TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/22 D9 311009-1/2008

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Veröffentlicht am 22.10.2008
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Spruch

D9 311009-1/2008/15E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Vorsitzenden und die Richterin Mag. Stark als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Mag. Olsböck über die Beschwerde des D. M., geb. 00.00. 1976, StA. Russische Föderation, vertreten durch Dr. Peter Zawodsky, Rechtsanwalt, Gumpendorferstraße 71, 1060 Wien, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. März 2007, FZ. 06 09.825-BAT, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51 in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998, zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang

 

Der (nunmehrige) Beschwerdeführer gelangte am 16. September 2006 gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinen drei minderjährigen Kindern aus der Slowakischen Republik kommend in das österreichische Bundesgebiet. Am 17. September 2006 wurde die Familie angehalten und der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen.

 

Als Grund seiner Reise nach Österreich gab er in der niederschriftlichen Einvernahme am 20. September 2006 an, dass er in seiner Heimat von unbekannten Leuten aufgesucht werde, die ihn nach Waffen seines Bruders und anderer Leute fragen würden. Sein Bruder habe in Tschetschenien gekämpft, sei aber mittlerweile verstorben. Er selbst sei im Winter 2006 angeschossen worden (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 71 bis 77).

 

Am 21. September 2006 wurde der Beschwerdeführer ärztlich untersucht, wobei eine krankheitswertige psychische Störung verneint wurde (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 109 bis 113).

 

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 15. Dezember 2006 wurde der Beschwerdeführer nochmals zu den Fluchtgründen befragt. Er gab an, in seiner Heimat den tschetschenischen Widerstand, vor allem seinen Bruder und dessen Freunde, unterstützt zu haben. Deshalb werde er verfolgt und sei im Januar 2006 am Ellbogen angeschossen worden.

 

Mit Schreiben der belangten Behörde, Poststempel am 18. Dezember 2006, wurde der Ehegattin des Beschwerdeführers (Zl. 311010), als gesetzlichen Vertreterin der minderjährigen Kinder, aufgetragen, Befunde über die Krankheit ihres gemeinsamen Sohnes (Zl.311012) vorzulegen, wobei eine Frist von vier Wochen eingeräumt wurde.

 

Der Beschwerdeführer selbst wurde fachärztlich untersucht, um zu klären, woher die Narben an seinem Ellbogen stammen könnten. Aus dem darauf von Dr. H. G. vom 27. Februar 2007 erstellten fachärztlichen unfallchirurgischen Gutachten ergibt sich, dass die Narben am ehesten durch das Aufschlagen auf rundliche Gegenstände zu erklären sind.

 

Mit Bescheid vom 6. März 2007, 06 09.825-BAT, wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers vom 17. September 2006 gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, ab und erklärte, dass der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt werde (Spruchpunkt I.). In Spruchpunkt II. wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG nicht zuerkannt und unter Spruchpunkt III. wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

Verfahrensgegenständlicher Bescheid wurde der rechtsfreundlichen Vertreterin, Frau Katharina Amman, Diakonie- Flüchtlingsdienst, am 19. März 2007 durch Übernahme zugestellt.

 

Mit Telefax vom 2. April 2007, eingelangt am selben Tag, erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch seine rechtsfreundliche Vertreterin, Berufung (nunmehr: Beschwerde).

 

Die rechtsfreundliche Vertreterin legte mit Schreiben vom 13. Juni.2007 einen Ärztlichen Befundbericht, datiert mit 9. Mai 2007, von Univ. Doz. Dr. S. M., Facharzt für Nuklearmedizin und Arzt für Allgemeinmedizin, vor, aus dem hervorgeht, dass die Narben am Ellbogen des Beschwerdeführers von einem Streifschuss stammen könnten.

 

Die rechtsfreundliche Vertreterin, Frau Katharina Amman, Diakonie Flüchtlingsdienst, teilte mit Schreiben vom 21. September 2007 mit, dass sie die ihr erteilte Vollmacht in vollem Umfang zurücklegt.

 

Mit 11. März 2008 bzw. 6. Juni 2008 legte der nunmehrige rechtsfreundliche Vertreter, Dr. Peter Zawodsky, RA in Wien, Bestätigungen des Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen vor, aus denen hervorgeht, dass der minderjährige Sohn des Beschwerdeführers (Zl. 311012) an einer Posttraumatischen Behandlungsstörung leidet.

 

Mit 1. Juli 2008 legte der rechtsfreundliche Vertreter einen Befund des Sozialpädiatrischen Ambulatoriums vor, aus dem sich ergibt, dass als Ursache der festgestellten Verhaltensauffälligkeiten beim minderjährigen Sohn des Beschwerdeführers (Zl. 311012) ein Trauma nicht ausgeschlossen werden kann.

