Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch das Senatsmitglied Dr. Helmut Pollak über die Berufung des Herrn B B, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. P B, H-platz 3, G, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag vom 29.6.1993, GZ.: 15.1-Ba 258-91/1, nach Durchführung einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung am 21.9.1993, wie folgt entschieden:
Gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (im folgenden AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (im folgenden VStG) wird der Berufung in Punkt 1.) Folge gegeben und das Strafausmaß gemäß § 99 Abs 3 lit a StVO mit S 3.000,-- (im Uneinbringlichkeitsfall 2 Tage Ersatzarrest) festgesetzt;
2.)
wird der Berufung gegen die Höhe der Strafe in den Punkten
2.)
und 3.) insoweit Folge gegeben, als daß je Übertretung gemäß § 99 Abs 3 lit a StVO eine Strafe von S 1.000,-- (somit insgesamt S 2.000,--, im Uneinbringlichkeitsfall je 1 Tag Ersatzarrest) festgesetzt wird.
Gemäß § 64 Abs 1 und 2 VStG reduzieren sich die Kosten des Verfahrens der ersten Instanz in Punkt 1.) mit S 300,--, in Punkt 2.) mit S 100,-- und in Punkt 3.) mit S 100,-- (10 % der verhängten Strafe) festgesetzt und bestimmt, daß der Berufungswerber die Strafe, die Kosten des Verfahrens der ersten Instanz binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu entrichten hat.
Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Berufungswerber lenkte am 30.5.1991 das Kraftfahrzeug mit dem behördlichen Kennzeichen W 19.747 B, gegen 15.10 Uhr, auf der B 306, in Sp a S, in Fahrtrichtung M, auf Höhe Strkm 20,3 und überschritt 1.) die im Ortsgebiet erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 51 km/h; 2.) überholte der Berufungswerber auf einer durch das Vorschriftszeichen Überholen verboten
mehrspuriges Kraftfahrzeug und hat hiebei 3.) die dort angebrachte Sperrlinie überfahren. Laut Anzeige des Landesgendarmeriekommandos für die Steiermark, Verkehrsabteilung, GZ.: P 1238/91, wurde die Geschwindigkeitsüberschreitung mit der geeichten ProViDa-Anlage sowie mittels Radargerät festgestellt (Foto, Überholverbot). Der Überholvorgang im Überholverbot wurde mittels Video festgehalten. Die Behörde erster Instanz erließ eine alle Tatbestandselemente taugliche Verfolgungshandlung mit Rechtshilfeersuchen vom 29.7.1991 und unterstellte die Übertretung 1.) den Bestimmungen des § 99 Abs 2 lit c StVO. Der Berufungswerber erklärte anläßlich seiner Einvernahme am 23.10.1991 vor der Bundespolizeidirektion Wien, Koat Ottakring, daß er zwei PKW`s überholt habe und dabei zur Sperrlinie gekommen sei und habe er dann auch, wie auf dem Lichtbild ersichtlich, einen Bus überholt und während des Überholvorganges die Sperrlinie überfahren. Bezüglich der Geschwindgkeitsüberschreitung führt er aus, er habe niemanden gefährdet und war kein Gegenverkehr und daher nehme er an, daß die besonders gefährlichen Verhältnisse nicht vorlagen. Ohne weitere Ermittlungstätigkeit erließ die Behörde erster Instanz das bekämpfte Straferkenntnis und erläuterte darin, daß auf Grund der Geschwindigkeitsüberschreitung von 100 % besonders gefährliche Verhältnisse vorlagen.
Innerhalb offener Frist erhob der Berufungswerber das Rechtsmittel der Berufung und führte darin aus, die Behörde erster Instanz habe zum Punkt 1.) der Berufung (Höchstgeschwindigkeit) die Angelegenheit rechtlich unrichtig beurteilt. Schon aus dem Bericht des Justizausschusses anläßlich der seinerzeitigen Novellierung des § 99 StVO wurde klar gesagt, daß in der Mißachtung der Geschwindigkeitsüberschreitung alleine die Erfüllung des Tatbestandsmerkmales "unter besonders gefährlichen Verhältnissen", nicht vorliegen kann. Vielmehr sei es anhand der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes notwendig, daß zu dem an sich strafbaren Verhalten des Täters noch zusätzliche Sachverhaltselemente hinzukommen müssen, um annehmen zu können, daß die Tat unter besonders gefährlichen Verhältnissen begangen wurde.
