TE AsylGH Erkenntnis 2008/12/18 S1 314137-3/2008

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Veröffentlicht am 18.12.2008
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Spruch

S1 314.137-3/2008/9E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. FILZWIESER als Einzelrichter über die Beschwerde des T.S., geb. 00.00.1980, StA. Russland, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2008, Zl. 08 04.622-BAL, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 66 Abs. 4 AVG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Bescheiderlassung ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt. Das Erstverfahren des nunmehrigen Beschwerdeführers endete mit einer rechtskräftigen zweitinstanzlichen Unzuständigkeitsentscheidung gemäß §§ 5, 10 AsylG in Bezug auf Polen. In der Folge wurde der Beschwerdeführer am 10.09.2007 am Luftweg nach Warschau überstellt, wobei der VwGH am selben Tag aufschiebende Wirkung zuerkannte, um dann am 26.09.2007 die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.

 

2, In der polizeilichen Erstbefragung im Rahmen des verfahrensgegenständlichen Zweitverfahrens führte der nunmehrige Beschwerdeführer aus, im Dezember 2007 aus Polen nach Tschetschenien zurückgereist zu sein. Im Mai 2008 wäre er, wahrscheinlich über die Slowakei, wieder illegal in die Europäische Union eingereist. Im Wiederaufnahmeersuchen der Erstbehörde an Polen vom 29.05.2008 wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer behauptet hatte, wieder nach Tschetschenien gereist zu sein, diese Behauptung werde aber nicht geteilt. Nähere Erläuterungen finden sich nicht. Durch ein Schreiben seiner rechtsfreundlichen Vertreterin legte der Beschwerdeführer am 18.06.2008 in Kopie Dokumente vor (Busticket, Rechnungen), die seinen Aufenthalt in Tschetschenien belegen sollten (Originale könnten nachgereicht werden). In der Einvernahme vom 20.06.2008 legte der Beschwerdeführer ferner eine Versicherungspolizze und eine ärztliche Untersuchungsbestätigung aus Tschetschenien vor, die zum Akt genommen wurden, wobei eine Übersetzung aber nicht angefertigt worden ist. Fragen zu seiner behaupteten Rückkehr nach Tschetschenien beantwortete der Beschwerdeführer (etwa zum Grund des Versicherungsabschlusses) in dieser Einvernahme, eine nähere behördliche Befragung zu Umständen der Reisebewegung oder einer genauen Geschehnisabfolge beim behaupteten Aufenthalt in Tschetschenien erfolgte jedoch nicht.

 

3. Der gegen die Zurückweisung des Asylantrages gemäß §§ 5, 10 AsylG (23.06.2008, Zl. 08 04.622 EAST West) erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 14.07.2008, GZ: S1 314.137-2/2008/2E gemäß § 41 Abs 3 AsylG 2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben; dies im wesentlichen mit der Begründung, das Bundesasylamt habe das Konsultationsverfahren mit den polnischen Behörden grob fehlerhaft geführt, da diesen im Zusammenhang mit der behaupteten Ausreise des Beschwerdeführers aus der EU für länger als 3 Monate lediglich unvollständige Informationen übermittelt worden seien. Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Indizien hätten darüber hinaus eine individuelle Würdigung und eine nähere Befragung erforderlich gemacht.

 

4. Im fortgesetzten Verfahren richtete die EAST West des BAA am 19.09.2008 an Polen ein Schreiben, mit welchem festgehalten wurde, dass der Beschwerdeführer bereits am 10.09.2007 nach Polen überstellt wurde und Polen nach seiner zweiten Asylantragstellung im Mai 2008 wiederum der Übernahme zugestimmt habe. An die polnische Behörde wurden Fragen hinsichtlich der genauen Daten des Aufenthaltes des Beschwerdeführers in Polen bzw. in dem polnischen Lager gerichtet, ohne jedoch dem Auftrag des Asylgerichtshofes, Beweismittel und Informationen über den behaupteten (und von Seiten des Bundesasylamtes für unglaubwürdig erachteten) Aufenthalt des Beschwerdeführers außerhalb des Gebietes der Mitgliedstaaten an Polen zu übersenden oder zumindest beschreibend darzustellen, nachzukommen. Vom "Office for Aliens of the Republic of Poland" wurde daraufhin mitgeteilt, dass sich der Beschwerdeführer sich von 19. bis 25 Juni 2007 im "Central Reception Centre" in Podkowa Lesna und seit 11.10.2007 im Flüchtlingscamp Warschau (Ciolka) aufgehalten habe. Am 15.03.2008 sei der Beschwerdeführer aus der Liste der Bewohner des letztgenannten Flüchtlingscamps gestrichen worden.

 

Anlässlich einer niederschriftlichen Einvernahme am 29.09.2008 durch das Bundesasylamt, Außenstelle Linz, wurde der Beschwerdeführer über seine Aufenthaltsorte nach seiner Rücküberstellung nach Polen im September 2007 befragt. Er erklärte bis Ende Dezember 2007 illegal in Polen gelebt zu haben. Am 1. oder 2. Jänner 2008 sei er illegal nach Brest, Weißrussland gereist und dann weiter über Moskau, Dagestan nach Tschetschenien, wo er am 8. oder 9. Jänner 2008 angekommen sei. Aufgrund des Erhaltes einer Ladung sei er Anfang Februar 2008 nach S. an der Wolga gereist. Dort habe er bis Mai 2008 darauf gewartet, dass ihm seine Schwester Geld für die Weiterreise überwies. Er sei dann über Rostov, Kiew und Uschgorod nach Österreich gefahren. Darüber hinaus wurde der Beschwerdeführer zum Verhältnis zu seinen in Österreich lebenden Brüdern befragt. Auf Vorhalt der Auskunft der polnischen Behörden vom 23.09.2008 gab der Beschwerdeführer an, dass diese nicht stimmen könne, am 15.03.2008 sei er in S. gewesen. In Polen scheine Unordnung und Chaos zu herrschen. Das Lager "Tscholka" sei mittlerweile zugesperrt worden. Die Videoüberwachung am Eingang des Lagers könne beweisen, dass er sich 2008 nicht mehr im Lager aufgehalten habe. Irgendwer aus der Verwaltung des Lagers könnte sich sein Taschengeld "eingesteckt" haben (As. 375 bis 378 im Akt des BAA).

 

Der Beschwerdeführer legte einen psychotherapeutischen Kurzbericht des Psychotherapeuten E.K., Verein Hemayat vom 30.05.2008 vor, wonach beim Beschwerdeführer eine Anpassungsstörung auf dem Boden einer posttraumatischen Belastungsstörung vorliege. Gemäß dem in weiterer Folge durch das Bundesasylamt Linz veranlassten psychiatrischen Gutachten von Dr. L. vom 01.10.2008, besteht beim Beschwerdeführer eine Anpassungsstörung mit leicht- mittelgradiger Depression. Im Falle einer Überstellung nach Polen sei eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes im lebensbedrohlichen Ausmaß unwahrscheinlich (Suizidrisiko geringgradig).

 

Die Erstaufnahmestelle West richtete am 30.09.2008 an Polen ein weiteres Schreiben, mit welchem sie um Informationen hinsichtlich der angeblichen Schließung des Lagers Ciolka und dem Zusammenhang mit der Abmeldung des Beschwerdeführers aus diesem Lager bat. Weiters wurde Polen gefragt, ob detaillierte Beweise vorliegen würden, dass sich der Beschwerdeführer bis März 2008 in Polen aufgehalten habe. Vom "Office for Aliens of the Republic of Poland" wurde daraufhin am 10.10.2008 mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer zwischen 11.10.2007 und 15.03.2008 Taschengeld im Lager Ciolka erhalten habe. Am 15.03.2008 sei er von der Liste der Bewohner des Flüchtlingscamps gestrichen worden und habe daher keine Unterstützung mehr erhalten bzw. sei es daher unmöglich, dass jemand anderes diese genommen habe. Ciolka sei am 31.03.2008 geschlossen worden.

 

Mit Schreiben vom 03.11.2008 nahm der Beschwerdeführer durch seine rechtsfreundliche Vertreterin Stellung zu diesen Ermittlungsergebnissen und führte aus, dass er auf die Unterstützung und Hilfe seines Bruders R. H. angewiesen sei. Betreffend der Anfragebeantwortung der polnischen Asylbehörden müsse es sich um einen Irrtum handeln, da er zu diesem Zeitpunkt nach Tschetschenien zurückgekehrt sei. Dies werde durch die vorgelegten Originaldokumente belegt. Eine andere Person habe sich im Lager als der Beschwerdeführer ausgegeben und das Taschengeld "kassiert".

 

5. Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 04.11.2008, Zl. 08 04.622-BAL, den Antrag auf internationalen Schutz des (nunmehrigen) Beschwerdeführers neuerlich ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Das Bundesasylamt führte aus, dass nicht glaubhaft sei, dass der Beschwerdeführer das Hoheitsgebiet der Europäischen Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen habe. Die polnischen Behörden hätten zweimal bestätigt, dass er sich bis zum 15.03.2008 jedenfalls im Lager Ciolka aufgehalten habe. Die polnischen Behörden hätten definitiv ausgeschlossen, dass eine andere Person sein Taschengeld oder sein Essen an seiner Stelle konsumiert habe. Die polnischen Behörden hätten vielmehr nun, aufgrund der Kenntnis von der Behauptung des Beschwerdeführers bereits Anfang des Jahres 2008 Polen verlassen zu haben, ihre Zuständigkeit zur Führung seines Asylverfahrens aufgrund Verlassens des Hoheitsgebietes der EU für mindestens drei Monate bestreiten können. Es bestehe kein Zweifel an der Richtigkeit der Auskünfte der polnischen Behörden. Die vorgelegte ärztliche Bestätigung vom 29.01.2008 reiche nicht hin, um von der Richtigkeit seiner Angaben zu überzeugen, zumal notorisch sei, dass es ein Leichtes sei, sich Dokumente mit unrichtigem Inhalt in Russland zu besorgen. Es bestehe zudem kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich aufhältigen Brüdern. Basierend auf dem vorliegenden aktuellen Gutachten von Dr. L. leide der Antragsteller nicht an einer psychischen Erkrankung, welche bei einer Überstellung nach Polen eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde.

 

6. Die nunmehrige Beschwerdevorlage beim Asylgerichtshof erfolgte am 24.11.2008.

 

7. In der Beschwerde wird im Wesentlichen gerügt, dass sich die Behörde nicht aureichend mit dem psychotherapeutischen Bericht von E.K. auseinandergesetzt habe und ein weiteres Gutachten zum psychischen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers einzuholen gewesen wäre. Hinsichtlich des Lagers Ciolka hätten die Aufzeichnungen der Videoüberwachung überprüft werden können und hätten detailliertere Informationen über die Umstände in diesem Lager vom Bundesasylamt eingeholt werden sollen. Hinsichtlich der vorgelegten ärztlichen Bestätigung wären ebenfalls Nachforschungen möglich gewesen. Den polnischen Behörden seien seine Beweismittel nicht vorgelegt worden. Es sei in Polen nicht angefragt worden, ob trotz der vorliegenden Beweismittel die Zustimmungserklärung für die Rückübernahme aufrecht erhalten werde.

 

Der Beschwerde wurde mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 25.11.2008 die aufschiebende Wirkung im Hinblick auf das Erfordernis ergänzender Beweisaufnahmen, auch im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung, zuerkannt.

 

8. Im Zuge der Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung erging an das Bundesasylamt, Außenstelle Linz am 02.12.2008 seitens des Asylgerichtshofes die Aufforderung, eine ausdrückliche Bestätigung der polnischen Behörden dahingehend einzuholen, dass diese die Überstellung des Beschwerdeführers akzeptieren, obwohl jener (die näher zu beschreibenden bzw. zu übermittelnden) Dokumente zum Beweis seines Aufenthaltes in Russland vorgelegt hatte. Aus dem daraufhin vom Bundesasylamt verfassten und an den Gerichtshof übermittelte - Schreiben an die polnischen Behörden vom 03.12.2008 geht wiederum nicht hervor, dass diesen die vom Beschwerdeführer zum Beweis seines Aufenthaltes in Russland vorgelegten Dokumente übermittelt bzw. zumindest beschreibend mitgeteilt worden wären.

 

9. Auf Grund der Beschwerde wurde am 12.12.2008 eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Asylgerichtshof anberaumt, an der der Beschwerdeführer, seine rechtsfreundliche Vertreterin (BFV) und sein Bruder R. H. als Vertrauensperson teilnahmen. Das Bundesasylamt hat am Tag der Verhandlung seine Nicht-Teilnahme entschuldigt, sowie mitgeteilt, dass die polnischen Behörden bezüglich der vorgelegten Beweismittel des Beschwerdeführers nun informiert worden seien (Schreiben werde nachgereicht) und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde Beweis erhoben durch ergänzende Parteienvernehmung des Beschwerdeführers (BF) und Erörterung der vorgelegten Beweismittel:

 

"(...)

 

ER gibt einleitend bekannt, dass die gegenständliche Verhandlung zum Zwecke der Klärung der im Beschluss über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung angesprochenen Themenkreise angesetzt wurde, weitere in der Beschwerde angesprochene Themenkomplexe stellen sich derzeit als geklärt dar.

 

Beginn der Befragung.

 

ER verliest die bisherigen Angaben des BF zu seinen Brüdern in Österreich, As. 405 BAA unten und As. 376 Mitte); gibt es diesbezüglich aus Ihrer Sicht etwas zu ergänzen?

 

BF: Im großen und ganzen sind die Angaben zutreffend. Ich unterhalte zu beiden Brüdern sehr gute Beziehungen, wobei der Grund, dass ich den heute nicht anwesenden Bruder aus Wien nicht so häufig besuche, in den Fahrtkosten liegt. Den heute anwesenden Bruder besuche ich mindestens einmal in der Woche. Er ist wie gesagt erkrankt.

 

ER: Inwiefern wirkt sich der Kontakt mit Ihren Brüdern auf ihren Gesundheitszustand aus?

 

BF: Das beruhigt mich schon sehr. Es ist gut zu wissen, dass ich hier in einem ruhigen Land lebe und meine Brüder, das heißt meine Familie, hier sind.

 

ER: Ihre Brüder haben ja selber eine eigene Familie. Wie kann ich mir da Ihre eigene Beziehung zu Ihren Brüdern vorstellen?

 

BF: Diese Integration in die Familienverbände meiner Brüder ist für mich günstig, so zum Beispiel auch mit den Kindern meiner Brüder.

 

ER: Welche Verwandten haben Sie, die in Polen leben?

 

BF: Es gibt nur einen Cousin, der in Polen war, zu dem ich aber keine Kontakte unterhielt und von dem ich auch jetzt nichts Genaueres mehr weiß. Der in der Einvernahme vom 29.09.2008 in Linz erwähnte invalide Onkel hält sich zur Zeit ebenso in Österreich auf, er hatte aber noch keine Einvernahme.

 

Auf Nachfrage: Mein Bruder in Wien hat derzeit subsidiären Schutz, der heute hier anwesende Bruder den Flüchtlingsstatus.

 

ER: Gibt es irgendwelche Änderungen Ihres Gesundheitszustandes seit der letzten Befragung am 29.09.2008; insbesondere auch hinsichtlich Ihrer Angaben As. 377 unten?

 

BF: Mein Bein tut mir noch immer weh. Ich hinke auch beim Gehen. In Tschetschenien hätte eigentlich, wenn ich 25 Jahre alt geworden wäre, eine Operation stattfinden sollen, doch ist es dazu nicht mehr gekommen. Ich wollte eigentlich hier im November oder Dezember eine Operation durchführen lassen, doch kam dann der negative Bescheid und wurde ich auch deprimiert, sodass die Operation nicht stattgefunden hat.

 

Zu meinem psychischen Zustand: Als ich hierher kam und die Aufenthaltsberechtigungskarte erhielt, ist es mir gut gegangen, da ich auch bei meinen Brüder war. Mit dem Erhalt des zweiten negativen Bescheides im Dezember, begann ich mir dann wieder Sorgen zu machen und hat mich diese Ungewissheit in schwere Unruhe versetzt. Ich bin nicht verrückt, aber habe ich in diesem Zusammenhang große Sorgen. Ich werde jetzt regelmäßig zum Psychiater gehen. Ich habe auch schon Medikamente genommen, die aber nicht ideal waren und versuche ich jetzt neue Medikamente.

 

BFV gibt an, dass die anwesende Vertrauensperson zur Frage der Identität des Familienlebens des BFs als Zeuge aussagen könnte.

 

ER gibt bekannt, dass eine Entscheidung darüber noch vorbehalten bleibt.

 

ER: Schildern Sie bitte im Detail Ihre Ausreise aus Polen nach Tschetschenien im Jänner 2008 und ihre folgenden Aufenthaltsorte bis zu ihrer erneuten Ausreise aus Russland!

 

BF: Ich habe mich im Dezember 2007 nur noch fallweise im Lager Ciolka aufgehalten und bin dann zu Fuß mit zwei anderen illegal über die Grenze nach Brest. Von dort sind wir mit dem Zug nach Moskau und weiter mit dem Bus nach Dagestan. Am 09.Jänner 2008 war ich jedenfalls schon in Tschetschenien. Ich hatte meinen Inlandspass und meinen Armeeausweis mit. Legal konnte ich die Grenze nicht überqueren, da ich sonst das Asylverfahren in Polen einstellen hätte müssen. Ich war aber allein in Polen und hört man immer davon, dass Leute verschwinden und war meine Lage sehr schlecht und dachte ich daher, es sei besser weiter illegal in Tschetschenien zu leben, als in Polen zu bleiben. Von meiner Schwester erfuhr ich aber, dass schon wieder eine Ladung für mich gekommen war. Ich wollte mich dann nicht mehr zu Hause aufhalten und blieb dann bei Freunden und bei einem Onkel. Ich begab mich nach S., da waren Leute aus unserem Heimatdorf, bei denen ich Unterschlupf finden konnte. Es sollte ursprünglich einen Monat dauern, bis meine Schwester genügend Geld für meine Ausreise beschafft hätte, doch dauerte es länger. Am 10. Mai 2008 begab ich mich dann nach Rostov. Ich blieb zuvor in S. bei verschiedenen Familien, mein verstorbener Onkel hatte dort gelebt und hatte er viele Beziehungen. Von Rostov bin ich dann auf die vor dem Bundesasylamt geschilderte Art und Weise nach Österreich gelangt.

 

ER: Wurden Sie während Ihres 5-monatigen Aufenthaltes in Russland (Ihren eigenen Angaben nach) jemals von russischen Organen persönlich kontrolliert?

 

BF: Nein, ich habe es zu vermeiden versucht. Ich bin dann auch nach Rostov mit dem Auto gefahren und nicht mehr mit dem Zug.

 

ER: Beschreiben Sie bitte die von Ihnen diesbezüglich vorgelegten Beweismittel!

 

BFV legt die im Akt in Kopie befindlichen Beweismittel im Original vor.

 

Festgehalten wird zunächst, dass die Bustickets aus der Stadt S. stammen.

 

Die Rechnung (nach Angaben des BF über Lebensmittel) trägt das Datum "18.03.2008" und stammt nach den Angaben des BF ebenfalls aus der Stadt S..

 

ER: Das einzige Beweismittel, aus dem eindeutig hervorzugehen scheint, dass Sie auch vor dem 15.03.2008 in der Russischen Föderation gewesen sind, ist die medizinische Bescheinigung vom 29.01.2008 (Übersetzung bereits im Akt). Wie sind Sie zu dieser Bescheinigung gekommen, insbesondere, da sie zu diesem Zeitpunkt in Tschetschenien Ihren Angaben nach ja schon wieder Verfolgung befürchtet haben!?

 

BF: Bei dem Arzt, der mir diese Bestätigung ausgestellt hat, handelt es sich um einen alten Freund meines Vaters. Ich brauchte sie, damit ich in Tschetschenien die notwenigen Medikamente bekommen konnte. Ich hatte diese Bescheinigung ursprünglich mit der erwähnten Ladung, doch als ich in Rostov nachschaute, fand ich sie nicht mehr. Meine Schwester hatte sie bei mir gefunden und hat sie mir aus Sorge weggenommen. sie hat sie nach ihren eigenen Angaben verbrannt. Wenn es möglich wäre, diesen Arzt anzurufen, könnte er natürlich meine Angaben bestätigen, dass ich mich Ende Jänner 2008 dort tatsächlich befunden habe.

 

Dolmetscherin gibt auf Nachfrage an, dass sich auf der Bescheinigung keine Besonderheiten orthographischer oder sonstiger Natur befinden, die auffällig wären.

 

ER: Wozu dienten die Versicherungsbestätigungen vom 16.03.2008?

 

BF: Wenn mir in S. etwas zugestoßen wäre, hätte man mit dem Geld meinen Körper nach Tschetschenien überführen sollen. Befragt, warum ich diese Versicherung gerade zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen habe, gebe ich an, ursprünglich hätte ich ja nur ein Monat in S. bleiben sollen, dann erwies sich die genaue Aufenthaltsdauer als zunehmend unsicher und habe ich daher diese Versicherung abgeschlossen.

 

ER: Laut der Auskunft der polnischen Asylbehörde waren Sie vom 11.10.2007 bis 15.03.2008 in Ciolka aufhältig und wären erst dann von der Liste der dort Aufhältigen gestrichen worden. In dieser Zeit hätten Sie auch Taschengeld dort erhalten.

 

Nehmen Sie dazu bitte Stellung!

 

BF: Ich war nach Dezember 2007 nie mehr in diesem Lager. Ich habe dort auch nie Taschengeld bezogen. Diesbezüglich hätte ich auch etwas unterschreiben müssen, was ich aber nicht getan habe. Man wird dort mit Sicherheit meine Unterschrift nicht finden. Auch die von mir erwähnten Videoaufzeichnungen würden belegen, dass ich nach Dezember 2007 nicht mehr dort war. Bei der Erstanmeldung in diesem Lager musste ich sicher etwas unterschreiben und wurde ich auch registriert und sind mir die genauen Umstände nicht mehr ersichtlich. Das letzte Mal war ich am 31. Dezember im Lager, schon auf den Weg zur Grenze, habe dort aber nicht übernachtet, sondern mich nur noch von einigen Leuten verabschiedet. Ich hatte schon ein eigenes Bett in einem 4-Bett-Zimmer, doch waren dort tatsächlich bis zu 12 Leute aufhältig, die Lagerleitung hat nicht genau überprüft, wer dort war und wer nicht. Einer aus meinem Zimmer kann sicher bestätigen, dass ich dort war. Ich habe mich auch von Leuten aus dem Zimmer verabschiedet.

 

ER: Wäre es nicht zu erwarten, dass die Leute aus Ihrem Zimmer die Lagerleitung verständigt hätten, dass Sie fort sind?

 

BF: Ich glaube nicht, dass einer von ihnen der Lagerleitung das mitgeteilt hatte. Eigentlich wurde ja gar kein Bett frei, weil ich dort ja nicht übernachtet hatte und tatsächlich bis zu 12 Leute im Zimmer waren. Die Lagerleitung hat sich wie gesagt auch nicht für uns Tschetschenen besonders interessiert. Von den Leuten, von denen ich mich im Lager persönlich verabschiedet hatte, ist jetzt niemand in Österreich. Ich habe aber meinen damals noch in Polen befindlichen Onkel angerufen und ihm gesagt, dass wir uns länger nicht mehr sehen, da ich Polen verlassen würde. Aus Sicherheitsgründen habe ich ihm nicht gesagt, dass ich nach Tschetschenien gehen wollte.

 

BFV gibt informativ an, dass sich die anwesende Vertrauensperson ihres Wissens nach nach Polen begeben hat und ebenso versucht hatte, von den polnischen Behörden und auch von einer NGO eine ausdrückliche Bestätigung zu erlangen, dass der BF in der fraglichen Zeit nicht in Polen war. Dies sei aber nicht gelungen.

 

Die anwesende VP bestätigt dies vorläufig informativ und ergänzt, dass ihm von der Sozialberatung bei der polnischen Asylbehörde in Warschau sogar mitgeteilt worden ist, dass man wisse, dass der BF nicht mehr in dem Lager aufhältig gewesen war, dies aber nicht formell bestätigen könne, weil keine formelle Antragszurückziehung vorgelegen ist. Er hatte sogar den Verdacht, dass die polnischen Behörden das Taschengeld meines Bruders, wie auch anderer Personen zu Unrecht sich selbst angeeignet hätten.

