TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/31 D15 257823-6/2008

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Veröffentlicht am 31.10.2008
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Spruch

D15 257823-6/2008/33E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Riepl als Vorsitzende und den Richter Mag. Windhager als Beisitzer über die Beschwerde des K.M., geb. 00.00.1973, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.11.2005, FZ.

 

04 26.189-BAG, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gem. § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Der (nunmehrige) Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 31.12.2004 gemeinsam mit seiner Gattin und seinem minderjährigen Kind illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte noch am selben Tag einen Antrag auf die Gewährung von Asyl.

 

2. Im Rahmen einer niederschriftlichen Befragung vor Beamten der Bundesgendarmerie, Grenzkontrollstelle Gmünd, gab der Beschwerdeführer an, dass er Ende April nach Polen gereist sei und dort um Asyl angesucht habe. In der Folge habe er jedoch den Antrag zurückgezogen und sich vor ca. 3-4 Tagen mit dem Taxi zur polnisch-tschechischen Grenze fahren lassen. Diese habe er zu Fuß überschritten und sei gleich darauf von tschechischen Polizisten festgenommen worden. Nach seiner Freilassung sei er wiederum mit einem Taxi zur tschechisch-österreichischen Grenze gefahren und habe diese zu Fuß überquert. Seinen Herkunftsstaat habe er verlassen, da er sowohl von den Russen als auch von der heutigen tschetschenischen Regierung verfolgt werde (AS 15).

 

3. Am 10.01.2005 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des Bundesasylamtes, Erstaufnahmestelle Ost, niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er neuerlich an, dass er mit seiner Familie im April 2004 seine Heimat verlassen habe und nach Polen gereist sei. Dort hätten sie einen Asylantrag gestellt, den sie aber wieder zurückgezogen hätten, da er sich dort nicht mehr sicher gefühlt habe. In weiterer Folge seien seine Familie und er über Tschechien nach Österreich gereist. In seinem Herkunftsstaat werde er von den russischen Behörden als auch durch Leute von Kadirov verfolgt (AS 45 ff.).

 

4. Nachdem ein mit der Republik Polen eingeleitetes Konsultationsverfahren die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaates zur Abwicklung des Asylverfahrens ergab (AS 71), wies das Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, den gegenständlichen Asylantrag vom 31.12.2004 mit Bescheid vom 27.01.2005, FZ. 04 26.189-EAST Ost, gem. § 5 Abs. 1 AsylG 1997 zurück und stellte gem. Art. 16 Abs. 1 lit. d Dublin II-VO fest, dass für die Prüfung des Asylantrages Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der nunmehrige Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen (AS 75 ff.).

 

5. Gegen diesen Bescheid wurde am 10.02.2005 fristgerecht Berufung erhoben (AS 123 ff.).

 

6. Am 11.02.2005 erfolgte durch die Ärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. I.H. ein Gespräch mit dem Beschwerdeführer, in welchem dieser unter anderem vorbrachte, dass er "im ersten Krieg" gekämpft habe, aber nun nicht mehr kämpfen könne, da er krank sei. Er sei zwar nicht inhaftiert, jedoch zu Hause gefesselt (wovon er eine feine Narbe am linken Innenknöchel davongetragen habe) und mit der Pistole auf den Kopf geschlagen worden. 2001 habe man seinen Bruder erschossen (AS 119).

 

7. Aus einem am 05.04.2005 durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F.M. erstellten Befundbericht bezüglich des Beschwerdeführers und seiner Gattin geht hervor, dass beide an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Darüber hinaus hat die Gattin des Beschwerdeführers in der ihrem Befund zugrunde liegenden Anamnese angegeben, dass sie seit 1985 im Rahmen des Tschetschenienkrieges sehr viel mitgemacht habe, selbst gekämpft und mehrere Onkel und Brüder verloren habe. Sie selbst sei von russischen Soldaten geschlagen und vergewaltigt worden. Ebenso sei ihr Gatte verhaftet und gefoltert worden; seit jenem Gefängnisaufenthalt sei dieser auch in der Persönlichkeit verändert (AS 153). Der Beschwerdeführer selbst gab im Rahmen seiner Anamnese an, dass er vor zwei Jahren aus Tschetschenien geflohen sei. Er sei bereits im ersten Tschetschenien-Krieg gefangen und gefoltert worden, im nunmehrigen Tschetschenien-Krieg sei er immer wieder von patrouillierenden russischen Soldaten geschlagen, sowie seien enge Verwandte vor seinen Augen erschossen worden. Einmal hätten er und seine Familie sich hinter einer Kuh und einem Kalb versteckt, woraufhin die Kuh vor seinen Augen von einem russischen Unteroffizier erschossen worden sei; dies habe seinen Widerstandsgeist gebrochen und habe er am nächsten Tag die Flucht mit der Familie ergriffen (AS 185).

