TE Vwgh Erkenntnis 2001/7/27 96/08/0306

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Veröffentlicht am 27.07.2001
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASVG §101;
ASVG §184 Abs3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des Ing. H in W, vertreten durch Dr. Martin Benning, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Bauernmarkt 6, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 7. Mai 1996, Zl. 120.090/6-7/96, betreffend Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG (mitbeteiligte Partei: Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von S 565,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der am 16. Oktober 1939 geborene Beschwerdeführer erlitt am 20. Dezember 1956 im Rahmen seiner Beschäftigung einen Unfall. Mit Bescheid der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt vom 14. Dezember 1957 wurde dieser Unfall gemäß § 175 Abs. 1 ASVG als Arbeitsunfall anerkannt und entsprechend der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Rente in Höhe von 60 % der Vollrente gewährt.

Über Antrag des Beschwerdeführers wurde die aus Anlass des Unfalls gewährte Versehrtenrente (samt Zusatzrente) mit Bescheid der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt vom 29. Juni 1967 gemäß § 184 Abs. 2 ASVG mit S 126.403,20 zur Hälfte abgefunden. Ab 1. August 1967 wurde an den Beschwerdeführer nur mehr die halbe Rente samt Zusatzrente in Höhe von insgesamt S 564,40 monatlich ausbezahlt.

Am 19. August 1975 machte der Beschwerdeführer bei der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt eine Verschlimmerung der Unfallfolgen geltend.

Mit Bescheid vom 29. Oktober 1975 wurde daraufhin dem Antrag des Beschwerdeführers Folge gegeben und seine Rente (von 60 % der Vollrente) auf 75 % erhöht. Unter Berücksichtigung der Teilabfindung und aller gesetzlichen Erhöhungen wurde die monatliche Rente mit S 1.371,30 und die Zusatzrente mit monatlich S 274,30, somit insgesamt S 1.645,60 bestimmt. Begründend führte die Unfallversicherungsanstalt aus, auf Grund der (im Einzelnen angeführten Beschwerden) sei eine wesentliche Verschlimmerung des Zustandes der Unfallfolgen eingetreten.

Mit Bescheid vom 30. November 1995 wies der im Devolutionsweg zuständig gewordene Landeshauptmann von Wien den Antrag des Beschwerdeführers vom 29. September 1994 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG betreffend den Abspruch des Bescheides der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt vom 29. Oktober 1975 als unbegründet ab.

Nach der Begründung habe der Beschwerdeführer seinen Antrag vom 29. September 1994 im Wesentlichen damit begründet, dass ihm eine Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 5. Jänner 1984, SSV 24/2, bekannt geworden sei. Aus dieser ergebe sich, dass die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt seine mit Bescheid vom 29. Oktober 1975 zuerkannte Rente unrichtig berechnet habe. Ausgehend von einer falschen Auslegung des § 184 Abs. 3 ASVG sei seine Rente zu gering bemessen worden.

Der Landeshauptmann teilte diese Auffassung nicht. Die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen gemäß § 101 ASVG setze nämlich einen wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen bei der Erlassung des Bescheides voraus. Die bloße Änderung der Rechtsprechung - wie im vorliegenden Fall - mache die Anwendung des § 101 ASVG nicht zulässig. Nach der Aktenlage sei die Berechnung der Rente des Beschwerdeführers durch die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt nach der damals üblichen Praxis, auch jener der Gerichte, erfolgt. Dies ergebe sich auch aus der vorgelegten Entscheidung des OLG Wien. Die erst später erfolgte Änderung der Rechtsprechung sei für die Unfallversicherungsanstalt zum damaligen Zeitpunkt nicht vorhersehbar gewesen.

Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit dem angefochtenen Bescheid keine Folge gegeben.

