200) und der Z. (AIS Zl. 04 13.201). Der Vater des minderjährigen Beschwerdeführers ist am 00.00.2007 verstorben und ist dessen Verfahren wegen des Todes vom Unabhängigen Bundesasylsenat eingestellt worden (GZ: 260.776/10E-X/47/05).

 

Hinsichtlich ihrer Fluchtgründe haben die gesetzlichen Vertreter des minderjährigen Beschwerdeführers im Wesentlichen glaubwürdig vorgebracht: Der Onkel des minderjährigen Beschwerdeführers ist im Mai 2001 erschossen worden. Acht Monate später ist der Vater des minderjährigen Beschwerdeführers im Haus von Maskierten überfallen und verprügelt worden. Der Großvater des minderjährigen Beschwerdeführers hat aufgrund des Übergriffes einen Herzanfall erlitten, an dessen Folgen er verstorben ist. Am 00.00.2003 sind wiederum Maskierte in das Haus eingedrungen und ist der Vater sowie der älteste Bruder des minderjährigen Beschwerdeführers geschlagen bzw. verletzt worden. Die Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers war zum Zeitpunkt des Übergriffes schwanger, hat währenddessen ihr Bewusstsein verloren und als Folge davon eine Frühgeburt erlitten. Aufgrund des Vorfalles vom 00.00.2003 hat seine ganze Familie Tschetschenien schließlich verlassen müssen.

 

Als maßgebender Sachverhalt ist weiters festzuhalten, dass der minderjährige Beschwerdeführer der Sohn der Z. (AIS Zl. 04 13.201) und der Bruder des T. (AIS Zl. 04 13.203) ist, denen mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom DD.10.2008, GZ. D5 260774-0/2008/10E und GZ. D5 260775-0/2008/12E, Asyl gewährt und bezüglich derer festgestellt wurde, dass ihnen damit die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

2. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich für den zuständigen Senat des Asylgerichtshofes rechtlich Folgendes:

 

2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I Nr. 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1.7.2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG und dem VwGG nichts anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 sind am 1.7.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom Asylgerichtshof (konkret: von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat) weiterzuführen.

 

Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren nach leg. cit. gegen einen abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes. Daher ist das Verfahren des minderjährigen Beschwerdeführers von dem zuständigen Senat des Asylgerichtshofes (D/5) weiterzuführen.

 

2.2. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 100/2005 sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen; § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG 1997 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge, die ab dem 1.5.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997, in der jeweils geltenden Fassung geführt.

 

2.3. Gemäß § 10 Abs. 5 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 hat die Behörde Asylanträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Dies ist entweder die Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz, wobei die Gewährung von Asyl vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Antragsteller erhält gemäß leg. cit. einen gesonderten Bescheid.

 

Entsprechend den erläuternden Bemerkungen zu § 10 Abs. 5 AsylG 1997 sollen alle Familienmitglieder einen eigenen Bescheid, aber mit gleichem Inhalt zugesprochen bekommen. Jener Schutzumfang, der das stärkste Recht gewährt, ist auf alle Familienmitglieder anzuwenden.

 

Da dem Bruder und der Mutter des minderjährigen Berufungswerbers durch die oben genannten Asylgewährungen gemäß § 7 AsylG 1997 jeweils das stärkste Recht gewährt wurde, hat der minderjährige Berufungswerber als deren Familienangehöriger gemäß § 10 Abs. 5 leg.cit. das Recht, einen gesonderten Bescheid mit demselben Inhalt zu erhalten.

 

2.4. Gemäß § 7 AsylG 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG 1997 zugrunde liegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/ 0011; VwGH 21.9.2000, Zl. 2000/20/0241; VwGH 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 19.4.2001, Zl. 99/20/0273; VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; VwGH 9.3.1999, Zl. 98/01/0318). Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.3.1999, Zl. 98/01/0352; VwGH 21.3.2002, Zl. 99/20/0401; VwGH 22.5.2003, Zl. 2001/20/0268, mit Verweisen auf Vorjudikatur).

 

2.5. UNHCR betont in seinen Richtlinien zur "Internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge", dass die Frage des Vorliegens einer inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative in einem Asylverfahren nicht losgelöst von allen anderen zu prüfen ist und dass das Konzept der inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative auch nicht dazu dienen kann, den Zugang zum Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft zu verweigern, weil sich diese Frage erst im Zusammenhang mit der inhaltlichen Prüfung eines Asylantrages stellt (HCR/GIP/03/04 v. 23.7.2003, S 2).