 

8. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 18.07.2005, Zl.

 

257.823/5-II/04/05, wurde der Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.01.2005 behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen (AS 155 ff.).

 

9. Nach Zulassung zum Verfahren fand am 25.10.2005 vor einem Organwalter des Bundesasylamtes, Außenstelle Graz, eine weitere niederschriftliche Einvernahme mit dem Beschwerdeführer statt. Dabei gab dieser - kurz zusammengefasst - an, dass er bis zu seiner Ausreise Mitte April 2004 in Inguschetien gelebt habe, offiziell aber in A. gemeldet gewesen sei. Sein Bruder sei 2001 aktiver Kämpfer im Tschetschenienkrieg gewesen; diesen habe er unterstützt. Selbst teilgenommen habe er nur am ersten Tschetschenienkrieg. Eines Nachts seien er und sein Bruder mit dem Auto in A. "hin- und hergefahren" und seien sie dabei von den Russen oder den Kadirov-Leuten beschossen worden. Dabei sei sein Bruder getötet worden, er selbst habe sich noch retten können, sei danach aber gesucht worden. Dies wisse er deshalb, weil in seinem (Eltern-)Haus immer wieder Leute aufgetaucht seien und erwähnt hätten, dass sie auch ihn erwischen wollten. Dabei seien seine Eltern auch bedroht worden, passiert sei allerdings nie etwas. Er wisse durch seine Verwandten, dass sein Name damals auf einer Liste, die in der Kommandantur aufgelegen sei, gestanden habe. Ob sein Name auch heute noch darauf zu finden sei, wisse er nicht. Zu Hause habe er noch eine (weitere) Frau und drei Kinder - diese sei einmal festgehalten und mit dem Erschießen bedroht worden, falls sie nicht dabei behilflich sein würde ihn zu finden. Bei einem damit in Zusammenhang stehenden Zwischenfall sei der Bruder seiner ersten Frau getötet worden

 

(AS 221 ff.).

 

10. Das Bundesasylamt hat den gegenständlichen Asylantrag mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.11.2005, FZ. 04 26.189-BAG, gem. § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und unter einem festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des nunmehrigen Beschwerdeführers nach Russland gem. § 8 Abs. 1

 

AsylG 1997 zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Russland ausgewiesen (Spruchpunkt III.). Begründend führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus, dass es aufgrund der allgemein gehaltenen und vagen Schilderungen des Beschwerdeführers nicht plausibel sei, dass dieser in seinem Herkunftsstaat einer Verfolgungsgefahr i.S.d. GFK ausgesetzt sei.

 

11. Gegen diesen - am 14.11.2005 zugestellten - Bescheid richtet sich die am 23.11.2005 eingebrachte Berufung. Darin wird - kurz zusammengefasst - ausgeführt, dass die Behörde bei einem entsprechenden Ermittlungsverfahren zu einem anderen, für ihn positiven Ergebnis, gekommen wäre und ihm Asyl gewährt hätte (AS 297 ff.).

 

12. Nach einem am 15.05.2006 abgehaltenen "selbständigen Augenschein" der Ländersachverständigen Dr. L.L. und Einführung zweier Gutachten zur "Situation von tschetschenischen Vertriebenen in Russland" und "Innerstaatlichen Fluchtalternative in Tschetschenien" sowie der Gewährung von Parteiengehör zu diesen Beweismitteln kam der Unabhängige Bundesasylsenat in seinem "Erkenntnis" vom 09.10.2006 zum Ergebnis, dass der "Beschwerde" vom 23.11.2005 stattzugeben sei und dem nunmehrigen Beschwerdeführer gem. § 7 AsylG 1997 Asyl zu gewähren sei. Gemäß § 12 leg. cit. wurde festgestellt, dass diesem somit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme (AS 409 ff.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es aufgrund des durch den Unabhängigen Bundesasylsenat durchgeführten ergänzenden Ermittlungsverfahrens ausreichend wahrscheinlich sei, dass im gegenständlichen Fall die Voraussetzungen für die Annahme einer ausreichend intensiven "Verfolgung" aus zumindest einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe vorliege.

