TE AsylGH Erkenntnis 2008/11/13 S10 402498-1/2008

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Veröffentlicht am 13.11.2008
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Spruch

S10 402.498-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde von Frau T.K., geb. 00.00.1983, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.10.2008, Zahl: 08 08.907 - EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem Verfahrensakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF) ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie hat am 22.09.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Im Zuge der niederschriftlichen Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen Erstaufnahmestelle (EAST) in Anwesenheit eines geeigneten Dolmetsch für die Sprache Russisch am 22.09.2008 gab sie im Wesentlichen Folgendes an:

 

Sie sei am 20.05.2008 mit dem Zug von ihrem Heimatort Grosny über Moskau und Brest nach Polen gefahren. Von dort sei sie am 21.09.2008 mit einem Taxi nach Österreich gebracht worden. Die Fahrt von Polen nach Österreich habe ungefähr 7 Stunden gedauert.

 

Die BF gab an, ihre Eltern und ihr Bruder seien in Österreich wohnhaft.

 

Als Fluchtgrund gab die BF an, ihr Ehemann sei seit dem Jahr 2003 verschollen. Sie selbst habe sich verstecken müssen, da sie nach dessen Tod ganz alleine gewesen sei. Deshalb habe sie zu ihren Eltern nach Österreich gewollt. In ihr Herkunftsland könne sie nicht zurückkehren, da sie dort ganz alleine und ungeschützt wäre.

 

1.2. Ein AFIS-Abgleich ergab, dass die BF bereits in Polen erkennungsdienstlich behandelt worden war und am 28.05.2008 einen Asylantrag gestellt hatte. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde der BF mit Schriftstück vom 29.09.2008, von der BF übernommen am 29.09.2008, mitgeteilt, dass Konsultationen mit Polen gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO)geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Es wurde ihr eine Aktenabschrift ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, in der die Rechtsberatung erfolgte. Überdies wurden dem Rechtsberater die relevanten Aktenbestandteile zugänglich gemacht.

 

Dazu befragt gab die BF an, sie kenne den Stand des Verfahrens in Polen nicht. Es habe auch keine Einvernahme stattgefunden. Sie habe sich 4 Monate in Polen aufgehalten. Sie sei nicht in einem Lager untergebracht gewesen, sondern habe bei einer Tschetschenin in Warschau gewohnt. Nach Polen könne sie nicht zurück, da sie dort niemanden habe.

 

1.3. Am 24.09.2008 leitete die Erstbehörde ein Konsultationsverfahren mit Polen gemäß Dublin II VO ein und ersuchte um Wiederaufnahme. Mit Erklärung vom 25.09.2008 (bei der Erstbehörde eingelangt am 26.09.2008) erklärte sich Polen ausdrücklich gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO für die Führung des Asylverfahrens zuständig.

 

1.4. Am 08.10.2008 gab Frau Dr. I. H., Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, nach einer Untersuchung der BF eine gutachterliche Stellungnahme ab, in der sie diagnostizierte:

"Am ehesten liegt eine Anpassungsstörung, F.43.21, längere depressive Reaktion, vor, im Sinne einer protrahierten Trauerreaktion". Für eine sonstige Störung gebe es "heute keinen Hinweis" und eine Überstellung sei "aus ärztlicher Sicht zumutbar". Der BF wurden Baldrian-Dragees verordnet, die "im Zielland als erhältlich vorauszusetzen" seien.

 

1.5. Am 20.10.2008 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme, in der die BF in Anwesenheit eines geeigneten Dolmetsch für die Sprache Tschetschenisch und eines Rechtsberaters im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:

 

Befragt zu ihren verwandtschaftlichen Bindungen in Österreich gab die BF an, sie habe im Herkunftsland bis zu ihrer Heirat im Jahre 2001 mit ihren Eltern und ihrem Bruder im gemeinsamen Haushalt zusammengelebt. Nachdem ihr Ehemann im Jahre 2003 verschleppt worden sei, habe sie zuerst bei dessen Familie gelebt. Als klar gewesen sei, dass ihr Ehemann offenbar nicht mehr am Leben sei, sei sie zu ihrer Großmutter gezogen, deren Pflege sie in der Folge übernommen habe. Nach dem Tod der Großmutter habe sie bei einem Onkel und einer Tante Unterkunft gefunden. Von diesen sowie von ihren in Österreich lebenden Eltern habe sie gelegentlich finanzielle Unterstützung erhalten. Ihren Lebensunterhalt habe sie als Verkäuferin in einem Geschäft verdient. Auf die Frage, warum sie nicht schon früher versucht habe, zu ihren Eltern zu gelangen, gab die BF an, sie habe zuerst ihren Mann finden wollen. Es habe das Gerücht gegeben, er sei irgendwo in Russland. Als dann ihre Großmutter gestorben sei, habe sie sich zur Flucht entschlossen, weil sie nicht immer bei Fremden unterkommen habe können. Nach der Tradition seien nach dem Tod ihres Ehemannes ihre Eltern verpflichtet, sich um die BF zu kümmern, auch wenn keine Pflegebedürftigkeit bestehe.