Der Berufung kommt in den Punkten 1.) bis 3.) Berechtigung zu.
Zu Punkt 1.) ist auszuführen:
Anhand des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und die Einvernahme der Zeugen RI F R und GI G K, beide Beamte waren Anzeigenleger, konnte bewiesen werden, daß der Beschuldigte bei Strkm 20,3 eine Geschwindigkeit von 101 km/h fuhr. Weiters wurde in der öffentlichen, mündlichen Verhandlung ein Lichtbild vorgelegt, dem zu entnehmen ist, daß das Fahrzeug des Berufungswerbers am 30.5.1991, um 15.10 Uhr, eine Geschwindigkeit von 101 km/h im Ortsgebiet von Sp a S, in Fahrtrichtung M fuhr.
Bezüglich der besonders gefährlichen Verhältnisse wurde ein Sachverständige für das Kraftfahrzeugwesen, Dr. H St, Universität G, beigezogen, der wie folgt Befund und Gutachten erstellte:
Befund:
Die B 306 ist im Bereich M an der Stelle, an der die Geschwindigkeitsüberhöhung durch die Radarbox festgestellt wurde, auf einer Breite von 8,15 m mit einer Asphaltdecke befestigt. Das Radar selbst war zum Zeitpunkt der Feststellung der überhöhten Geschwindigkeit in einer Bushaltestelle, die zusätzlich in Fahrtrichtung M gesehen, auf der rechten Seite angeordnet ist.
Diese Bushaltestelle weist eine Tiefe von 3,2 m auf. Sie ist ebenfalls mit einer Asphaltdecke befestigt. In Richtung M gesehen, auf der rechten Seite, schließt an die Bundesstraße ein erhöhter Gehweg mit einer Breite von ca. 1,50 m an, der derzeit ebenfalls asphaltiert ist. Die B 306 ist in diesem Bereich mit folgenden Straßenmarkierungen versehen:
In der Mitte befindet sich eine Leitlinie, die in einem Abstand von 3,15 m vom rechten Rand der B 306 angeordnet ist. Die linke Randlinie ist in einem Abstand von 3,15 m von der Mittellinie angeordnet. Über diesen Rand hinaus befindet sich noch ein 1,15 m breiter mit einer Asphaltdecke befestigter Streifen, der sich teilweise ca. 50 m weiter vorne etwas verengt.
Die Sicht für den Berufungswerber von der im Radarfoto festgehaltenen Position in seine Fahrtrichtung, das ist Richtung M gesehen, beträgt mindestens 200 m . In einer Entfernung von ca. 130 m vor der Position des Radars befindet sich außerdem ein Gehweg, der durch ein entsprechendes Schild "Gehweg" markiert ist. Die Häuser bzw. Gärten reichen in diesem Bereich nicht unmittelbar bis an die Fahrbahn und auch nicht bis an den befestigten Gehweg heran. Auch in Fahrtrichtung M gesehen, auf der linken Seite, beträgt der Mindestabstand der Häuser ca. 3 m vom Straßenrand. Sichtbehinderungen gibt es in diesem Bereich an beiden Seiten der Straße keine.
Unmittelbar vor dem Zebrastreifen befindet sich auf der rechten Seite in Richtung M gesehen eine Hauszufahrt. Mehrere Hauszufahrten befinden sich auf der linken Fahrseite in Richtung M gesehen. Die B 306 weist im Bereich der Stelle, an der das Radarfoto angefertigt wurde, in Richtung M gesehen, ein leichtes Gefälle in einer Größenordnung von ca. 2 bis 3% auf.
Gutachten:
Zum Zeitpunkt der Überwachung bzw. zum Zeitpunkt als das die überhöhte Geschwindigkeit von 101 km/h des Berufungswerbers festgestellt wurde, herrschte im Bereich der Überwachungsstelle trockene Fahrbahn. Unter Berücksichtigung des dort vorhandenen Fahrbelages, sowie der Tatsache, daß ein Gefälle von ca. 2 % vorhanden ist, ergibt sich für das Fahrzeug im Fall einer Vollbremsung eine maximale Bremsverzögerung von ca. 7,5 m/sec. In diesem Fall beträgt der Anhalteweg aus der festgestellten Geschwindigkeit von 101 km/h,
80,5 m bzw. die Zeit von der Reaktion bis zum Stillstand des Fahrzeuges beträgt 4,7 sec. In diesen Berechnungen wurde eine Reaktionszeit von 1 sec. berücksichtigt. Nimmt man nun an, daß ein Fußgänger mit einer Geschwindigkeit von 5 km/h seitlich in die Fahrbahn aus einer Ausfahrt kommen würde, so ergibt sich für diesen, daß er in der Sekunde 1,38 m zurücklegt. Das heißt, bei einer gesamten Anhaltezeit von 4,74 sec. für den Berufungswerber, legt der Fußgänger im gleichen Zeitraum eine Wegstrecke von ca. 6,6 m zurück.
Entsprechend den Feststellungen beim Ortsaugenschein ergibt sich, daß von der Fahrbahn nach rechts gesehen, fast im gesamten Bereich ein Freiraum über 4 m vorhanden ist. In ihn beträgt die Sicht in die seitlichen Einfahrten mindestens 6 m im gesamten Bereich. Es kann somit festgestellt werden, daß dem Berufungswerber unter beinahe allen erdenklichen Umständen ein rechtzeitiges Abbremsen möglich gewesen wäre, wenn ein Fußgänger in normaler Weise die Fahrbahn überquert hätte. Im Fall eines einbiegenden Fahrzeuges aus einer Hauseinfahrt kann folgendes angegeben werden:
Da die Sicht auf das herannahende Fahrzeug des Berufungswerbers aus allen Einfahrten gegeben ist, und derartig einfahrende Fahrzeuge unbedingt vor dem Einbiegen anhalten müssen, bestand für derartige Fahrzeuge ebenfalls keine besondere Gefahr.
Für den Fall, daß aus einer Hauseinfahrt ein spielendes Kind herausgelaufen wäre, ergibt sich, allerdings unter Annahme einer Laufgeschwindigkeit von ca. 15 km/h, ein zurückgelegter Weg für das Kind von 9,75 m, in der vorher berechneten Anhaltezeit von 4,74 sec. In diesem Fall wäre es also dem Autofahrer mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich gewesen, sein Fahrzeug vor dem Überqueren des Kindes anzuhalten.
Zusammenfassung:
Aus technischer Sicht ergibt sich somit aus den oben angeführten Erörterungen, daß bei der Fahrweise des Berufungswerbers, unter den vorliegenden Bedingungen, keine besonders gefährdeten Bedingungen vorlagen, da es ihm unter fast allen möglichen Gefahrenssituationen möglich gewesen wäre, sein Fahrzeug noch rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Rechtlich ist somit auszuführen, daß der Täter sicherlich durch seine Fahrweise gefährliche Umstände heraufbeschwor. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 100 % ist nur mit der Schuldform des bedingten Vorsatzes zu begehen, da ein Kraftfahrzeuglenker der ein wenig verantwortungsvoll ist, mit einer geringen Sorgfalt diese Geschwindigkeitsüberschreitung hätte feststellen müssen. Jedoch hat sich im Zuge des Ermittlungsverfahrens herausgestellt, daß die vom Verwaltungsgerichtshof geforderten besonders gefährlichen Verhältnisse nicht vorlagen. Anhand des Gutachtens des Sachverständigen ist auszuführen, daß der Berufungswerber auf Grund der geringen Verkehrsdichte und der örtlichen Gegebenheiten niemanden konkret bzw. abstrakt gefährdete. Aus diesen Gründen war trotz der immensen Geschwindigkeitsüberschreitung die Strafbarkeit des Verhaltens dem § 99 Abs 3 lit a StVO zu unterstellen.
Bezüglich der Einwendungen, es handle sich um eine exorbitante Strafe, ist dem Berufungswerber zu entgegnen, daß diese Geschwindigkeitsüberschreitung ebenfalls exorbitant ist, die Schuldform des Vorsatzes vorliegt und mit einem Minimum an Sorgfalt diese Geschwindigkeitsüberschreitung hätte hintangehalten werden können.
Zu Punkt 2.) und 3.) ist zu erläutern, daß der Berufungswerber in der öffentlichen, mündlichen Verhandlung die Berufung auf die Höhe der Strafe einschränkte.
Rechtlich ist auszuführen:
Da lediglich die Höhe der verhängten Strafe bekämpft wurde, ist der Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen (VwGH 16.9.1971, 1268 ua./70).
Wird in der Berufung nur das Strafausmaß bekämpft, dann hat die Berufungsbehörde von dem in erster Instanz zur Schuldfrage festgestellten Sachverhalt auszugehen (Erk. d. VwGH vom 22.2.1990, GZ.: 89/09/0137).
Gemäß § 19 Abs 1 VStG ist Grundlage für die Bemessung der Strafe stets das Ausmaß der mit der Tat verbundenen Schädigung oder Gefährdung derjenigen Interessen, deren Schutz die Strafdrohung dient und der Umstand, inwieweit die Tat sonst nachteilige Folgen nach sich gezogen hat.
Schutzzweck der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung 1960 ist es im allgemeinen, den in Österreich auf öffentlichen Straßen fließenden Verkehr in geordneten Bahnen zu lenken und hiebei die Sicherheit und die Flüssigkeit des Verkehrs aufrecht zu erhalten. Auf Grund der Gefahren beim Lenken eines Fahrzeuges ist es notwendig, mit gesetzlichen Bestimmungen Gefahren weitestgehendst auszuschließen und auch damit verbunden, die Folgen von Unfällen soweit als möglich zu reduzieren, sofern es nicht möglich ist, Unfälle von Haus aus zu vermeiden. Auf Grund der vom Beschuldigten begangenen Übertretung ist evident, daß dieser diesen Schutzzweck auf das Gröblichste verletzt hat. Ein verantwortungsbewußter Lenker eines Fahrzeuges hätte schon auf Grund der Windgeräusche, des Motorengeräusches und der Fußstellung des Gaspedales erkennen müssen, daß eine schwerwiegende Überschreitung der Geschwindigkeitsbegrenzung vorliegt, dies auch im Hinblick auf die Vergleichsgeschwindigkeiten gegenüber den diesen Begrenzungen einhaltenden, gesetzeskonformen Autofahrern. Gemäß § 19 Abs 2 VStG sind die nach dem Zweck der Strafdrohung in Betracht kommenden Erschwerungs- und Milderungsgründe, soweit sie nicht schon die Strafdrohung bestimmen, gegeneinander abzuwägen. Auf das Ausmaß des Verschuldens ist besonders Bedacht zu nehmen. Unter Berücksichtigung der Eigenart des Verwaltungsstrafrechtes sind die Bestimmungen der §§ 32 bis 35 des Strafgesetzbuches sinngemäß anzuwenden. Die Einkommens-, Vermögens- und Familienverhältnisse des Beschuldigten sind bei der Bemessung von Geldstrafen zu berücksichtigen.
Die Reduzierung der Strafe in Punkt 1.) mußte erfolgen, da das Delikt dem geringeren Strafrahmen des § 99 Abs 3a StVO unterstellt wurde.
Erschwerend ist das hohe Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung zu werten, sowie das äußerst riskante Überholmanöver, vor einer in Fahrtrichtung des Berufungswerbers gesehen, nicht einsehbaren Rechtskurve. Mildernd war die Unbescholtenheit des Berufungswerbers zu werten, sodaß unter Bedachtnahme auf die Einkommens-, Vermögens- und Familienverhältnisse und das Ausmaß des Verschuldens, die verhängten Strafen dem Strafrahmen bis zu S 10.000 schuldadäquat entsprechen.
Da der Parteienvertreter anläßlich der öffentlichen, mündlichen Verhandlung die persönlichen Verhältnisse, welche vom Koat am 23.10.1991 erhoben wurden, bestätigte, war von einem monatlichen Einkommen von ca. S 14.000,-- netto, keinem Vermögen und keinen Sorgepflichten auszugehen.
Der Ausspruch über den Ersatz der Verfahrenskosten war eine Folge der Bestrafung und stützt sich auf die im Spruch angeführte Gesetzesstelle.