 

13. Gegen dieses "Erkenntnis" wurde mit Schriftsatz vom 11.12.2006 wegen Begründungsmängel, mangelnder Nachvollziehbarkeit des Bescheides, fehlender Nachvollziehbarkeit der in das Verfahren eingeführten Gutachten, der fraglichen Zulässigkeit einer "einseitigen Anhörung" und des "selbständigen Augenscheins" sowie allgemein aufgrund eines mangelnden Ermittlungsverfahrens seitens der zweiten Instanz, Amtsbeschwerde gem. § 38 Abs. 5 AsylG 1997 durch das Bundesministerium für Inneres erhoben (AS 463 ff.).

 

14. Dieser Amtsbeschwerde gab der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 26.06.2008, Zl. 2006/20/0794-5, statt und hob den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Begründend wurde auf das d.g. Erkenntnis vom 19.12.2007 verwiesen, in welchem der Verwaltungsgerichtshof bereits ausführlich dargelegt hat, dass die gutachterlichen Äußerungen der - auch im gegenständlichen Fall beigezogenen - Sachverständigen widersprüchlich und nicht nachvollziehbar seien. Da die Feststellungen des Unabhängigen Bundesasylsenates ausschließlich auf diese mangelhaften gutachterlichen Äußerungen gestützt seien, sei schon aus diesem Grund von einer Rechtswidrigkeit des Bescheides infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auszugehen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (in der Folge: AsylGHG) nimmt der Asylgerichtshof mit 01.07.2008 seine Tätigkeit auf. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat (UBASG), BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

1.2. Gemäß § 61 Abs. 1 Asylgesetz 2005 in der geltenden Fassung (in der Folge: AsylG) entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

1.3. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 (in der Folge: AsylG 1997) zu Ende zu führen, wobei die Übergangsbestimmung des § 44 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 i.d.F. BGBl. I Nr.101/2003 gilt. Der gegenständliche Asylantrag wurde am 31.12.2004 gestellt. Es ist im vorliegenden Fall somit das Asylgesetz 1997 i.d.F. BGBl. I Nr.101/2003 anzuwenden.

 

1.4. Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG sind am 1. Juli 2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:

 

Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängige Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, die von nicht zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannten Mitgliedern des Unabhängigen Bundesasylsenates geführt wurden, sind nach Maßgabe der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes vom zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Das gegenständliche Verfahren war am 01.07.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängig und ist daher vom Asylgerichtshof weiterzuführen. Es handelt sich um ein Beschwerdeverfahren gegen einen abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes, welches von einem nicht zum Richter des Asylgerichtshofes ernannten Mitglied des Unabhängigen Bundesasylsenates geführt wurde. Demnach hatte über die vorliegende Beschwerde unter sinngemäßer Anwendung von § 75 Abs. 7 Z 3 AsylG 2005 der Asylgerichtshof, und zwar durch den nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat zu entscheiden.

 

1.5. Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2.1. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, so der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß § 66 Abs. 3 AVG kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, "wenn hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist."

 

2.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315, zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat ausgeführt:

 

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden.

(...)

 

Die Berufungsbehörde darf eine kassatorische Entscheidung nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann treffen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als ¿unvermeidlich erscheint'. Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung i.S.d. § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa das Erkenntnis v. 14.03.2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff ¿mündliche Verhandlung' i.S.d. § 66 Abs. 2 AVG siehe auch die Nachweise im Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084).

 

Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet. In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln und es ist gem. § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen des Gesetzgebers würden aber unterlaufen, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde. Es ist nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die Berufungsbehörde, statt ihre (umfassende) Kontrollbefugnis wahrnehmen zu können, jene Behörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und einer Beurteilung unterzieht.

 

Dieser Gesichtspunkt ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichthofes - freilich immer unter ausreichender Bedachtnahme auf das Interesse der Partei an einer raschen Erledigung des Asylverfahrens - bei der Ermessensausübung nach § 66 Abs. 2 und 3 AVG auch einzubeziehen. Unter dem Blickwinkel einer Kostenersparnis für die Partei ist dabei vor allem auch zu beachten, dass die Vernehmung vor dem Bundesasylamt dezentral durch die Außenstellen in den Bundesländern erfolgt, während der Unabhängige Bundesasylsenat - anders als bei den unabhängigen Verwaltungssenaten in den Ländern, für die Vergleichbares auf Landesebene gilt - als zentrale Bundesbehörde in Wien eingerichtet ist (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084)."