 

Als Nachweis einer schweren Traumatisierung beim Beschwerdeführer selbst legt der rechtsfreundliche Vertreter mit Schreiben vom 6. Juni 2008 einen psychotherapeutischen Befundbericht von Frau Dr. W., datiert mit 19. April 2008, vor.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Rechtslage:

 

1.1. Der Asylgerichtshof hat gemäß Art. 151 Abs. 39 Z 4 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 (WV) in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2008, ab 1. Juli 2008 die beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängigen Verfahren weiterzuführen.

 

Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG, BGBl. I Nr. 4/2008 tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, in der Fassung BGBl. I. Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 22 Abs. 1 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, ergehen Entscheidungen des Bundesasylamtes über Anträge auf internationalen Schutz in Bescheidform. Entscheidungen des Asylgerichtshofes in der Sache selbst ergehen in Form eines Erkenntnisses, alle anderen in Form eines Beschlusses. Die Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes haben den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung auch in einer dem Asylwerber verständlichen Sprache zu enthalten.

 

Der Asylgerichtshof entscheidet gemäß Art. 129c Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2008, in Verbindung mit § 61 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008 in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 leg. cit. vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

2. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

Auf die Verfahren vor dem Asylgerichtshof sind gemäß § 23 AsylGHG, soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG 2005, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nichts anderes ergibt, die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz - AVG, BGBl. Nr. 51, hat die Berufungsbehörde außer in dem in Abs. 2 erwähnten Fall, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (§ 60) ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzten und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren, das gemäß § 61 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008 von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat zu entscheiden ist.

 

1.2. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, sind alle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Jänner 2006 in Kraft. Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde nach diesem Datum eingebracht, weshalb das AsylG 2005 zur Anwendung gelangt.

 

1. 3. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998, kann die Berufungsbehörde, so der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß § 66 Abs. 3 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

Zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis 21. 11. 2002, 2002/20/0315, welches nunmehr auch für den seit 1. Juli 2008 eingerichteten Asylgerichtshof von Relevanz ist, ausgeführt:

 

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. dazu unter dem besonderen Gesichtspunkt der Auslegung der Entscheidungsbefugnis der belangten Behörde im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 AsylG die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 23. 07. 1998, Zl. 98/20/0175, Slg. Nr. 14.945/A, die mehrfach vergleichend auf § 66 Abs. 2 AVG Bezug nehmen; zu diesem Erkenntnis siehe auch Wiederin, ZUV 2000/1, 20 f).

 

Der Verwaltungsgerichthof hat im Erkenntnis vom 27. 04. 1989, Zl. 86/09/0012, Slg. Nr. 12.917/A, aus einer in den Verwaltungsvorschriften angeordneten zwingenden und ohne Ausnahme bestehenden Verpflichtung zur Durchführung einer Berufungsverhandlung trotz Fehlens einer ausdrücklichen Ausnahme hinsichtlich der Geltung des § 66 Abs. 2 AVG die Unanwendbarkeit dieser Bestimmung in einem solchen Berufungsverfahren gefolgert. Das steht aber zu der hier - für das Verfahren vor der belangten Behörde - zu Grunde gelegten gegenteiligen Auffassung schon deshalb nicht im Widerspruch, weil eine derartige uneingeschränkte Verhandlungspflicht für den Unabhängigen Bundesasylsenat nicht besteht. (...) Die Berufungsbehörde darf eine kassatorische Entscheidung nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann treffen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unvermeidlich erscheint. Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom 14. 03. 2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG siehe auch die Nachweise im Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084)."

 

Nach der grundsätzlichen Bejahung der Frage der Anwendbarkeit des § 66 Abs. 2 AVG führte der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 21. 11. 2002, Zl. 2002/20/0315, zur Frage der Gesetzmäßigkeit der Ermessensübung im Sinne des § 66 Abs. 2 und 3 AVG Folgendes aus:

 

"Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet, wobei der belangten Behörde die Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" zukommt (Art. 129c Abs. 1 B-VG). In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln und es ist gemäß § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen des Gesetzgebers würden aber unterlaufen, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde. Es ist nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die Berufungsbehörde, statt ihre (umfassende) Kontrollbefugnis wahrnehmen zu können, jene Behörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und einer Beurteilung unterzieht..."

 

1.4 Als "Familienangehöriger" gilt gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, der Elternteil eines minderjährigen Kindes, der Ehegatte oder das zum Zeitpunkt der Antragstellung unverheiratete minderjährige Kind eines Asylwerbers. Gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, gilt der Antrag des Familienangehörigen (bei dem im Gesetz verwendeten Verweis auf § 2 Z 22 handelt es sich offenkundig um einen Redaktionsfehler- gemeint ist § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005) eines Asylwerbers auf internationalen Schutz als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes". Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, sind Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind "unter einem" zu führen, und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang (zur Anwendung durch den Asylgerichtshof vgl. § 34 Abs. 5 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008).