 

Die Prüfung, ob eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vorliegt, erfordert eine Zukunftsprognose dahingehend, ob für den jeweils konkreten Asylwerber im Entscheidungszeitpunkt eine solche

tatsächlich in Frage kommt (= Klärung der Relevanz) und

bejahendenfalls ob diese ihm zumutbar ist (= Klärung der Zumutbarkeit). Dabei ist zunächst zu klären, ob ein konkretes risikofreies Gebiet existiert, das sich durch Abwesenheit des Verfolgers auszeichnet und dessen Stabilität und Sicherheit von Dauer ist. Weiters ist zu klären, ob ein solches risikofreies Gebiet für den Asylwerber sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Herkunftsstaates in Sicherheit und auf legalem Weg erreichbar ist (= Möglichkeit einer sicheren Rückkehr) und ob das Leben dort für den Asylwerber ohne unangemessene Härten oder Gefahren geführt werden kann. Wenn eine solche inländische Flucht- bzw. Schutzalternative als vorhanden angesehen wird, hat ferner das Entscheidungsorgan nachzuweisen bzw. den Beweis zu erbringen, dass es dem betroffenen Asylwerber in Anbetracht sämtlicher persönlicher Umstände zumutbar wäre, dort Zuflucht zu finden, um nicht länger begründete Furcht vor Verfolgung zu haben (vgl. hierzu auch die o.a. diesbezüglichen UNHCR-Richtlinien v. 23.7.2003, HCR/GIP/03/04).

 

2.6. Im Fall des minderjährigen Beschwerdeführers ist davon auszugehen, dass ihm als Familienangehöriger seiner Mutter und seines älteren Bruders eine Verfolgung innerhalb der Russischen Föderation droht. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man, wenn man sich Folgendes vor Augen führt:

 

Es ist davon auszugehen, dass der Mutter und dem Bruder als tschetschenische Volksgruppenzugehörige von staatlicher (russischer) Seite die Gegnerschaft aus politischen Gründen zumindest unterstellt wird. Im Fall der Mutter und im Fall des Bruders liegt eine individuelle Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vor, zumal sie als (einzelne) Mitglieder der tschetschenischen Volksgruppe bereits individuell einer Verfolgungsmaßnahme am 00.00.2003 ausgesetzt waren. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse in Tschetschenien und der familiären Umstände kann nicht ausgeschlossen werden, dass diesen oder einem anderen Familienangehörigen derartiges wieder passieren würde. Laut den Länderfeststellungen des Bundesasylamtes im o.a. Bescheid auf Seite 18 ist bei abgeschobenen Personen, denen ein Engagement in der Tschetschenien-Frage unterstellt wird, davon auszugehen, dass diesen Personen von den russischen Behörden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Von dieser Feststellung des Bundesasylamtes ausgehend, sind dem zuständigen Senat des Asylgerichtshofes keine rechtlichen oder tatsächlichen Umstände bekannt (geworden), durch welche die russischen Behörden gehindert sind bzw. wären, im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation (auch außerhalb von Tschetschenien) jederzeit auf den Beschwerdeführer und auf sonstige Familienangehörige zuzugreifen.

 

Angesichts des Umstandes, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die russischen Sicherheitsbehörden dem Beschwerdeführer bzw. seiner Familie effizienten Schutz vor Verfolgung durch jene Privatpersonen gewähren könnten, die für die Ermordung des Onkels und/oder für die weiteren Übergriffe an seiner Familie verantwortlich zu machen sind, ist das Vorliegen einer internen Schutzalternative im außerhalb von Tschetschenien gelegenen Staatsgebiet der Russischen Föderation auszuschließen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien steht nach oben angeführten Maßstäben im gegenständlichen Fall fest, dass für den Beschwerdeführer bzw. seine Familie in Anbetracht der persönlichen Umstände eine inländische Schutzalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation - trotz der Größe des Staates - nicht vorliegt. Infolgedessen ist im Fall des minderjährigen Beschwerdeführers und seiner Familie - im Gegensatz zum Bundesasylamt - das Bestehen einer aktuellen Verfolgungsgefahr im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation zu bejahen.

 

Da sich im Verfahren überdies keine Hinweise auf Asylausschluss- oder Asylendigungsgründe ergeben haben, ist dem minderjährigen Beschwerdeführer gemäß § 7 iVm § 10 Abs. 5 AsylG idF 1997 BGBl. I. Nr. 101/2003 Asyl zu gewähren. Gemäß § 12 leg.cit. ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem betroffenen Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

2.7. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
aktuelle Gefahr, Familienverband, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, private Verfolgung, Schutzunfähigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten