S6 402.204-1/2008/2E
S6 402.205-1/2008/3E
S6 402.206-1/2008/2E
S6 402.207-1/2008/2E
ERKENNTNIS
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. SINGER als Einzelrichterin über die Beschwerden
des S.M., geboren am 00.00.1971, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.10.2008, Zahl: 08 01.920-EAST-Ost,
der D.A., geboren am 00.00.1976, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.10.2008, Zahl: 08 01.921-EAST-Ost,
der mj. S.R., geboren am 00.00.2008, vertreten durch die Kindesmutter D.A., gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.10.2008, Zahl: 08 07.094-EAST-Ost,
der mj. S.N., geboren am 00.00.2003, vertreten durch die Kindesmutter D.A., gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.10.2008, Zahl: 08 01.922-EAST-Ost,
alle StA. Russische Föderation, alle vertreten durch RA Mag. Nadja LORENZ, Kirchengasse 19/9, 1070 Wien, zu Recht erkannt:
Den Beschwerden wird gemäß § 41 Absatz 3 AsylG 2005 idgF stattgegeben und werden die bekämpften Bescheide behoben.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt.
Der Erstbeschwerdeführer S.M. und seine Gattin, die Zweitbeschwerdeführerin D.A., sind die Eltern der Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen S.R. und S.N., sowie des mj. S.A., der im April 2008 verstarb. Der Erst- die Zweit- und die Viertbeschwerdeführerin sowie der nunmehr verstorbene Sohn, reisten gemeinsam am 24.02.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie bzw. die Mutter als gesetzliche Vertreterin, am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz stellten. Für die am 00.00.2008 in Österreich nachgeborene Drittbeschwerdeführerin, wurde durch die gesetzliche Vertreterin am 11.08.2008 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahmen gab der Erstbeschwerdeführer an, er wolle nicht nach Frankreich, da ihn mit Frankreich nichts verbinden würde und er noch nie in Frankreich gewesen sei.
Ebenso behauptete die Zweitbeschwerdeführerin für sich und ihre mj. Kinder, nie in Frankreich gewesen zu sein und hätten sie auch nie ein Visum für Frankreich besessen.
Aufgrund der Zustimmungserklärung sowie der Informationsmitteilung der französischen Asylbehörde stellte sich heraus, dass die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin sowie der verstorbene Sohn, in Besitz eines Schengen Visums, gültig von 14.02.2008 bis 15.03.2008 waren.
Laut gutachterlicher Stellungnahme von Dr. P.D., vom 05.05.2008, liegt beim Erstbeschwerdeführer eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vor, jedoch stehen der Überstellung keine schweren psychischen Störungen entgegen, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus ärztlicher Sicht bewirken würden.
Zu demselben Ergebnis kam auch Dr. J.B. in ihrer gutachterlichen Stellungnahme den Erstbeschwerdeführer betreffend, am 23.09.2008.
Dem Gutachten vom 05.05.2008 von Dr. P.D. zufolge, liegt bei der Zweitbeschwerdeführerin eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vor und hindert die Störung die Asylwerberin, ihre Interessen im Verfahren wahrzunehmen. Auch bedeutet diese Störung die Gefahr eines Dauerschadens oder von Spätfolgen. Im Falle einer Überstellung besteht die reale Gefahr, dass sie aufgrund dieser psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät oder sich die Krankheit in lebensbedrohlichem Ausmaß verschlechtert.
Das Gutachten vom 31.08.2008 von Dr. W.S., die Zweitbeschwerdeführerin betreffend ergab, dass bei der Genannten eine aktuelle belastungsabhängige und krankheitswertige psychische Störung in Form einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion nach dem Tod ihres Kindes in Österreich besteht. Die Gefahr einer Verschlechterung, Chronifizierung ist nicht zu erwarten. Vor einer etwaigen Überstellung ist jedoch eine Nachuntersuchung zur Bewertung der aktuellen Situation angeraten.
Die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wurden seitens der Erstinstanz mit den Bescheiden vom 01.10.2008, Zahl: 08 01.920-EAST-Ost betreffend S.M., Zahl: 08 01.921-EAST-Ost betreffend D.A., Zahl: 08 07.094-EAST-Ost betreffend die mj. S.R. sowie Zahl:
08 01.922-EAST-Ost betreffend die mj. S.N., gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurückgewiesen und wurde Frankreich im Falle der Zweitbeschwerdeführerin und ihrer mj. Kinder gemäß Art. 9 Abs. 2 und im Falle des Erstbeschwerdeführers gemäß Art. 14 a iVm Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) für zuständig erklärt. Gleichzeitig wurden die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Frankreich ausgewiesen und ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in letztgenannten Mitgliedstaat gemäß § 10 Abs. 4 AsylG für zulässig erklärt.
Gegen die angefochtenen Bescheide zur Zahl: 08 01.920-EAST-Ost betreffend S.M., Zahl: 08 01.921-EAST-Ost betreffend D.A., Zahl: 08 07.094-EAST-Ost betreffend die mj. S.R. sowie Zahl: 08 01.922-EAST-Ost betreffend die mj. S. wurde fristgerecht Beschwerde eingebracht.