 

Der Beschwerdeführer und seine Ehegattin und deren minderjährige Kinder sind Familienangehörige im Sinne der zitierten Bestimmung.

 

2. In der Sache:

 

2. 1. Gemäß Art. 129c Z 1 B-VG, BGBl. I Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2008, erkennt der Asylgerichtshof - und nicht mehr der Unabhängige Bundesasylsenat als "oberste Berufungsbehörde" - nach Erschöpfung des Instanzenzuges über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen. Der Asylgerichtshof sieht keinen Grund dafür, dass sich die o. a. Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht auf die neue Rechtslage übertragen ließe. Es ist weiterhin in Asylsachen ein zweitinstanzliches Verfahren vorgesehen. In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz relevanten Sachverhalt zu ermitteln. Unterbliebe ein umfassendes Ermittlungsverfahren in erster Instanz, würde nahezu das gesamte Verfahren vor die Berufungsbehörde verlagert werden, sodass die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde. Es liegt nicht im Sinne des Gesetzes, dass der Asylgerichtshof erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermitteln und beurteilen muss und damit seine umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Eine ernsthafte Prüfung des Antrages soll nicht erst bei der letzten Instanz beginnen und zugleich enden (abgesehen von der mit BGBl. I Nr. 2/2008 geschaffenen Kontrolle des Verfassungsgerichtshofes gemäß Art. 144a B-VG).

 

2. 2. Der Verwaltungsgerichtshof hat zusammengefasst in verschiedenen Erkenntnissen betont, dass eine umfangreiche und detaillierte Erhebung des asylrechtlich relevanten Sachverhaltes durch die Behörde erster Instanz durchzuführen ist.

 

Im hier zu beurteilenden Fall weist der angefochtene Bescheid sowohl Mängel im Bereich der Sachverhaltsermittlungen und -feststellungen als auch hinsichtlich der von der erstinstanzlichen Behörde durchgeführten Beweiswürdigung auf. Weiters ist das Verfahren mit wesentlichen Mängeln behaftet.

 

Bereits in der Einvernahme vor der Erstaufnahmestelle wies die Ehegattin als gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Sohnes des Beschwerdeführers (Zl. 311012) auf dessen Erkrankung hin. In der darauffolgenden Einvernahme vor der Außenstelle erklärte sie neuerlich, dass der Minderjährige (Zl. 311012) psychisch krank sei und Beruhigungstabletten bekommen habe. Unbeschadet dessen unterließ es die belangte Behörde nähere Ermittlungen über dessen Gesundheitszustand zu erheben. Stattdessen wurde der gesetzlichen Vertreterin aufgetragen, Befunde über die Krankheit des gemeinsamen Sohnes vorzulegen. Dadurch verstößt die belangte Behörde gegen die ihr auferlegten Ermittlungspflichten, wonach sie nämlich unter Wahrung des Grundsatzes der Offizialmaxime von Amts wegen verpflichtet gewesen wäre, von sich aus den wahren Sachverhalt - im konkreten Fall etwa durch Einholung eines Gutachtens eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie - zu erheben.

 

Soweit die belangte Behörde in ihrer Länderfeststellung allgemein darauf hinweist, dass in einigen Krankenhäusern in der russischen Föderation die medizinische Grundversorgung mittlerweile wieder gewährleistet ist, (Bescheid der belangten Behörde, Seite 27), vermag dies eine Auseinandersetzung mit dem individuellen Gesundheitszustand des minderjährigen Sohnes des Beschwerdeführers durch entsprechende Ermittlungen, diesbezügliche Feststellungen sowohl zur Person und als auch in konkreten Bezug auf den Herkunftsstaat, nicht zu ersetzen. Die seitens der belangten Behörde im Rahmen der Prüfung des § 8 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, getroffene Schlussfolgerung, wonach für den minderjährigen Sohn des Beschwerdeführers keine relevante Gefährdung im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation drohen würde, widerspricht somit einerseits dem Akteninhalt und erscheint eine solche individuelle Gefahr auf Grund der fehlenden fachärztlichen Befunderhebung und Schlussfolgerung durchaus denkmöglich.

 

Der Asylgerichtshof übersieht in diesem Zusammenhang nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zu Art. 3 MRK. Dennoch wird sich die belangte Behörde bei Vorliegen einer Erkrankung mit der Frage auseinanderzusetzen haben, inwiefern der minderjährige Sohn des Beschwerdeführers (FZ. 0609.828) auf Grund der allfälligen Notwendigkeit einer ständigen Überwachung und regelmäßiger Behandlungen - auch mangels möglicher Finanzierbarkeit oder staatlicher Unterstützung - in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten könnte und dies eine Gefahr für Leib und Leben im Sinne des Art. 3 EMRK bedeuten würde.