Nach Auffassung der belangten Behörde sei im Beschwerdefall strittig, ob § 101 ASVG Anwendung finden könne, wenn eine Rechtsfrage nach Rechtskraft einer Entscheidung durch eine Instanz anders entschieden werde. Die zu berichtigende Entscheidung der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt (Bescheid vom 29. Oktober 1975) sei auf § 184 Abs. 3 dritter Satz ASVG (in der damals anzuwendenden Fassung) gestützt worden. Danach werde die auf Grund einer Verschlimmerung zuzuerkennende Rente "um den Betrag gekürzt, welcher der Berechnung der Abfindung zu Grunde gelegt wurde." Die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt habe diese Bestimmung so ausgelegt, dass damit die Berücksichtigung der abgefundenen Rente über den ihr entsprechenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gemeint sei. Der Beschwerdeführer gehe hingegen davon aus, dass die Berücksichtigung der abgefundenen Rente mit dem ihr zu Grunde gelegten Schillingbetrag zu erfolgen habe. Es treffe zu, dass das OLG Wien in seiner Entscheidung SSV 24/2 die Auffassung des Beschwerdeführers vertreten habe. Im Beschwerdefall sei jedoch lediglich die Frage zu entscheiden, ob die andere Art der Berechnung durch die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt als ein "offenkundiges Versehen" im Sinne des § 101 ASVG zu werten sei. Davon könne nach der Rechtsprechung allerdings nur dann gesprochen werden, wenn eine klare und eindeutige gesetzliche Bestimmung unrichtig ausgelegt worden sei. § 184 Abs. 3 letzter Satz ASVG könne zwar auch so interpretiert werden, wie der Beschwerdeführer meine. Für die Auslegung durch die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt könne allerdings die Wendung "... welcher der Berechnung der Abfindung zu Grunde gelegt wurde" ins Treffen geführt werden, da der Begriff "Berechnung" auf den ihr zu Grunde liegenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit hinweise. Der Wille des Gesetzgebers habe offensichtlich auch für die Version der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt gesprochen, da - als Konsequenz der anders lautenden Auslegung durch das OLG Wien - § 184 Abs. 3 leg. cit. durch die 44. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 609/1987, textlich anders gefasst worden sei. Diese Bestimmung habe nun folgenden Inhalt: "Die neu zu bemessende Rente wird um den Betrag gekürzt, der dem Grad der der abgefundenen Rente zu Grunde gelegten Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht." Im Beschwerdefall liege jedenfalls keine "klare und eindeutige" gesetzliche Bestimmung vor. Es sei daher kein Anwendungsfall des § 101 ASVG gegeben.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhobene Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen. Sie beantragt, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt hat eine Gegenschrift erstattet, in der beantragt wird, der Beschwerde keine Folge zu geben. Der Beschwerdeführer hat darauf repliziert.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 101 ASVG lautet:

"Ergibt sich nachträglich, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen."

In der Beschwerde wird der Sache nach ein offenkundiges Versehen der belangten Behörde bei der Anwendung des § 184 Abs. 3 dritter Satz ASVG in der Fassung vor der 44. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 609/1987, behauptet.

Versehen bedeutet mangelnde Sorgfalt, die sich sowohl auf die Ermittlung des Sachverhaltes wie auch auf die rechtliche Beurteilung beziehen, also auch einen Rechtsirrtum bedeuten kann. Ein offenkundiges Versehen liegt aber nur dann vor, wenn eine klare und eindeutige gesetzliche Bestimmung unrichtig ausgelegt wurde und dies redlicherweise nicht bestritten werden kann (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 20. September 2000, Zl. 95/08/0094, mit Hinweis auf Judikatur und Literatur). Ein offenkundiges Versehen im Sinne des § 101 ASVG liegt hingegen nicht vor, wenn das Ergebnis einer komplizierten rechtlichen Beurteilung unzutreffend sein sollte (vgl. dazu etwa das Erkenntnis vom 16. Februar 1999, Zl. 97/08/0542).

§ 184 Abs. 3 ASVG in der im Beschwerdefall anzuwendenden Stammfassung (vor der 44. ASVG-Novelle) lautete:

"(3) Der Anspruch auf Rente besteht trotz der Abfindung, solange die Folgen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit nachträglich eine wesentliche Verschlimmerung erfahren. Als wesentlich gilt eine Verschlimmerung nur, wenn durch sie die Erwerbsfähigkeit des Versehrten für länger als drei Monate um mehr als 10 v.H. weiter gemindert wird. Die Rente wird um den Betrag gekürzt, welcher der Berechnung der Abfindung zu Grunde gelegt wurde."

Die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt hat bei der Erlassung ihres Bescheides vom 29. Juni 1967 bei der Auslegung des Wortes "Betrag" im § 184 Abs. 3 dritter Satz ASVG die Auffassung vertreten, dass nach Abfindung einer Versehrtenrente im Falle einer Verschlimmerung die abgefundene Rente mit dem Hundertsatz zu berücksichtigen ist, mit dem sie als Teil der Vollrente gewährt wurde.

Dem gegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, dass das Wort "Betrag" wörtlich auszulegen sei, weshalb die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt seine auf Grund einer Verschlimmerung gewährte Versehrtenrente (nur) um den Betrag von S 564,30, der der Berechnung der Abfindung zu Grunde gelegt worden war, hätte kürzen dürfen, nicht aber den ermittelten Hundertsatz um jenen, der der Abfindung zu Grunde lag.

