TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/27 S8 400696-1/2008

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Veröffentlicht am 27.10.2008
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Spruch

S8 400.696-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. BÜCHELE als Einzelrichter über die Beschwerde des M. auch H. auch N. auch Z.A. auch N., geb. 00.00.1992, StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch Mag. RÜDISSER, Rechtsberater in 2514 Traiskirchen, Otto Glöckel-Straße 24, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.07.2008, FZ. 08 01.954 EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, ist nach eigenen Angaben am 25.02.2008 illegal über Italien kommend in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (in der Folge: Asylantrag) gestellt.

 

Er wurde hierzu durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen niederschriftlich erstbefragt. Dabei gab er im Wesentlichen an, er habe vor circa zwei Monaten mit einem Schlepper Afghanistan verlassen. Er sei mit einem PKW nach Pakistan gebracht worden, dort habe er sich einen Tag aufgehalten. Danach sei er in Beleitung einer Schlepperin auf dem Luftweg in ein ihm unbekanntes Land gebracht worden. Nach der Ankunft sei er in eine Wohnung gebracht worden. Nach drei Tagen sei er von einem englisch sprechenden Mann abgeholt worden. Er sei mit ihm mit einem PKW circa sechs Stunden gefahren, danach seien sie zu Fuß weitergegangen. Nach einiger Zeit Fußmarsch hätten sie wieder einen PKW bestiegen und seien circa sieben Stunden zu einer Wohnung gefahren, wo er gemeinsam mit dem Schlepper circa 20 Tage gewohnt habe. Nach diesem Aufenthalt sei er von dem Schlepper auf der Ladefläche eines LKW versteckt worden. Der LKW sei auf ein großes Schiff gefahren. Der Schlepper sei an Land geblieben. Der LKW-Fahrer habe von seiner Anwesenheit nichts gewusst. Die Schiffreise habe circa 20 Stunden gedauert. Als der LKW vom Schiff gefahren sei, habe es eine Polizeikontrolle gegebenen; die Ladefläche sei durchsucht und er sei gefunden worden. Er sei zur Polizei gebracht worden und sei dann eine Woche inhaftiert gewesen. Dort habe er erfahren, dass er in Italien sei. Ihm seien die Fingerabdrücke abgenommen worden. Er sei wieder freigelassen worden und sei dann mit dem Zug nach Rom gefahren; dort habe er circa zwei Wochen auf der Straße gelebt. Er sei nur von der Kirche unterstützt worden. Er habe deshalb nicht in Italien bleiben wollen. Ein afghanischer Landsmann habe ihm bei der Organisation seiner Weiterreise nach Österreich geholfen. Er sei mit dem Reisezug von Rom nach Österreich gefahren.

 

Eine Eurodac-Abfrage ergab, dass der minderjährige Beschwerdeführer am 19.11.2007 in Italien einen Asylantrag gestellt hatte.

 

2. Am 27.02.2008 wurde ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) an Italien gestellt, welches am selben Tag über DubliNET übermittelt wurde. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit Italien erhielt der Beschwerdeführer am 28.02.2008. Mit Schreiben des Bundesasylamtes vom 14.03.2008 wurde der zuständigen italienischen Behörde mitgeteilt, dass die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrages aufgrund des Zeitablaufes zur Beantwortung des Wiederaufnahmeersuchens gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. c der Dublin-Verordnung auf Italien übergegangen sei.

 

Mit Schreiben vom 02.04.2008 erklärte sich Italien (nachträglich) für die Prüfung des Asylantrages des minderjährigen Beschwerdeführers für zuständig.

 

3. Am 26.03.2008 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, im Beisein des Rechtsberaters als gesetzlicher Vertreter und eines geeigneten Dolmetschers für Farsi statt. Der minderjährige Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, er wolle mit einem Arzt sprechen; er habe Albträume. Er werde oft nervös und wütend.

 