 

Ein weiterer Grund, warum sie letztendlich ihr Heimatland verlassen habe, sei, dass die Lage in Tschetschenien für Kopftuch tragende Frauen gefährlich sei. Diesen werde vorgeworfen, mit den Rebellen in Kontakt zu stehen. Sie selbst sei zwar nicht bedroht worden, es habe jedoch in ihrem Ort Fälle gegeben, in denen Frauen verschleppt worden seien.

 

Als Grund, warum sie nicht nach Polen zurückkehren könne, gab die BF an, sie könne dort nicht alleine leben. Ihr Leben sei in letzter Zeit schwierig gewesen. Die Einreise über Polen sei die einzige Möglichkeit gewesen, zu ihren Eltern in Österreich zu gelangen.

 

Die BF gab weiters an, dass sie zur Lage in Polen und zu den diesbezüglichen Länderberichten keine Auskünfte geben könne, da sie nicht in einem Lager untergebracht worden sei.

 

Zur gutacherlichen Stellungnahme der ärztlichen Sachverständigen Dr. I. H. gab die BF an, sie sei glücklicherweise nicht so krank, dass sie sich nicht um sich selber kümmern könne.

 

1.6. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 20.10.2008, Zahl: 08 08.907 - EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde die BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Person der BF, zur Begründung des Dublin-Tatbestandes, zum Privat- und Familienleben der BF und zur Lage im Mitgliedsstaat Polen.

 

Festgestellt wurde weiters, dass keine Umstände, die gegen eine Ausweisung und Überstellung der BF nach Polen sprechen, ermittelt werden konnten, insbesondere keine engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihren in Österreich lebenden Eltern und ihrem Bruder bestehen sowie auch keine gesundheitlichen Gründe dagegen sprechen.

 

Nach Ansicht der Erstbehörde war unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in der folge EMRK) somit nicht festzustellen, sodass von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen wäre.

 

1.7. Gegen diesen Bescheid erhob die BF fristgerecht mit nicht datiertem Schriftsatz, eingebracht am 03.11.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde und beantragte, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen sowie den bekämpften Bescheid aufzuheben und die BF zum Asylverfahren zuzulassen. In der Beschwerdeschrift bringt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, das Bundesasylamt habe seine Ermittlungspflicht nicht wahrgenommen und kein spezifisches Ermittlungsverfahren hinsichtlich ihres Vorbringens zu ihren verwandtschaftlichen Verhältnissen in Österreich durchgeführt sowie ihr Vorbringen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen in Österreich unrichtig gewürdigt.

 

1.8. Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 07.11.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verfahrensakt.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Artikel 16 Abs. 1 c) Dublin II VO normiert, dass der Mitgliedstaat, der zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, gehalten ist, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

 

§ 18 Absatz 1 AsylG besagt, dass das Bundesasylamt und der Asylgerichtshof in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

 

2.1.1. Der Asylgerichtshof stellt zunächst fest, dass das Verwaltungsverfahren rechtmäßig durchgeführt wurde.

 

Der Beschwerdeführerin wurde insbesondere durch die Erstbefragung und die Einvernahme mit vorhergehender Rechtsberatung - alle jeweils unter Zuhilfenahme geeigneter Dolmetscher - ausreichend rechtliches Gehör gewährt, und ihr wurde vor der Einvernahme und innerhalb von 20 Tagen ab Einbringen ihres Antrags schriftlich mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ihren Asylantrag wegen Zuständigkeit Polens zurückzuweisen (§§ 28, 29 AsylG).

 

Die Erstbehörde befragte die BF in der Einvernahme ausführlich zu ihren verwandtschaftlichen Bindungen und ging allen Hinweisen betreffend das Verhältnis zu ihren Eltern und ihrem Bruder nach. Es waren daher keine weitergehenden Ermittlungen notwendig.

 

Insoweit die BF in ihrer Beschwerde vorbringt, aus den Ausführungen der Behörde (Seite 20 des angefochtenen Bescheides) ergebe sich, dass sich diese nicht mit ihren Familienverhältnissen auseinandergesetzt habe, ist zu sagen, dass sich diese Ausführungen nicht auf den konkreten Fall der BF beziehen, sondern (arg: "vgl. in diesem Zusammenhang", Seite 20) lediglich der Erläuterung dienen.

 

Ein Verstoß gegen § 18 AsylG wegen unterlassener Ermittlungen im Hinblick auf die familiären Bindungen der BF in Österreich liegt daher nicht vor.

 

2.1.2. Es ist weiters zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.2.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Polen erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch die BF (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Polens gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO besteht. Polen hat mit Schreiben vom 25.09.2008, eingelangt am 26.09.2008, ausdrücklich der Wiederaufnahme der BF zugestimmt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

2.1.3. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.1.3.1. Mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK

 

Es kann nicht gesagt werden, dass die BF ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihr auf Grund ihrer persönlichen Situation ausnahmsweise durch eine Rückverbringung nach Polen entgegen der Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde (sog. "real risk"). Sie hat vielmehr als einzigen Grund angegeben, dass sie in Polen allein wäre.