In der Beschwerde wird zunächst kritisiert, dass das Bundesasylamt feststellte, dass die Identität der Beschwerdeführer nicht fest stehe zugleich aber festgestellt hätte, dass ein Schengenvisum mit ihrer Identität erteilt worden wäre. Diese Feststellungen stünden miteinander im Widerspruch. Des Weiteren gäbe es - laut Beantwortung der Anfrage des Bundesasylamtes vom 19.09.2008 - keine Hinweise, wonach die Zweitbeschwerdeführerin in Frankreich aufhältig gewesen sei. Sie sei nie in Frankreich gewesen und habe sie auch nie einen Visumsantrag bei der französischen Botschaft in A. gestellt. Dem Antrag seitens der rechtlichen Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin, die Visumsanträge beizuschaffen und einer Überprüfung zu unterziehen, sei die Erstinstanz nicht nachgekommen und habe sie daher ihre Ermittlungsverpflichtung verletzt, was das Verfahren mangelhaft mache.
Auch sei es unrichtig davon auszugehen, dass für die Mehrheit der Familienmitglieder eine Zuständigkeit Frankreichs bestehe, da der mj. Sohn S.A. am 15.04.2008 in Österreich verstorben sei und die am 00.00.2008 in Österreich geborene Drittbeschwerdeführerin nicht automatisch in den Zuständigkeitsbereich Frankreichs fällt. Im vorliegenden Fall liege eine außergewöhnliche Situation vor, die den Selbsteintritt Österreichs aus humanitären Gründen gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO indiziere.
Die belangte Behörde habe es verabsäumt, die gutachterlichen Stellungnahmen betreffend den Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin nachvollziehbar einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Aufgrund der Tatsache, dass zum Tod des mj. S.A. ein Strafverfahren eingeleitet wurde und die Beschwerdeführer Opfer im Sinne des § 65 Z 1 lit. b STPO seien, würde ihre Ausweisung während des laufenden Strafverfahrens einen Verstoß gegen ihre Opferrechte darstellen. In Österreich hätten die Beschwerdeführer zudem Familienangehörige, die als unverzichtbare Stütze im Sinne des Art. 8 EMRK zu qualifizieren seien.
II. Der Asylgerichtshof hat durch die zuständige Richterin über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:
Der Verfahrensgang und der Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.
Rechtlich ergibt sich Folgendes:
Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.
Am 01. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren sind vom Asylgerichtshof nach Maßgabe des § 75 AsylG 2005 idF. BGBl. I Nr. 4/2008 weiterzuführen.
Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
§ 41 Abs. 3 AsylG besagt, dass in einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden ist. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.
Das Strafverfahren wegen des Todes des mj. S.A. wurde nach ursprünglicher Einstellung gem. § 193 StPO fortgesetzt. Für den 02.09.2008 wurde ein Sachverständiger bestellt, jedoch kann laut telefonischer Auskunft der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 30.10.2008, über den Ausgang des Verfahrens, das nach allen Richtungen offen ist, nichts Näheres gesagt werden. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Abwägungen seitens der belangten Behörde in ihrem Bescheid (Seite 18 des erstinstanzlichen Bescheides), greifen zu kurz. Die Erstinstanz hätte sich jedenfalls fundiert mit den Opferrechten der Beschwerdeführer sowie mit Art. 6 EMRK auseinandersetzen müssen.
Weiters macht der Asylgerichtshof darauf aufmerksam, dass im Zweitgutachten des Dr. W.S. vom 31.08.2008 betreffend die Zweitbeschwerdeführerin, Dr. W.S. eine Nachuntersuchung zur Bewertung der aktuellen Situation vor einer etwaigen Überstellung angeraten hat, eine solche allerdings nicht stattgefunden hat und auf diesen Umstand im erstinstanzlichen Bescheid vom 01.10.2008 in keinster Weise eingegangen wird. Es wäre gerade in diesem Fall wesentlich gewesen, die aktuelle Situation zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung abzuklären und darzustellen, wie sich der Zustand der Zweitbeschwerdeführerin im September entwickelt hat. Vor allem vor dem Hintergrund ihres labilen, depressiven Zustandes aufgrund der hier so exzeptionellen Umstände und der Verneinung der Überstellungsfähigkeit durch den Erstgutachter Dr. P.D., wäre eine weitere Untersuchung unbedingt erforderlich gewesen.
Da die Erstbehörde ein in mehrerer Hinsicht mangelhaftes Verfahren durchgeführt hat, war gemäß § 41 Abs. 3 AsylG vorzugehen. Hinzuweisen ist auch, dass gem. Art. 19 Abs. 3 Dublin II VO, mit 06. November 2008 die 6 Monats-Frist ab der Annahme des Antrages auf Aufnahme abläuft und sich ab diesem Zeitpunkt die Zuständigkeit Österreichs aufgrund dieses Umstands ergibt.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG ist "Familienangehöriger" iSd AsylG ua. der Elternteil eines minderjährigen Kindes, der Ehegatte oder das zum Zeitpunkt der Antragstellung unverheiratete minderjährige Kind eines Asylwerbers. Gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG gilt der Antrag des Familienangehörigen (das Gesetz verweist auf § 2 Z 22 - gemeint ist § 2 Abs. 1 Z 22 - AsylG) eines Asylwerbers auf internationalen Schutz als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes". Die Behörde hat gemäß § 34 Abs. 4 AsylG Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind "unter einem" zu führen, und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedeutet dies auch, dass dann, wenn das Verfahren auch nur eines Familienangehörigen zuzulassen ist, dies auch für die Verfahren aller anderen gilt (VwGH 18.10.2005, 2005/01/0402). Dasselbe muß gelten, wenn der Bescheid auch nur eines Familienangehörigen nach § 41 Abs. 3 dritter Satz AsylG aufgehoben wird.
Gemäß § 41 Abs 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.