 

ER unterbricht die Verhandlung von 15.00 Uhr bis 15.10 Uhr zwecks Erholungspause.

 

ER hält fest, dass sich aus der bisherigen Aktenlage ergibt, dass das BAA der Begründung im Vorerkenntnis des AsylGH vom 14.07.2008 nicht hinreichend Rechnung getragen hat, als die Beweismitteln den polnischen Behörden nicht mitgeteilt worden sind. Sofern das BAA mit Schreiben vom heutigen Tag mitgeteilt hat, dass nunmehr die polnischen Behörden bezüglich der vorgelegten Beweismittel zum Beweis der Rückkehr des Antragstellers informiert worden seien und ein diesbezügliches Schreiben nachgereicht werde, hält ER weiter fest dass die Vorgangsweise unter Berücksichtigung der Bedeutung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung und des Umstandes, dass das Bundesasylamt zuletzt und zum wiederholten Male am 05.12.2008 davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass dem Auftrag des Asylgerichtshofes im Vorerkenntnis vom 14.07.2008 weiterhin nicht nachgekommen worden ist, bedenklich erscheint.

 

ER: Haben Sie während Ihres Aufenthaltes in S. mit Ihren Brüdern in Österreich kommuniziert?

 

BF: Als ich noch in Tschetschenien war, haben wir nicht direkt kommuniziert. Das Telefon meiner Schwester wird möglicherweise abgehört. Als ich dann in S. war, hatten wir, das heißt ich und mein heute hier anwesender Bruder, wöchentlichen telefonischen Kontakt.

 

Die anwesende VP bestätigt dies. Mein Bruder hat wegen mir Probleme bekommen und fühle ich mich für ihn verantwortlich.

 

ER hälft fest, dass die vom BAA zitierte Berichtslage über Polen im Allgemeinen weiterhin aktuell ist und eine taugliche Entscheidungsgrundlage darstellt.

 

BFV: Ich beantrage erstens, das Bundesasylamt dazu zu veranlassen, die Originaldokumente, die der BF heute vorgelegt hat, an Polen zu übermitteln, da dies eine bessere Beurteilungsgrundlage für die polnischen Behörden zum Beweis dafür, dass sich der BF länger als 3 Monate außerhalb der Europäischen Union aufgehalten hat, darstellt. (sofern nicht ohnehin bereits von Entscheidungsreife ausgegangen wird.)

 

Ich beantrage weiters, den heute hier anwesenden Bruder des BF zeugenschaftlich dahingehend einzuvernehmen, dass er bestätigen kann, dass telefonischer Kontakt zum BF in S. bestanden hat.

 

Ich beantrage drittens, den nun auch in Österreich aufhältigen Onkel des BF (Personalien können jederzeit angegeben werden) dahingehend zeugenschaftlich zu vernehmen, dass er bestätigen kann, dass der BF am 31.12.2007 mit ihm bezüglich seiner Ausreise aus Polen gesprochen hat.

 

ER fragt den BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will:

 

BF: Ich verweise auf meine Ausführungen, As. 377 BAA Mitte - bezüglich meiner Befragung durch polnischen Grenzbehörden, bei meiner ersten Einreise nach Polen. Mein Bruder hat auch eine Warnung von in Polen lebenden Tschetschenen erhalten. Wie gesagt, befürchte ich, dass die polnischen Behörden diesbezüglich mit den weißrussischen und russischen Behörden zusammenarbeiten.

 

ER gibt bekannt, dass die Originaldokumente, die der BF heute vorgelegt hat, vorläufig einbehalten werden, jedoch im Rahmen der Enderledigung zurückerstattet werden.

 

ER gibt ferner bekannt: Die Beweisanträge werden mangels Entscheidungsrelevanz, bzw. mangels Erheblichkeit abgewiesen; die nähere Begründung erfolgt im verfahrenserledigenden Erkenntnis.

 

ER gibt ferner bekannt, dass, sofern das BAA im Zusammenhang mit dem heutigen Schreiben weiteres Vorbringen erstattet, bzw. weitere Dokumente vorlegen würde, dies ehebaldigst erfolgen sollte; aus jetziger Sicht einer derartigen Vorlage aber keine ausschließliche Entscheidungsrelevanz mehr zukäme.

 

ER gibt weiters bekannt, dass die Erlassung des verfahrenserledigenden Erkenntnisses jedenfalls noch im Jahr 2008 in Aussicht genommen ist.

 

ER fragt den BF, ob er die Dolmetscherin gut verstanden habe; dies wird bejaht.

 

(...)".

 

10. Am 12.12.2008 langte beim Asylgerichtshof per Fax ein neues Schreiben der EAST West an die polnischen Behörden vom 12.12.2008 ein, mit welchem diese darüber informiert wurden, dass der Beschwerdeführer den österreichischen Behörden plausible Beweise ("plausible evidences and proofs") für seine Rückkehr von Polen nach Russland im Jahr 2008 vorgelegt habe. Die gegenständliche Verhandlungsschrift wurde dem BAA noch am 12.12.2008 per Fax übermittelt, weiteres Vorbringen/weitere Vorlagen seitens der Erstbehörde erfolgten bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Anzuwenden war das AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der geltenden Fassung (im Folgenden: "AsylG 2005"), das AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der geltenden Fassung und das ZustG, BGBl. Nr. 200/1982 in der geltenden Fassung.

 

Gemäß § 9 Abs. 1 AsylGHG, BGBl. I Nr. 4/2008 in der geltenden Fassung entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, soweit eine Entscheidung durch einen Einzelrichter oder Kammersenat nicht bundesgesetzlich vorgesehen ist. Gemäß § 60 Abs. 3 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide nach den §§ 4 und 5 AsylG 2005 und nach § 68 AVG durch Einzelrichter. Gemäß § 42 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartender Verfahren stellt, sowie gemäß § 11 Abs. 4 AsylGHG, wenn im zuständigen Senat kein Entscheidungsentwurf die Zustimmung des Senates findet durch einen Kammersenat. Im vorliegenden Verfahren liegen (Verfahren nach § 5 AsylG) die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter vor.

 

2. Feststellungen:

 

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 27.05.2008 den gegenständlichen (zweiten) Asylantrag in Österreich. Polen hat sich mit Schreiben vom 11.06.2008 gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II-VO für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

Der Beschwerdeführer ist nach seinem ersten Asylverfahren in Österreich und Rücküberstellung am 10.09.2007 von Österreich nach Polen um den 31.12.2007 jedoch für mehr als drei Monate aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgereist, wodurch die Verpflichtung Polens zur Prüfung seines Asylantrages erlosch.

 

Der Beschwerdeführer reiste von Polen über Weißrussland und Moskau nach Tschetschenien zurück. Dort hielt er sich einige Wochen auf und reiste im Februar 2008 nach S., wo er sich bis zu seiner wiederholten Einreise in die Europäische Union - auf zur Zeit nicht näher feststellbarem Weg bis nach Österreich - im Mai 2008 befand

 

Einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen würden weder psychische noch physische Störungen bzw. Krankheiten entgegenstehen, die bei einer Überstellung aus ärztlicher Sicht eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würden.

 

Der Beschwerdeführer hat in Österreich zwei Bruder, welchen Flüchtlingsstatus bzw. subsidiärer Schutz gewährt wurde. Der Beschwerdeführer lebt mit diesen Brüdern nicht im gemeinsamen Haushalt. Es besteht kein finanzielles oder sonstiges (etwa auch medizinisch indiziertes) Abhängigkeitsverhältnis. Es besteht Kontakt in Form von regelmäßigen Telefonaten und Besuchen.

 

3. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und den Angaben des Beschwerdeführers im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vom 12.12.2008.

 

3.1. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und seiner familiären Situation:

 

Im vorliegenden Fall wäre der Feststellung des Bundesasylamtes, wonach der Beschwerdeführer weder an einer schweren körperlichen Krankheit, noch an einer psychischen Erkrankung leidet, welche bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde, nicht entgegenzutreten. Es konnten vom Beschwerdeführer auch im Beschwerdeverfahren keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung nach Polen belegt werden, respektive die Notwendigkeit weitere Erhebungen seitens des Asylgerichtshofes. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf einen aktuellen existenzbedrohenden Zustand, auch unter vollem Einschluss des psychotherapeutischen Kurzberichtes von E.K., ersichtlich. Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass nicht relevant wäre, ob PTSD oder eine andere psychische Krankheit beim Beschwerdeführer vorliegt, sondern ob gerade die Überstellung in einen konkreten anderen Mitgliedstaat der EU unzumutbare, Art. 3 EMRK verletzende Auswirkungen hatte. Substantiierte Hinweise auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK bei einer Überstellung nach Polen hätten sich jedoch selbst aus dem vom Beschwerdeführer diesbezüglich vorgelegten Beweismittel wie dargestellt nicht ergeben. Aufgrund der dem erstinstanzlichen Bescheid zugrunde gelegten aktuellen Feststellungen über die Versorgungslage in Polen, wäre es dem Beschwerdeführer auch möglich, gegebenenfalls medizinische Behandlung in Polen zu erlangen und sich der erwähnten Beinoperation zu unterziehen (vgl insbesondere die Aussage des deutschen BAMF vom 18.02.2008 - Seite 20 des Bescheides des Bundesasylamtes). Der Beschwerdeführer schilderte in der Beschwerdeverhandlung, dass sich sein psychischer Zustand einerseits mit der zunehmenden Ungewissheit um seinen Verbleib in Österreich verschlechtere und andererseits durch den Kontakt mit seinen Brüdern verbessere. Letzteres beruhige ihn. Diese Umstände allein sind jedoch im Sinne der strengen Judikatur des EGMR bei weitem nicht ausreichend um eine Art. 3 EMRK-Relevanz des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers darzutun und wäre dennoch von Überstellungsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen.

 

Darüber hinaus wurde auch zu Recht eine außergewöhnliche Nahebeziehung im Sinne eines exzeptionellen humanitären Abhängigkeitsverhältnisses zu den ebenso in Österreich aufhältigen und aufenthaltsberechtigten Brüdern des Beschwerdeführers vom Bundesasylamt nicht festgestellt. So besteht kein gemeinsamer Haushalt und ist den Angaben des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung kein dem gleichzuhaltendes Naheverhältnis oder eine finanzielle Abhängigkeit zu entnehmen. Die in der Beschwerdeverhandlung geschilderten Umstände, dass der Beschwerdeführer seine Brüder gelegentlich bzw. mindestens einmal die Woche besuche und der Kontakt mit den Brüdern und deren Familie ihn beruhige, stellen keine derart außergewöhnliche Situation dar, dass eine Familienzusammenführung menschenrechtlich zwingend erforderlich wäre. Es wurde auch nicht dargetan, dass ohne Unterstützung durch die Brüder für den Beschwerdeführer ein existenzbedrohender Zustand einträte. Der geschilderte Kontakt mit den Brüdern würde demnach nicht ausreichen, um die Ausweisung als Eingriff in die Ausübung des Rechtes nach Art. 8 EMRK erscheinen zu lassen, dies auch unter Einschluss des Umstandes des beeinträchtigten Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers

 

3.2. Zur Feststellung wonach der Beschwerdeführer mehr als drei Monate aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgereist ist:

 