 

2.3. Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 17.10.2006, Zl. 2005/20/0459, zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat ausgeführt:

 

"Einem zurückweisenden Bescheid i.S.d. § 66 Abs. 2 AVG muss (demnach) auch entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Unterbehörde unterlaufen und im Wege der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung zu beheben sind (vgl. zum Ganzen zuletzt das Erkenntnis v. 20.04.2006, Zl. 2003/01/0285)."

 

Was für den Unabhängigen Bundesasylsenat bis zum 30.06.2008 zu gelten hatte, gilt nunmehr sinngemäß gleichermaßen für den Asylgerichtshof als dessen Nachfolgebehörde.

 

3.1. Die erstinstanzliche Behörde kommt im gegenständlichen Fall im Rahmen ihrer (nicht einmal eine Aktenseite füllenden) Beweiswürdigung zum Schluss, dass hinsichtlich des Beschwerdeführers "... aufgrund der allgemein gehaltenen Angaben allfällige weitere Ausführungen hinsichtlich des Vorliegens sonstiger individueller Bedrohungssituationen nicht glaubhaft seien" (S. 21 des bekämpften Bescheides).

 

Dazu ist auszuführen, dass das für diese Entscheidung wohl wichtigste Beweismittel die am 25.10.2005 vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, stattgefundene niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers darstellt. In dieser - nicht einmal zwei Stunden in Anspruch genommen habenden - Einvernahme wurde der Beschwerdeführer aber weder über Einzelheiten hinsichtlich seiner Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg (z.B. in welcher Funktion er daran teilgenommen habe, wo er eingesetzt gewesen sei oder wie sich die konkreten Umstände dargestellt hätten), noch über die Art und Weise der vom Beschwerdeführer behaupteten Unterstützung seines Bruders beim zweiten Tschetschenienkrieg näher befragt.

 

In diesem Zusammenhang ist jedoch ausdrücklich zu bemerken, dass den im erstinstanzlichen Verwaltungsakt aufliegenden psychologischen Gutachten bzw. Befunden jeweils eine Anamnese [Gespräch des Arztes mit dem Patienten u.a. über dessen biographische Vorgeschichte] zugrunde liegt, in welchen der Beschwerdeführer für die gegenständliche Entscheidung durchaus relevante Aussagen trifft. So ist z.B. auf AS 119 hinzuweisen, wo der Beschwerdeführer bereits am 11.02.2005 im Rahmen eines Gesprächs mit der Ärztin für Psychotherapeutischen Medizin Dr. I.H. schildert, dass er an einen Stuhl gefesselt und dann mit einer Pistole auf den Kopf geschlagen worden sei. Weiters gab er dabei an, davon eine feine Narbe am Innenknöchel davongetragen zu haben.

 

Diese Informationen wurden vom Bundesasylamt dem Beschwerdeführer in der Folge jedoch weder vorgehalten, noch wurde er dazu näher befragt, noch wurden sie sonst irgendwie im weiteren Verfahrensverlauf entsprechend gewürdigt. Dies ist jedoch umso bemerkenswerter, als dass aus dem Einvernahmeprotokoll vom 25.10.2005 sehr wohl hervorgeht, dass dieses Gespräch dem Organwalter des Bundesasylamtes zu diesem Zeitpunkt bekannt war (zit. "Warum haben Sie das bisher nicht angegeben, Sie hatten auch ein Gespräch mit einer Ärztin?" - AS 227).

 

Weiters sind auch den von Dr. F.M. verfassten Befundberichten durchaus verfahrensrelevante Informationen zu entnehmen. So schildert beispielsweise die Gattin des Beschwerdeführers, dass dieser verhaftet und gefoltert worden sei und nach einem Gefängnisaufenthalt "in der Persönlichkeit verändert" gewesen sei (AS 153). Seiner eigenen Anamnese (AS 185) ist zu entnehmen, dass er im ersten Tschetschenienkrieg "gefangen und gefoltert" und im zweiten Krieg "von patrouillierenden russischen Soldaten geschlagen" worden sei. Auch von einer occipitalen Narbe nach einem Schlag im Rahmen von Folterungen ist im Befundbericht die Rede.