Zur geplanten Ausweisung gab er an, er wolle nicht nach Italien zurück. Er habe Probleme gehabt. In Italien sei er gemeinsam mit italienischen Straftätern in einem Lager eingesperrt gewesen. Es habe immer wieder Streitereien gegeben. Dies sei in einem Lager in B. gewesen. Die Zimmer seien aber von den Straftätern getrennt gewesen. Sie hätten zu zweit in den Zimmern geschlafen. Es habe eine Betreuung gegeben. Bei seiner Ankunft in Italien sei er eine Nacht von der Polizei angehalten und am nächsten Tag ins Lager gebracht worden. Im Lager seien sie beschimpft worden. Sie hätten ihnen keine Rechte gegebene. Es sei auch drei- oder viermal zu Handgreiflichkeiten gekommen. Es sei aber niemals jemand verletzt worden. Einmal seien die Streitereien so heftig gewesen, dass er zu einem Betreuer gegangen sei. Es habe dann ein Gespräch mit einem Dolmetscher, dem Italiener, ihm selbst und dem Betreuer stattgefunden. Er habe den Ausgang seines Verfahrens nicht abgewartet, weil er nicht in Italien bleiben wollte. Man habe ihnen keine neue Kleidung gebracht; alles sei nur aus zweiter Hand gewesen. Er sei zwei oder zweieinhalb Monate in diesem Lager aufhältig gewesen.

 

4. Am 25.04.2008 fand eine Untersuchung in der EASt Ost durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, statt. Diese stellte in ihrer gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren fest, dass einer Überstellung nach Italien keine schweren psychischen Störungen entgegenstünden, die bei einer Überstellung aus ärztlicher Sicht eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würden. Der Asylwerber sei im Affekt flach, eine emotionale Beteilung finde sich lediglich beim Thema "Überstellung nach Italien"; dann sei der Asylwerber traurig und verzweifelt. Es bestehen keine Suizidgedanken. Die emotionale Beteiligung beim Thema Überstellung sei adäquat und nachvollziehbar.

 

5. Mit Schreiben vom 29.04.2008 richtete die zuständige Referentin eine Anfrage an die Staatendokumentation, um insbesondere abzuklären, ob in Italien tatsächliche minderjährige Asylwerber mit italienischen Straftätern in einem Lager untergebracht werden.

 

Mit Schreiben vom 21.05.2008 wurde eine Anfragebeantwortung übermittelt, aus welcher hervorgeht, dass aus den der Staatendokumentation zur Verfügung stehenden Quellen keinerlei Hinweise dafür gefunden werden könnten, dass in Italien jugendliche Asylwerber gemeinsam mit jugendlichen Straftätern untergebracht würden. Dem Schreiben wurde eine Anfragebeantwortung der Österreichischen Botschaft in Rom vom 05.05.2008 beigelegt, aus welchem sich Folgendes ergibt

 

"...diese Frage kann ich Ihnen sofort beantworten und mitteilen, dass dies nicht stimmt, denn straffällige Minderjährige werden keinesfalls in diesen Lagern untergebracht. Diese Lager sind ausnahmslos für Asylwerber bzw. Fremde eingerichtet. Strafhaft und Schubhaft bzw. Aufenthalt in diesen Erstaufnahmelagern sind zwei verschiedene Paar Schuhe und striktest getrennt. Auch aus Sicherheitsgründen ist eine Haftanstalt weitab von einem Flüchtlingslager untergebracht."

 

6. Am 30.05.2008 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesasylamt zur Wahrung des Parteiengehörs im Beisein des Rechtsberaters als gesetzlicher Vertreter und in Anwesenheit eines geeigneten Dolmetschers für Farsi statt.

 

Zu der dem minderjährigen Beschwerdeführer zu Kenntnis gebrachten gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren brachte dieser vor, er habe Schlafstörung und sei dies psychisch und nervlich bedingt.

 

Zu der ihm vorgelegten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation führte er aus, das stimme nicht. Sie seien da gewesen; er sei mit Italiener untergebracht worden. Das Lager habe sich im Ort T. befunden und liege nahe der Stadt B.. Das Haus habe drei Stockwerke gehabt. Zweieinhalb Stockwerke hätten zu dem Lager gehört. In jedem Zimmer seien sie zu Zweit untergebracht gewesen. Er habe in einem Zimmer mit einem Afghanen namens A. gemeinsam gelebt. Am Tag seien Betreuer anwesend gewesen. In der Nacht sei überall zugesperrt worden. Die Polizei sei einmal in der Woche gekommen und habe die Zimmer kontrolliert. Er habe das Haus verlassen dürfen, die Italiener nicht. Er wisse, dass es sich um Italiener gehandelt habe, weil sie es gesagt hätten. Wenn die Italiener in das Lager gebracht worden seien, hätten sie Handschellen angelegt gehabt. Die Betreuer hätten kontrolliert, dass die jugendlichen Italiener nicht das Haus bzw. Gelände verlassen. A. habe Englisch gesprochen und konnte sich daher mit den Italienern unterhalten. Außerdem sei ein Afghane, der schon länger in Italien gewesen sei, zu Besuch gekommen und konnte sich auf Italienisch unterhalten.