Aufgrund der Ergebnisse des Beschwerdeverfahrens ist den Ausführungen des Bundesasylamtes, wonach, infolge der Bestätigung der polnischen Behörden, dass sich der Beschwerdeführer bis zum 15.3.2008 im Lager Ciolka aufgehalten habe, nicht glaubhaft sei, dass er sich mehr als drei Monate außerhalb des Hoheitsgebietes der Europäischen Mitgliedstaaten aufgehalten habe, nicht zuzustimmen. Das Bundesasylamt hat sich insbesondere nicht mit der vorgelegten ärztlichen Bestätigung vom 29.01.2008 beweiswürdigend auseinandergesetzt, sondern lediglich pauschal darauf verwiesen, dass notorisch sei, dass man sich leicht solche inhaltlich unrichtigen Dokumente in Russland besorgen könne. Für den Asylgerichtshof sind jedoch keine augenscheinlichen Hinweise darauf ersichtlich, dass es sich bei den vorgelegten Beweismitteln des Beschwerdeführers um Fälschungen handeln würde (siehe auch Angaben der Dolmetscherin auf Seite 5 der Verhandlungsschrift). Der Beschwerdeführer konnte in der Beschwerdeverhandlung die Herkunft der ärztlichen Bescheinigung zudem authentisch und nachvollziehbar scheinend erklären. Des Weiteren gab der Beschwerdeführer eine schlüssige Erläuterung zum Abschluss der Versicherungspolizze in S.. Darüber hinaus bot der Beschwerdeführer die Überprüfung seiner Angaben durch telefonische Nachfrage bei dem die Bescheinigung ausgestellt habenden Arzt an. Sowohl in diesem Angebot als auch in den weiteren Vorschlägen des Beschwerdeführers selbst, sein Vorbringen zu überprüfen (so etwa durch die Aufzeichnungen der Video-Überwachung des Lagers Ciolka oder durch Befragung von Personen, von welchen er sich am 31.12.2007 im Lager verabschiedet habe) sieht der Asylgerichtshof ein maßgebliches Indiz für die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer schilderte seine Verabschiedung im Lager und die zu diesem Zeitpunkt dort herrschenden Verhältnisse detailliert und ausführlich.

 

Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer bzw. auch der Vertrauensperson aufgestellten Vermutung, dass die polnischen Behörden willkürlich angegeben hätten, dass er sich bis 15.03.2008 im Lager Ciolka aufgehalten habe und eine andere Person sein Taschengeld eingesteckt habe, ist dagegen auszuführen: Aufgrund der dem Bescheid des Bundesasylamtes zugrunde gelegten umfangreichen aktuellen Feststellungen zu Polen, erscheint nicht plausibel, dass in polnischen Aufnahmezentren und Flüchtlingslagern grundsätzlich chaotische Zustände herrschen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass in Zeiten erhöhter Belastungen es zu administrativen Fehlern kommen kann. So ist denkbar, dass aufgrund der vom Beschwerdeführer glaubwürdig geschilderten Überbelegung des Lagers Ciolka zum damaligen Zeitpunkt die Streichung des Beschwerdeführers aus der Liste der Bewohner des Lagers aus nicht näher feststellbaren Gründen erst verspätet erfolgte. Nach Ansicht des Asylgerichtshofes deuten die Erklärungen der polnischen Behörden aufgrund ihrer unbestimmten Formulierung ("On 15 March 2008 the alien was crossed out from the list of refugee camp residents.") - entgegen der Ansicht des Bundesasylamtes - nicht definitiv darauf hin, dass der Beschwerdeführer jedenfalls bis 15.03.2008 im Lager anwesend war. Auch gaben die polnischen Behörden keine exakte Auskunft darüber, zu welchen genauen Terminen dem Beschwerdeführer das Taschengeld von 10,00 PLN ausgefolgt worden sei und führten sie lediglich aus, dass nach dem 15.03.2008 jedenfalls keine andere Person sich dessen Unterstützung nehmen hätte können (da ja bereits keine mehr gewährt worden sei, da der Asylwerber aus der Liste der Bewohner gestrichen worden sei). Aus den Auskünften der polnischen Behörde ist demnach entgegen der Ansicht des Bundesasylamtes nicht der Schluss zu ziehen, dass die polnischen Behörden offensichtlich zu 100 % sicher seien, dass er bis 15.03.2008 im Lager aufhältig gewesen sei. Der Verdeutlichung halber sei noch einmal betont, dass der Asylgerichtshof nicht davon ausgeht, dass die polnischen Behörden bzw. die polnische Lagerleitung bewusst unkorrekte Angaben tätigte, sondern ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass letzterer die tatsächliche Abreise des Beschwerdeführers aufgrund nicht näher feststellbarer Umstände (etwa aufgrund administrativer Überlastung) nicht bekannt war, und deren Angaben im Schriftverkehr mit dem Bundesasylamt daher so zu verstehen sind, dass am 15.03.2008 lediglich erkannt wurde, dass der Beschwerdeführer im Lager nicht mehr anzufinden sei. Der Asylgerichtshof geht nicht davon aus, dass Mitarbeiter der polnischen Behörden das Taschengeld des Beschwerdeführers zweckwidrig verwendeten und aufgrund dessen wahrheitswidrige Angaben tätigten.

 

Der Asylgerichtshof folgert aufgrund dargestellter Erwägungen somit, dass sich der Beschwerdeführer von Anfang Jänner 2008 bis zu seiner Wiedereinreise im Mai 2008 außerhalb des Hoheitsgebietes der Mitgliedstaaten aufhielt (somit mehr als drei Monate). Unter diesem Gesichtspunktes kann den in der Beschwerdeverhandlung gestellten Beweisanträgen keine Entscheidungsrelevant mehr zu. Der zweite Beweisantrag war zudem grundsätzlich nicht geeignet, verfahrenserhebliche Beweisergebnisse zu erzielen, da telefonische Kontakte kein hinreichend intensives Familienleben belegen können und für sich genommen weder telefonische Kontakte noch (zum dritten Beweisantrag) Gespräche am 31.12.2007 einen dauerhaften Aufenthalt von mehr als drei Monaten in Russland beweisen hätten können (anders wie dargestellt die Gesamtschau aller Verfahrensergebnisse zu diesem Themenkomplex).

 

4. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

4.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs 1 Z1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs 3 und Abs 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

4.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw 14 und Art. 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass Polen für den ersten Asylantrag nach Art 13 VO 343/2003 (oder jedenfalls durch dessen materielle Bearbeitung) zuständig iSd Art 16 Abs 1 VO 343/2003 geworden ist. Eine solche Zuständigkeit, die unter anderem zur Wiederaufnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen verpflichtet, endet unter anderem, wenn der Betreffende gemäß Art 16 Abs 3 VO 343/2003 das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten länger als drei Monate verlässt. Diesfalls wäre der verfahrensgegenständliche in Österreich gestellte (neuerliche) Asylantrag ein solcher im Sinne des Art 4 Abs 1 VO 343/2003 und daher keine geeignete Grundlage eines Wiederaufnahmeersuchens.