 

Darüber hinaus verfügt der Asylgerichthof aktuell über kein Amtswissen hinsichtlich solch offenkundiger, besonderer Gründe, die die Annahme rechtfertigen, die BF wäre in Polen einer realen Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung ausgesetzt oder laufe Gefahr, in Polen trotz drohender Verfolgung im Herkunftsland in dieses zurückgewiesen zu werden. Im Gegenteil erfolgten die von der Erstbehörde getroffenen Feststellungen auf der Grundlage unbedenklicher und glaubwürdiger Quellen, sodass im Ergebnis eine Überstellung der BF nach Polen daher keine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.

 

Was den gesundheitlichen Zustand der BF betrifft, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK, dass die Überstellung eines Asylwerbers nicht zulässig ist, wenn im Zielland wegen fehlender Behandlung schwerer Krankheiten eine existenzbedrohende Situation vorliegen würde. Aus den diesbezüglichen Entscheidungen ergibt sich, dass bei Vorliegen von Erkrankungen im Allgemeinen nur solche relevant sind, die bekanntermaßen zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen und grundsätzlich keine Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bestehen (siehe dazu nunmehr auch VfGH vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9).

 

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der gutachterlichen Stellungnahme der ärztlichen Sachverständigen und der Stellungnahme der BF dazu sowie aus den Länderberichten, dass der Gesundheitszustand der BF einer Überstellung nach Polen nicht entgegensteht.

 

Hinsichtlich einer etwaigen Gefährdung der BF in Polen sowie hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Situation besteht daher kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO.

 

2.1.3.2. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Nach der Judikatur von EGMR bzw. EKMR ist zum Vorliegen des durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutzes ein "effektives Familienleben" nötig, das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushalts, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234). Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst zwar nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen auch solche zwischen erwachsenen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) angesehen, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.

 

Es kann nicht dazu führen, dass durch Asylantragstellungen im Zusammenhang mit in Österreich befindlichen Familienmitgliedern unter Berufung auf Art. 8 Abs. 2 EMRK die fremdenrechtlichen und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen völlig ad absurdum geführt werden. Würde man diese Möglichkeit bejahen, würden all jene Fremden, die die vorgegebenen Einwanderungsschritte ordnungsgemäß befolgen, benachteiligt werden. Insofern ist daher auch die Anwesenheit von rechtmäßig niedergelassenen Familienangehörigen in Österreich sehr differenziert zu betrachten, weil der Fremde wusste oder hätte wissen müssen, dass er bei einer negativen Asylverfahren mit einer Ausweisung zu rechnen hatte (Kommentar zum Asylgesetz 2005, 3. überarbeitete Auflage, Frank/Anerinhof/Filzwieser, § 10, K 51, S. 288[k1]).

 

Im vorliegenden Fall lebte die BF nach ihren Angaben bis zu ihrer Heirat im Jahre 2001 im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern und ihrem Bruder, zog dann jedoch zu ihrem Ehemann. Nach dessen angeblichen Verschwinden lebte sie bei verschiedenen Verwandten ihres Ehemannes und bei ihrer Großmutter, deren Pflege sie übernahm. Auch nach dem angegebenen Tod der Großmutter im Jahre 2007 entschloss sich die BF nicht sofort zur Ausreise, sondern lebte bei ihrer Tante und bei ihrem Onkel. Ebenso verbrachte die BF 4 Monate in Polen in einer Privatunterkunft, bis sie sich nach Österreich zu ihrer Familie begab. Die BF lebte daher seit ungefähr 7 Jahren nicht mehr mit ihren Eltern und ihrem Bruder zusammen. Die BF gab auch sonst keine Hinweise darauf, dass ein besonders enges familiäres Band zu ihren Eltern und ihrem Bruder bestehe, sondern sie führte vielmehr als Grund an, dass sie der Meinung sei, ihre Eltern seien auf Grund der Tradition verpflichtet, sich um sie zu kümmern, da sie im Herkunftsland keine Verwandten habe. Es kann daher nicht von einer Weiterführung des gemeinsamen Familienlebens gesprochen werden. Auch ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht. Die BF bestritt im Herkunftsland ihren Unterhalt größtenteils selbst und erhielt nur gelegentlich finanzielle Zuwendungen seitens ihrer Eltern. Aus gesundheitlicher Sicht besteht ebenfalls kein Bedürfnis der BF, von ihren Eltern oder ihrem Bruder gepflegt zu werden. Es liegt daher keine besondere Nahebeziehung der BF zu ihren in Österreich aufhältigen Verwandten vor, so dass mangels bestehenden Familienlebens im Fall der Führung des Asylverfahrens der BF in Polen kein Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht vorliegt und somit unter diesem Gesichtspunkt auch kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO besteht.

 

2.1.3.3. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art. 8 EMRK zu verpflichten.

 

2.1.3. Spruchpunkt I. der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

2.2. Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II. waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung nach Polen in Vollzug der Ausweisung aus Österreich erforderlich erschienen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

2.3. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Ausweisung, Diskriminierung, familiäre Situation, medizinische Versorgung, Rechtsschutzstandard, Sicherheitslage
Zuletzt aktualisiert am
05.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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