 

7. Im Rahmen einer am 23.06.2008 stattgefundenen weiteren niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamtes im Beisein eines Rechtsberaters als gesetzlicher Vertreter und in Anwesenheit eines geeigneten Dolmetschers für Farsi brachte der minderjährige Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er sei circa zweieinhalb Monat in diesem Lager untergebracht gewesen. Er sei auch benachteiligt gewesen. Er sei geschlagen worden. Die Zuständigen des Lagers hätten die italienischen Jugendlichen aufgefordert zu arbeiten (beispielsweise die Halle zu putzen, oder Müll wegschmeißen); wenn sie dies ablehnt hätten, hätten die Afghanen die Arbeit erledigen müssen. In jedem Zimmer hätten zwei Jugendliche geschlafen, nur er habe mit zwei anderen Jugendlichen in einem Zimmer geschlafen. Das sei recht viel gewesen, weil das Zimmer sehr klein gewesen sei. Er habe sich an die Betreuer wenden können, doch diese hätten ihm nicht geholfen. Sie hätten ihnen nur gesagt, dass sie keine Probleme machen sollen. Die Betreuer hätten sie "nach oben" geführt und es habe ein Gespräch stattgefunden; es sei allerdings oft kein Dolmetscher anwesend gewesen, sondern hat ein Afghane per Telefon für sie gedolmetscht. Die italienischen Straftäter hätten sie gezwungen Zigaretten zu rauchen und hätten mit ihnen Schlägereien begonnen. Er sei einmal geschlagen worden und habe sich an einen Betreuer gewandt. Es habe ein Gespräch ohne Dolmetsch stattgefunden, weil ein solcher zu teuer gewesen sei. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass dies mit seinen Angaben in der letzten Einvernahme in Widerspruch stehe, weil er angegeben habe, dass sehr wohl ein Dolmetsch bei diesem Gespräch anwesend gewesen sei, gab der Beschwerdeführer an, am Anfang sei kein Dolmetscher anwesend gewesen; erst als sie das Gespräch verweigert hätten, hätten sie einen Dolmetscher geholt.

 

Der Rechtsberater als gesetzlicher Vertreter beantrage die Zulassung des unbegleiteten Minderjährigen zum Asylverfahren und somit den Selbsteintritt Österreichs.

 

8. Mit dem beim Asylgerichtshof angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.07.2008, FZ. 08 01.954 EAST-Ost, wurde der Asylantrag ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und unter einem festgestellt, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Italien zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der minderjährige Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Italien ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Italien gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei.

 

Das Bundesasylamt traf länderkundliche Feststellungen zu Italien, insbesondere zum italienischen Asylwesen, zur Versorgung von Asylwerbern und zur Versorgung und Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass aus den Angaben des Beschwerdeführers keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden seien, dass er konkret Gefahr liefe, in Italien verfolgt zu werden. Es drohe ihm keine Verletzung der durch Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte.

 

9. Gegen den genannten Bescheid richtet sich die fristgerecht am 16.07.2008 eingelangte Beschwerde, in welcher im Wesentlichen behauptet wurde, dass Italien erklärt habe den minderjährigen Beschwerdeführer gemäß Art. 10 der Dublin-Verordnung zu übernehmen. Auf unbegleitete Minderjährige sei Art. 10 der Dublin-Verordnung allerdings nicht anwendbar und sei daher der Bescheid mangelhaft. Eine Unterbringung minderjähriger Asylwerber mit straffällig gewordenen Italienern widerspreche jedenfalls der EU-Aufnahmerichtlinie.

 

10. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 01.08.2008, GZ. S8 400.696-1/2008/2Z, wurde der Beschwerde des minderjährigen Beschwerdeführers gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus den Ausführungen zu Punkt I. sowie aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden.

 

Im gegenständlichen Fall wurde der Asylantrag am 25.02.2008 gestellt, weshalb § 5 AsylG 2005 idF BGBI. I Nr. 100/2005 zur Anwendung gelangt.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.2.2003 zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. Aufgrund der im Mai 2007 erfolgten Asylantragstellung bezieht sich im Gegenstand § 5 AsylG 2005 auf die Dublin-Verordnung, da gemäß Art. 29 leg. cit. diese Verordnung auf Asylanträge anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten - dies ist der 01.09.2003 - gestellt werden.

 

Die Dublin-Verordnung ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der ersten Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Es ist daher zunächst zu überprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin-Verordnung) Kriterien der Art. 6 bis 12 bzw. 14 und Art. 15 Dublin-Verordnung zuständig ist oder die Zuständigkeit bei ihm selbst nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin-Verordnung (erste Asylantragstellung) liegt.