 

4.1.3. Ein derartiges Vorbringen hat der Beschwerdeführer erstattet und wird dieses vom Asylgerichtshof für glaubwürdig erachtet (siehe Punkt II.3.2). Obgleich der Asylgerichtshof nicht verkennt, dass derartige Angaben zwecks Vereitelung des Zuständigkeitssystems der Dublin II VO auch missbräuchlich erstattet werden, kann nicht von vorneherein - und insbesondere auch bei Vorliegen von Beweismitteln - von deren Unglaubwürdigkeit ausgegangen werden; dies gilt auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen im Vollzug der Dublin II VO:

Grundsätzlich erfordert eine Vollziehung des Art 16 Abs 3 Dublin II VO ohne das Vorliegen von Beweisen im formellen Sinn eine gute Kooperation auf der Basis von Vertrauensbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Einerseits können nämlich Fragen des Beweisstandards letztlich nur schwer durch ein alle Eventualitäten abdeckendes rechtliches Regelwerk gelöst werden, andererseits lassen auch die Beweisregeln der Dublin II VO, wie schon jene des DÜ, Interpretationsspielraum offen (vgl Filzwieser, Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit der erweiterten Anwendung des Dublinverfahrens auf die neuen Mitgliedstaaten, AWR 1/2005, 59f). Es wäre aber jedenfalls unzulässig, Angaben des Asylwerbers nur deshalb abzulehnen, weil keine formellen Beweise vorhanden sind; auch wenn es zutreffen mag, dass Asylwerber in Zuständigkeitsverfahren oftmals unwahre Angaben machen (auch in der Absicht, eine Überstellung in den tatsächlich zuständigen Mitgliedstaat zu verhindern), so dürfen doch - auch unbelegte - Angaben von Asylwerbern schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht automatisch als unwahr, respektive ohne Beweiswert abgetan werden - siehe zur vergleichbaren Problematik der Anwendung des Art 10 VO 343/2003, Dublin II Kontaktausschuss, 01.03.2005 Minutes , P. 4.4.2.: "... In case additional (formal) evidence supporting the statement of the applicant for asylum is absent, the requesting MS should make all reasonable efforts to obtain detailed statements (concerning the travel route) from the applicant for asylum, for instance through asking detailed questions during an interview, so that the requested MS can decide on its responsibility. Experts agree, that, in return, the requested MS shall not refuse responsibility solely on the basis of the absence of (formal) additional evidence (supporting the alleged travel route) in case the statements from the applicant are detailed, coherent and in line with general knowledge (about travel routes) or common sense."; vgl ferner Dublin II Kontaktausschuss, 11.10.2005, Minutes, P. 4.6. Umso weniger gilt das im vorliegenden Fall; zur Beurteilung der in der Beschwerdeverhandlung im Original vorlegten Beweismittel/Indizien siehe oben Punkt II.3.2.

 

4.1.4. Verfahrensgegenständlich liegen zum Entscheidungszeitpunkt zudem die Voraussetzungen für die Annahme eines grob fehlerhaften Konsultationsverfahrens weiterhin vor, da der Umstand, dass der Beschwerdeführer angegeben hatte, länger als drei Monate die EU verlassen zu haben, Polen zunächst zwar mitgeteilt worden war, die näheren Ausführungen des Beschwerdeführers und die Beweismittel hiezu aber nicht erwähnt/ergänzt wurden, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Polen in Kenntnis dieser Umstände (und in Ermangelung einer schlüssigen Erklärung für die angenommene Unglaubwürdigkeit) keine Zustimmung erteilt hätte. Auch sämtliche weiteren Mitteilungen des Bundesasylamtes an die polnischen Behörden gaben diesen keine vollständigen Informationen über die vorgelegten Beweismittel des Beschwerdeführers (so erweckt das letzte Schreiben des BAA vom 12.12.2008 sogar den Eindruck ("plausible"), dass das BAA nunmehr die vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel für seine Rückkehr nach Russland für glaubwürdig erachtet (völlig gegen die bisher vertretene Rechtsansicht), ohne dass den polnischen Behörden jedoch die konkreten Beweismitteln mitgeteilt worden wären, ebenso wurden sie nicht darüber in Kenntnis gesetzt, wann der Beschwerdeführer im Jahr 2008 nach Russland zurückgekehrt sein soll).

 

Das Bundesasylamt hat den im Erkenntnis des Asylgerichtshofes gemäß § 41 Abs. 3 AsylG festgestellten groben Mangel des Konsultationsverfahrens demnach bis dato nicht hinreichend saniert. Aus diesem Grund wäre weiterhin zweifelhaft, ob die - auf Basis qualifiziert unvollständiger Informationen ergangene - Zustimmungserklärung Polens Bestand haben kann. Aufgrund des Umstandes, dass sich im Rahmen der Beschwerdeverhandlung aber unabhängig davon die Glaubwürdigkeit der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Russland für über 3 Monate herausstellte, können nunmehr abschließend Überlegungen über die Mangelhaftigkeit des Konsultationsverfahrens dahingestellt werden und ist auch eine allfällige nochmalige Antwort der polnischen Dublin-Behörden nicht mehr abzuwarten, da Entscheidungsrelevanz vorliegt.

 

5. Da das gegenständliche Verfahren aufgrund des Erkenntnisses des Asylgerichtshofes vom 14.7.2008, GZ. S1 314.137-2/2008/2E bereits zugelassen wurde, war nach § 66 Abs. 4 AVG vorzugehen. Mit Rechtskraft dieses Bescheides wird der Asylantrag des Beschwerdeführers in der Außenstelle Linz des Bundesasylamtes inhaltlich zu prüfen sein. Eine neuerliche Unzuständigkeitsentscheidung gemäß § 5 AsylG kommt bei der gegebenen Sachlage nicht mehr in Frage, da der Asylgerichtshof vom Vorliegen der Vorraussetzungen des Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO ausgeht.

Schlagworte
Behebung der Entscheidung (ab 08.09.2008), Beweise, dauernder Aufenthalt, Zustimmungserfordernis
Zuletzt aktualisiert am
11.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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