 

Die Erstbehörde ist ihren in § 18 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, normierten Ermittlungspflichten nicht ausreichend nachgekommen. Gemäß dieser Bestimmung hätte die Erstbehörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amtswegen beizuschaffen.

 

Der direkt an die Ehegattin als gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Sohnes des Beschwerdeführers (Zl. 311012) gerichtete "Auftrag" innerhalb einer Frist von vier Wochen medizinische Befunde vorzulegen ist weiters mit einem Verfahrensmangel behaftet, da zu diesem Zeitpunkt ein aufrechtes Vollmachtsverhältnis zu einer gewillkürten Vertretung vorlag, an welche das Schreiben hätte zugestellt werden müssen.

 

Im vorliegenden Fall ist der angefochtene Bescheid bzw. das diesem zugrunde liegende Familienverfahren mit so schwerer Mangelhaftigkeit belastet, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die aufgezeigte Mangelhaftigkeit ist wesentlich, weil vorweg nicht ausgeschlossen werden kann, dass deren Vermeidung für den Beschwerdeführer zu einem günstigeren Ergebnis hätte führen können. Die belangte Behörde hat es somit unterlassen, brauchbare Ermittlungsergebnisse in das Verfahren einzuführen. Wesentliche Erhebungen, welche grundsätzlich von der Erstbehörde durchzuführen sind, wären demnach durch den Asylgerichtshof zu tätigen; unter Berücksichtigung der Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes und unter Effizienzgesichtspunkten verbietet sich eine Heranziehung des § 66 Abs. 3 AVG. Das Bundesasylamt wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit den o.

a. Fragen auseinanderzusetzen haben, dementsprechende Ermittlungen zu führen und diese Ergebnisse unter anderem mit dem Beschwerdeführer in einer Vernehmung zu erörtern haben.

 

In der Beschwerde zu Recht gerügt wird, dass dem Beschwerdeführer keine Gelegenheit eingeräumt wurde, zu dem seitens der belangten Behörde eingeholten Gutachten vom 27. Februar 2007, erstellt von Dr. H. G., Stellung zu nehmen. Sie hat daher das dem Beschwerdeführer zustehende Recht auf Parteiengehör gemäß § 45 Abs. 3 AVG, BGBl. Nr. 51/991, verletzt.

 

In der Beschwerde nicht bekämpft, jedoch auf Grund der Aktenlage offenkundig, hat die belangte Behörde weiters durch Unterlassen der Gewährung des Parteiengehörs zu sämtlichen ermittelten Beweisaufnahmen (in Bezug auf den Herkunftsstaat) gemäß § 45 Abs. 3 AVG, BGBl. Nr. 51/991, Verfahrensvorschriften verletzt. Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 18. 2. 1986, 85/07/0205; 3. 9. 2001, 99/10/0011) ein solcher Verfahrensmangel durch die mit der Berufung verbundene Möglichkeit einer Stellungnahme saniert werden und obliegt es im Falle der Aufnahme dieser Tatsachenfeststellungen in die Begründung des unterinstanzlichen Bescheides der Partei den Tatsachenfeststellungen durch Geltendmachung ihrer Parteienrechte (z.B. Akteneinsicht) konkret entgegenzutreten (VwGH 21. 11. 2001, 98/08/0029), jedoch wird die belangte Behörde aus Anlass des vermehrten Auftretens der Verletzung von verfahrensrechtlichen Vorschriften unbeschadet des Umstandes, wonach gegen negative erstinstanzliche Entscheidungen regelmäßig Beschwerde an den Asylgerichtshof erhoben wird, darauf hingewiesen, dass die vollständige durch das Bundesasylamt durchzuführende Tatsachenermittlung einerseits eine umfassende Befragung, Rechtsberatung und Information des Asylwerbers und andererseits auch dessen umfassende Mitwirkung am Verfahren erfordert (Ausführung seitens des Gesetzgebers im Zuge der Asylgesetznovelle 2003). Die Kompetenz des Bundesasylamtes als Tatsacheninstanz schließt somit auch die Verpflichtung zur Gewährung der Parteienrechte im Sinne des AVG und der entsprechenden Materiengesetze (Asylgesetz 1997, AsylG 2005) mit ein, wobei in diesem Zusammenhang auf die Stellung des Asylgerichtshofes als verwaltungsgerichtliche Beschwerdeinstanz in Asylsachen hingewiesen wird.

 

Der Beschwerdeführer ist der Ehegatte der Beschwerdeführerin zu D9 311010 und Vater der minderjährigen Beschwerdeführer zu D9 311011, D9 311012 und D9 311014 im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005.

 

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 sind Verfahren über Anträge von Familienangehörigen unter einem zu führen.

 

Es war daher zusammenfassend spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Familienverfahren, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
19.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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