 

Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit von Italien gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung besteht. Die Zuständigkeit wurde von Italien mit Schreiben vom 02.04.2008 ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl. auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, Zl. 2005/20/0444).

 

Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin-Verordnung erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich richtigerweise an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in bezog auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0449).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin-Verordnung). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin-Verordnung).

 

Weiters hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin-Verordnung, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den zweiter Erwägungsgrund der Präambel der Dublin-Verordnung), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen. Diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin-Verordnung umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO², K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2. Strittig ist, ob Österreich verpflichtet wäre, von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen. Diesbezüglich erweist sich das Verfahren aus nachstehenden Gründen mangelhaft:

 

2.1. Im vorliegenden Fall sind die länderkundlichen Feststellungen, insbesondere zur Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger, widersprüchlich und nicht schlüssig nachvollziehbar. Aus einer Anfragebeantwortung vom 05.05.2008 geht zwar hervor, dass unbegleitete Minderjährige nicht mit straffällig gewordenen Italiener gemeinsam untergebracht werden, doch wird dies durch eine weitere Anfragebeantwortung vom 13.06.2008 des UNHCR Österreichs widerlegt, woraus klar ersichtlich ist und damit das Vorbringen des minderjährigen Beschwerdeführers belegt wird, dass unbegleitete Minder auch mit minderjährigen Italienern bzw. Fremden, die aus welchen Gründen immer unter öffentliche Betreuung stehen, untergebracht werden. Auf diesen Widerspruch ist die Erstbehörde allerdings in ihrer Beweiswürdigung gar nicht eingegangen, sondern hat lediglich die für ihre Entscheidung passenden Passagen der länderkundlichen Feststellungen herangezogen. Darauf hinzuweisen ist des Weiteren, dass auch auf den durch den Rechtsberater vorgelegten Jahresbericht 2007 von Amnesty International, aus welchem ebenfalls hervorgeht, dass die Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger teilweise den aus der EU-Aufnahmerichtlinien ableitbaren Standards widerspreche, nicht beweiswürdigend behandelt wurde.

 

2.2. Die notwendige Einzelfallprüfung macht es daher im gegenständlichen Fall erforderlich, das Vorbringen des minderjährigen Beschwerdeführers zur Situation in Italien schlüssig und nachvollziehbar auf die Glaubwürdigkeit zu prüfen. Dabei werden neuerlich Ermittlungen zur Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger zu erfolgen haben, aus welchen schlüssige und widerspruchsfreie Feststellungen ableitbar sind. Weiters sind die Ermittlungsergebnisse mit dem Beschwerdeführer zu erörtern.

 

3. Der Sachverhalt, welcher dem Asylgerichtshof nunmehr vorliegt, ist daher "so mangelhaft", dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unerlässlich ist. Der Gesetzgeber hat für das Verfahren über Berufungen gegen zurückweisende Bescheide sehr kurze Fristen (§ 41 Abs. 2, § 37 Abs. 3 AsylG 2005) vorgesehen, andererseits aber die Berufungsbehörde dazu verpflichtet, bei einem "mangelhaften Sachverhalt" der Berufung stattzugeben, ohne § 66 Abs. 2 AVG anzuwenden (§ 41 Abs. 3 AsylG 2005). Das Ermessen, das § 66 Abs. 3 AVG der Berufungsbehörde einräumt, allenfalls selbst zu verhandeln und zu entscheiden, besteht somit in einem solchen Verfahren nicht. Aus den Materialien (Erläut. zur RV, 952 BlgNR 22. GP, 66) geht hervor, dass "im Falle von Erhebungsmängel die Entscheidung zu beheben, das Verfahren zuzulassen und an das Bundesasylamt zur Durchführung eines materiellen Verfahrens zurückzuweisen" ist. Diese Zulassung stehe einer späteren Zurückweisung nicht entgegen. Daraus und aus den erwähnten kurzen Entscheidungsfristen ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Berufungsbehörde im Verfahren über Berufungen gegen zurückweisende Bescheide von einer Ermittlungstätigkeit möglichst entlasten wollte. Die Formulierung des § 41 Abs. 3 AsylG 2005 ("wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint"), schließt somit nicht aus, dass eine Stattgabe ganz allgemein in Frage kommt, wenn der Berufungsbehörde - auf Grund erforderlicher zusätzlicher Erhebungen - eine unverzügliche Erledigung der Berufung unmöglich ist.

 

4. Von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 abgesehen werden.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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