 

Auch diese Aspekte wurden jedoch im weiteren Verfahren vor der erstinstanzlichen Behörde mit dem Beschwerdeführer nie näher erörtert oder diesem vorgehalten. Vielmehr begnügte sich das Bundesasylamt offenbar mit den bereits bekannten Sachverhaltselementen, nämlich dass der Beschwerdeführer (in welcher Form auch immer) am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen habe und dessen Bruder im Rahmen des zweiten Tschetschenienkrieges erschossen worden sei. Die näheren Umstände bzw. Hintergründe wurden aber - trotz der oben angeführten in den medizinischen Befunden festgehaltenen Indizien - nie nachgefragt oder erörtert und blieben somit im Dunkeln.

 

Es muss im vorliegenden Fall daher davon ausgegangen werden, dass der gegenständliche verfahrensrelevante Sachverhalt durch das Bundesasylamt - trotz der oben erwähnten, allesamt bereits zum Zeitpunkt der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, am 25.10.2005 vorgelegen habenden Anhaltspunkte - nur äußerst rudimentär und damit mangelhaft erhoben wurde und war in Anbetracht der Tatsache, dass somit fast das gesamte Ermittlungsverfahren vor die zweite Instanz verlagert werden würde, spruchgemäß vorzugehen.

 

3.2. Nur der Vollständigkeit halber ist noch zu bemerken, dass wenn das Bundesasylamt - so wie im bekämpften Bescheid - davon ausgeht, dass dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative offen gestanden sei, gehalten gewesen wäre, gemäß der UNHCR-Richtlinie zum internationalen Schutz vom 23.07.2003 ebenso zu prüfen, ob ihm dies im Hinblick auf seine persönlichen Verhältnisse als zumutbar erscheinen , als auch Feststellungen über die zu erwartende Lage im Ort der in Aussicht genommenen innerstaatlichen Schutzalternative zu treffen (vgl. auch VwGH v. 01.09.2005, Zl. 2005/20/0357; VwGH v. 11.06.2002, Zl. 2000/012/0305).

 

3.3. Im konkreten Fall wäre aufgrund der dargestellten Mängel im Zuge des weiteren Verfahrens jedenfalls eine neuerliche Vernehmung anzuberaumen und mit dem Beschwerdeführer die offen gebliebenen bzw. mangelhaft erhobenen Sachverhaltselemente abzuklären.

 

4. Auch die Zielsetzungen der im gegenständlichen Fall anzuwendenden Asylgesetznovelle 2003 lassen eine kassatorische Entscheidung geboten erscheinen. So wird im allgemeinen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Asylgesetznovelle 2003 Folgendes ausgeführt:

 

"Die vorgeschlagene Novelle sieht eine Konzentration der Tatsachenermittlung beim Bundesasylamt vor. Eine vollständige Tatsachenermittlung erfordert einerseits eine umfassende Befragung, Rechtsberatung und Information des Asylwerbers und andererseits auch dessen umfassende Mitwirkung am Verfahren..."

 

Im besonderen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage der Asylgesetznovelle 2003 wird zur vorgeschlagenen Neufassung des § 32 ausgeführt: "Die vorgeschlagene Neufassung des § 32 trägt dem Konzept Rechnung, dass die Kompetenzen des Bundesasylamtes als Tatsacheninstanz erweitert werden. ..." Diese durch die Asylgesetznovelle 2003 eingeführten Bestimmungen bewirken nach dem Willen des Gesetzgebers eindeutig eine Festlegung der Grundausrichtung der Tätigkeit des Bundesasylamtes als auch im vorliegenden Fall zuständiger Behörde erster Instanz. Diesen normativen Anliegen des Gesetzgebers kann nur durch die vollständige Ermittlung und Feststellung des Sachverhaltes durch das Bundesasylamt auch im vorliegenden Fall Rechnung getragen werden, weshalb die Behebung des angefochtenen Bescheides und Verweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zu erfolgen hat.

 

5. Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall der Berufung (nunmehr: Beschwerde) Rechnung zu tragen und das der zweiten Instanz gem. § 66 Abs. 2 und 3 AVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben. Besondere Gesichtspunkte, die aus Sicht des Beschwerdeführers gegen eine Kassation des erstinstanzlichen Bescheides sprechen würden, sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar.

 

6. Von der Durchführung einer öffentlichen Beschwerdeverhandlung konnte gem. § 67d AVG i.V.m. § 41 Abs. 7 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
innerstaatliche Fluchtalternative, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
05.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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