TE Vwgh Erkenntnis 2001/10/4 96/08/0056

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Veröffentlicht am 04.10.2001
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
22/01 Jurisdiktionsnorm;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASVG §500 Abs1;
ASVG §500;
ASVG §502 Abs4;
JN §66 Abs1;
JN §66;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde der P in T, vertreten durch Dr. Herta Schirnhofer, Rechtsanwalt in 1030 Wien,

Am Heumarkt 9, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 15. Jänner 1996, Zl. MA 15-II-Sch 3/94, betreffend Begünstigung nach §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei:

Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von S 4.565,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenbegehren der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid vom 19. Mai 1993 lehnte die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt die begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten der Beschwerdeführerin für die Zeit vom 4. März 1933 bis 31. März 1959 gemäß §§ 500 ff ASVG ab. Nach der Begründung habe das vorangegangene Ermittlungsverfahren ergeben, dass die Beschwerdeführerin Österreich bereits im Jahre 1934 verlassen habe. Ihre Auswanderung sei somit in keinem Zusammenhang mit einer Verfolgung aus religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung gestanden, weil eine solche erst ab dem 13. März 1938 habe eintreten können.

Die Beschwerdeführerin erhob gegen diesen Bescheid Einspruch. Sie brachte im Wesentlichen vor, auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei und ihrer aktiven politischen Betätigung nach 1933 polizeilich verfolgt worden sein; sie habe illegal Österreich verlassen müssen. Von einer Auswanderung ihrerseits könne nicht gesprochen werden, da sie nie die Absicht gehabt habe, Österreich für immer zu verlassen. Durch die Ereignisse des Jahres 1938 sei ihr jedoch die Möglichkeit genommen worden, in ihre Heimat zurück zu kehren. Ihre aufrechte Meldung in Wien bis zum Jahre 1939 beweise, dass sie nie die Absicht gehabt habe, auszuwandern. Tatsächlich sei sie nach ihrer ersten Ausreise im Jahre 1934 noch zweimal illegal nach Österreich zurückgekehrt. Sie habe feststellen wollen, ob sich die Umstände für sie positiv geändert hätten. Letztmalig sei sie im Frühjahr 1938 in Wien gewesen, sei jedoch vom Einmarsch der Nationalsozialisten überrascht worden und habe Österreich fluchtartig verlassen müssen.

In einem Schreiben an die österreichische Botschaft in Tel Aviv vom 30. September 1994 gab die Beschwerdeführerin weiters an, seit ihrer frühesten Jugend an in der Wiener Sozialistischen Bewegung aktiv tätig gewesen zu sein. So habe sie beispielsweise Flugzettel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in den späten Abendstunden in Briefkästen geworfen. Dadurch sei sie auch mit der "Heimwehr" und der Wiener Polizei in Kontakt gekommen. Auf Grund von Anzeigen der Nachbarn bei der Polizei sei sie häufig Verhaftungen und Verhören ausgesetzt gewesen. Im Jahre 1934 sei sie auf Grund des Aufstiegs der "Vaterländischen Front" nach Palästina geflüchtet. Dort habe sie nicht gewusst, ob und wann sie wieder nach Österreich werde zurückkehren können. Obwohl sie wieder zu ihrer Mutter nach Wien habe zurückkehren wollen, sei ihr dies als Sozialdemokratin und Jüdin durch die politische Lage in Österreich unmöglich gemacht worden.

Der Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus teilte der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt in einem Schreiben vom 16. November 1993 mit, über die Beschwerdeführerin keinerlei Unterlagen zu haben.

Um Nachforschungen hinsichtlich der behaupteten politischen Verfolgung anstellen zu könne, ersuchte die belangte Behörde die Beschwerdeführerin um Mitteilung, innerhalb welcher genauen Zeiträume sie in welchen Gefängnissen inhaftiert gewesen sei. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde dem Einspruch keine Folge gegeben und der Bescheid der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt bestätigt.