Für seine Ansicht, dass § 184 Abs. 3 dritter Satz ASVG von der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt unrichtig ausgelegt worden ist, verweist der Beschwerdeführer auf die Entscheidung des OLG Wien vom 5. Jänner 1984, SSV 24/2, in der zur inhaltlich der dem § 184 Abs. 3 ASVG entsprechenden Bestimmung des § 95 Abs. 3 B-KUVG die Auffassung vertreten worden ist, dass das Wort "Betrag" wörtlich auszulegen sei:

"Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass nach Abfindung einer Versehrtenrente im Falle einer Verschlimmerung die abgefundene Rente mit dem Hundertsatz zu berücksichtigen ist, mit dem sie als Teil der Vollrente gewährt wurde, hätte er dies zum Ausdruck bringen können und müssen. So spricht er aber ausdrücklich von dem Betrag, welche der Berechnung der Abfindung zu Grunde gelegt wurde; dies offenbar auch mit voller Absicht, weil bei der nach versicherungsmathematischen Grundsätzen vorgenommenen Berechnung des Abfindungskapitals ... auf die grundsätzlich auch im Bereich des B-KUVG vorzunehmende Rentenanpassung (§ 93 Abs. 4 B-KUVG) nicht Bedacht genommen wird. Nur bei einer wörtlichen Auslegung des Begriffes 'Betrag' im § 95 Abs. 3 B-KUVG (§ 184 Abs. 3 ASVG) kann im Falle einer Verschlimmerung die Schlechterstellung von Rentenempfängern, deren Rente abgefunden wurde, im Vergleich zu solchen, die eine laufende, immer wieder angepasste (erhöhte) Rente bezogen haben, vermieden werden."

Ferner verweist der Beschwerdeführer darauf, dass die entsprechende Regelung durch die 44. ASVG-Novelle neu gefasst wurde. Danach wird die neu zu bemessende Rente (nach Auffassung des Beschwerdeführers: erst nunmehr) um den Betrag gekürzt, "der dem Grad der der abgefundenen Rente zu Grunde gelegten Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht".

Diese Ausführungen sind nicht geeignet, eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darzutun.

Nach der eingangs wiedergegebenen Vorjudikatur ist entscheidend, ob der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt bei Erlassung des Bescheides vom 29. Oktober 1975 ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist, als sie auf die neu festgestellte Unfallrente des Beschwerdeführers den 1967 abgefundenen Rentenanteil nicht (bloß) in nomineller Höhe, sondern nach Maßgabe des abgefundenen Prozentsatzes angerechnet hat.

Der bis zur 44. Novelle geltende Wortlaut des § 184 Abs. 3 ASVG entsprach der Stammfassung dieser Bestimmung, stammt also aus einer Zeit, in der das ASVG eine automatische Rentenanpassung noch nicht kannte. Seit Einführung einer automatischen Anpassung von Renten und Beitragsgrundlagen konnte eine am Wortlaut des § 184 Abs. 3 ASVG orientierte Interpretation dazu führen, dass der Sache nach der abgefundene Teil einer Rente aus der Zeit vor Einführung der Anpassung mit den (z.B. auf Grund einer späteren Verschlechterung der MdE) laufend auszubezahlenden Rentenbeträgen aus der Zeit nach der Rentenanpassung zusammengerechnet einer MdE von mehr als 100 % entsprechen konnten, sofern die abgefundene Rente nur mit ihrem (nicht aufgewerteten) Nominale von der mit dem aktuellen Gesamtwert neu festgestellten Rente abgezogen wurde. Dieses Ergebnis, das der Gesetzgeber erst mit der Neufassung des § 184 Abs. 3 ASVG durch die 44. Novelle beseitigt hat, konnte aber im Hinblick auf den aufgezeigten Wertungswiderspruch schon vor Inkrafttreten dieser Novelle vertretbarer Weise zu jener Rechtsauffassung führen, wie sie dem Bescheid vom 29. Oktober 1975 zugrundegelegen und geeignet gewesen ist, ein sachgerechtes, weil den Rentenbezieher mit einer abgefundenen Rente im Verhältnis zu einem Rentenbezieher, der eine Abfindung nicht erhalten hatte, gleichstellenden Ergebnis herbeizuführen.

Im Hinblick darauf kann nicht gesagt werden, dass der Unfallversicherungsanstalt bei Erlassung des Bescheides vom 29. Oktober 1975 ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist, welches einer Korrektur im Wege des § 101 ASVG zugänglich wäre, wie auch die belangte Behörde im Ergebnis zutreffend erkannt hat.

Die Beschwerde erweist sich daher als unbegründet, weshalb sie gemäß § 42 Abs.  1 VwGG abzuweisen war.

Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 27. Juli 2001

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2001:1996080306.X00

Im RIS seit

14.01.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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