Nach Wiedergabe des bisherigen Verfahrensgeschehens vertrat die belangte Behörde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Erkenntnis vom 26. März 1982, Zl. 3539/80) die Auffassung, nach der Aktenlage seien keine Umstände hervorgekommen, die ergeben hätten, dass sich die Beschwerdeführerin in einer derart exponierten politischen Position befunden hätte, dass sie aus politischen Gründen im Jahre 1934 zur Auswanderung aus Österreich gezwungen gewesen sei. Das Vorbringen, häufigen Verhaftungen und Verhören durch die Wiener Polizei ausgesetzt gewesen zu sein, sei eine unbewiesene Behauptung. Der Beschwerdeführerin sei Gelegenheit gegeben worden, dazu nähere Angaben zu machen. Sie habe jedoch keine Stellungnahme abgegeben. Die Sorge vor der künftigen politischen Entwicklung in Österreich im Jahre 1934 (die Beschwerdeführerin habe anlässlich ihrer schriftlichen Befragung angegeben, den Aufstieg der "Vaterländischen Front" gefürchtet zu haben) sei subjektiv begründet gewesen und damit begünstigungsrechtlich irrelevant.

Auch der Tatbestand der "verhinderten Rückkehr" nach Österreich liege im Beschwerdefall nicht vor. Dieser Tatbestand sei dann anzunehmen, wenn sich eine Person zunächst mit der Absicht eines nur vorübergehenden Aufenthaltes in das Ausland begeben und ihren Wohnsitz in Österreich beibehalten habe, jedoch nach der aus politischen oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung zu gewärtigenden Verfolgung ihren ständigen Wohnsitz im Ausland genommen habe. Die Beschwerdeführerin habe sich nach der Aktenlage im Juni 1934 nicht nur vorübergehend nach Palästina begeben, da sie nach eigener Aussage nach ihrer Ankunft in Palästina überhaupt nicht gewusst habe, ob und wann sie wieder nach Österreich zurückkehren würde. Sie sei zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Österreich auch nicht mehr minderjährig gewesen und habe somit einen selbstständigen Wohnsitz in Palästina begründen können. Einen ordentlichen Wohnsitz in Österreich nach der Ausreise habe die Beschwerdeführerin nach der Aktenlage nicht aufrecht erhalten. Daran könne auch nichts ändern, dass die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben nach ihrer Ausreise im Jahre 1934 noch zweimal illegal in Österreich gewesen sei. Schließlich spreche auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin am 29. Jänner 1937 in Tel Aviv eine Ehe geschlossen habe, wobei auf der Heiratsurkunde als Wohnort beider Ehepartner Jerusalem angeführt sei, dafür, dass die Beschwerdeführerin spätestens zu diesem Zeitpunkt den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht mehr in Österreich gehabt habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.

Die belangte Behörde hat - ebenso wie die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt - eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 500 ASVG werden Personen, die in der Zeit vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründe der Abstammung in ihren sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten haben, nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 501, 502 Abs. 1 bis 3 und 5 und 506, Personen, die aus den angeführten Gründen ausgewandert sind, nach den §§ 502 Abs. 4 bis 6, 503 und 506, begünstigt.

Gemäß § 502 Abs. 4 ASVG können Personen, die in der im § 500 angeführten Zeit aus einem der dort angeführten Gründe ausgewandert sind und die vorher in der Zeit seit dem 1. Juli 1927 Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß § 228 oder 229 oder Zeiten nach dem Auslandsrenten-Übernahmegesetz zurückgelegt haben, für die Zeiten der Auswanderung, längstens aber für die Zeit bis 31. März 1959, Beiträge nachentrichten.

Gemäß § 37 AVG ist der Zweck des Ermittlungsverfahrens, den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen und den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben.

Nach § 39 Abs. 2 AVG hat die Behörde, soweit die Verwaltungsvorschriften hierüber keine Anordnungen enthalten, von Amts wegen vorzugehen und unter Beobachtung der in diesem Teile des Gesetzes enthaltenen Vorschriften den Gang des Ermittlungsverfahrens zu bestimmen.

Die Beschwerdeführerin hat im Verwaltungsverfahren vorgebracht, Österreich im Jahre 1934 aus politischen Gründen verlassen zu haben. Auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei und ihrer aktiven politischen Betätigung sei sie häufig Verhaftungen und Verhören durch die Wiener Polizei ausgesetzt gewesen.

Strittig ist dabei nicht nur die Frage, ob sich diese Ausreise der Beschwerdeführerin im Jahre 1934 als eine Auswanderung im Sinne des § 502 Abs. 4 ASVG darstellt, sondern auch, ob eine politische Verfolgung der Beschwerdeführerin gegeben war, die die Ursache ihrer Auswanderung war.

Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin behaupteten politischen Verfolgung hat die belangte Behörde im Wesentlichen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Auffassung vertreten, es seien keine Umstände hervorgekommen, die ergeben hätten, dass sich die Beschwerdeführerin in einer derart exponierten politischen Position befunden habe, dass sie aus politischen Gründen im Jahre 1934 zur Auswanderung aus Österreich gezwungen gewesen sei. Dabei hat die belangte Behörde allerdings übersehen, dass nach der von ihr zitierten Vorjudikatur vom damaligen Beschwerdeführer - im Gegensatz zum Vorbringen der Beschwerdeführerin - keine konkrete politische Verfolgung behauptet worden ist. Die Beschwerdeführerin ist allerdings der Aufforderung der belangten Behörde, nähere Angaben über ihre Inhaftierungen zu machen, nicht nachgekommen. Es kann daher nicht als rechtswidrig erkannt werden, wenn die belangte Behörde mangels jeglicher konkreter Hinweise eine politische Verfolgung der Beschwerdeführerin verneint hat.

Hinsichtlich des Begriffes der Auswanderung ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach darunter im Sinne der Begünstigungsbestimmungen des ASVG die Verlegung des ständigen Wohnsitzes einer Person in das Ausland zu verstehen ist. Für die Definition des Begriffes "Wohnsitz" ist auch im Zusammenhang mit dem Begünstigungstatbestand des § 502 Abs. 4 ASVG die Bestimmung des § 66 der Jurisdiktionsnorm heranzuziehen, wonach der ordentliche Wohnsitz einer Person an dem Ort begründet ist, an welchem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Zu den Merkmalen eines solchen bleibenden Aufenthaltes zählt unter anderem der Umstand, dass der gewählte Aufenthaltsort zum wirtschaftlichen und faktischen Mittelpunkt des Lebens gemacht wird, mag auch von vornherein klar sein, dass sich dieser Aufenthalt über eine bestimmte oder unbestimmte Dauer hinaus nicht erstrecken wird. Einer polizeilichen An- oder Abmeldung allein kommt in der Frage des Wohnsitzes verhältnismäßig wenig Beweiswert zu. Lehre und Rechtsprechung zum § 66 der Jurisdiktionsnorm legen Wert auf die äußerliche Erkennbarkeit einer solchen Niederlassungsabsicht, auf den Mittelpunkt des Lebensinteresses an einem bestimmten Ort, etwa nach dem Familiensitz und der Haushaltsführung. Der Aufenthaltsort muss bewusst zum wirtschaftlichen und faktischen Mittelpunkt gemacht werden; es darf sich bei dieser Wahl um keine Provisorialmaßnahme handeln (vgl. etwa das Erkenntnis vom 19. Jänner 1978, Zl. 2102/77, mit Hinweis auf Literatur und Vorjudikatur).

Auf die Frage einer Wohnsitzbegründung der Beschwerdeführerin im Ausland ist die belangte Behörde im Zusammenhang mit der von der Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren ferner geltend gemachten "verhinderten Rückkehr" eingegangen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Auswanderung im Sinne des § 500 Abs. 1 ASVG nämlich auch dann als gegeben anzunehmen, wenn eine Person sich zunächst in das Ausland mit der Absicht begeben hatte, sich dort nur vorübergehend aufzuhalten, jedoch nach dem 13. März 1938 (nur) im Hinblick auf die wegen der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus aus politischen, religiösen oder Gründen der Abstammung zu gewärtigende Verfolgung im Ausland ihren ständigen Wohnsitz genommen hat (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 2. Oktober 1957, VwSlg. 4437/A und vom 17. Februar 1983, Zl. 81/08/0038).

Im Sinne der oben wiedergegebenen Rechtsprechung kann auch die Auffassung der belangten Behörde nicht als rechtswidrig erkannt werden, dass die Beschwerdeführerin auf Grund ihrer Eheschließung in Palästina im Jänner 1937 jedenfalls ab diesem Zeitpunkt den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht mehr in Österreich hatte. Der Tatbestand der verhinderten Rückkehr nach Österreich wurde daher von der belangten Behörde im Beschwerdefall zu Recht nicht als gegeben angenommen.

Die vorliegende Beschwerde erweist sich daher als unbegründet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen war.

Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Der nicht durch einen Anwalt vertretenen Pensionsversicherungsanstalt war kein Schriftsatzaufwand zuzuerkennen (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 19. Jänner 1999, Zl. 96/08/0269).

Von der beantragten mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen.

Wien, am 4. Oktober 2001

Schlagworte

Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2001:1996080056.X00

Im RIS seit

21.02.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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