Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch das Einzelmitglied Dr. Christian Erkinger, über die Berufung des Herrn W.F., vertreten durch Dr. Gerolf Haßlinger, Rechtsanwalt in 8530 Deutschlandsberg, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 16.11.1994, GZ.:
15.1 1993/3476, nach Durchführung einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung am 14.11.1995 wie folgt entschieden:
Der Berufung wird gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) Folge gegeben, das Straferkenntnis behoben und das Verfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 3 VStG eingestellt.
Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 16.11.1994, GZ.: 15.1. 1993/3476 ist dem Berufungswerber zur Last gelegt worden, er habe am 16.06.1993, um 17.45 Uhr, in St. Martin im Sulmtal, Gemeindestraße, auf Höhe des Wohnhauses Bergla Nr. 1, von Bergla kommend, in Richtung St. Martin als
Lenker des Fahrzeuges mit dem Kennzeichen DL.. die Fahrgeschwindigkeit nicht den gegebenen Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepaßt, zumal er infolge Außerachtlassen gebotener Sorgfalt und Aufmerksamkeit übersehen habe, daß der vor ihm fahrende PKW VW
Golf mit dem Kennzeichen D.. rechts blinkte und zum Rechtseinbiegen zum Wohnhaus Bergla 1 ansetzte,
wodurch er mit seinem PKW auf diesen PKW aufgefahren
sei.
Wegen dieser Übertretung wurde über den Berufungswerber eine Geldstrafe mit einer Höhe von S 2.000,-- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe mit einer Dauer von 2 Tagen für den Fall der Uneinbringlichkeit verhängt. Gegen dieses Straferkenntnis hat der Berufungswerber rechtzeitig Berufung erhoben und darin im wesentlichen die ihm zur Last gelegte Übertretung bestritten und als conclusio seiner Berufungsausführungen die Behebung des angefochtenen Bescheides und die Einstellung des gegen ihn geführten Verwaltungsstrafverfahrens beantragt.
Zur Verifizierung des Sachverhaltes und auch der zu lösenden Rechtsfrage wurde an Ort und Stelle eine öffentliche, mündliche Berufungsverhandlung unter Teilnahme des Vertreters des Berufungswerbers, einer Vertreterin der belangten Behörde sowie der erforderlichen Zeugen durchgeführt.
Anläßlich dieser Verhandlung konnte folgender Sachverhalt festgestellt und dieser Entscheidung zugrundegelegt werden:
Der Zeuge P.M. beabsichtigte am 16.6.1993 zum Anwesend des Herrn St., Bergla, zu fahren, um ein Kraftfahrzeug zu reparieren. Etwa 100 m vor dem Wohnhaus Bergla begann der Zeuge P.M. zu blinken, um anzuzeigen, daß er zu diesem Grundstück zufahren
wolle. Zu diesem Zeitpunkt war er mit einer Geschwindigkeit von etwa 80 km/h unterwegs. Der Berufungswerber selbst fuhr zunächst vor der Kollision in einem größeren Abstand hinter dem Zeugen P.M. und näherte sich diesem Fahrzeug in weiter Folge vor der Kollisionsstelle so weit, daß es ihm nicht mehr möglich war, kollisionsfrei anzuhalten, obwohl der Zeuge P.M. seinen Einbiegevorgang anzeigte und nicht festgestellt werden konnte, er habe sein Fahrverhalten nicht straßenverkehrsordnungskonform angepaßt.
Hinsichtlich der Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse wurde folgender Befund erstattet:
Der gegenständliche Vorfall ereignete sich auf der Gemeindestraße von St. Martin Richtung Bergla. Ca. auf Höhe des Hauses Bergla Nr.. kam es am 16.06.1993, ca. um 17.45 Uhr zu dem gegenständlichen Vorfall. Die Gemeindestraße verläuft von Bergla Richtung St. Martin gesehen im Bereich der Vorfallstelle annähernd geradlinig. In diesem Bereich ist sie auf einer Breite von ca. 5 m mit einer geschlossenen Asphaltdecke befestigt.
In Richtung St. Martin gesehen, das ist die Richtung
Norden und das ist auch die Richtung der beiden
Fahrzeuge, weist sie am östlichen Fahrbahnrand ein
befestigtes Bankett auf. Unmittelbar nach dem Haus
Bergla Nr... befindet sich in östlicher Richtung die Einfahrt
zu Haus Bergla Nr... Diese Einfahrt weist eine Breite von
2,9 m auf. Der Mündungstrichter selbst weist eine Breite von 6,7 m auf. Sowohl die Gemeindestraße von Bergla Richtung St. Martin ist mit einer Asphaltdecke befestigt, als auch die Zufahrt zum Anwesen Bergla. Unmittelbar südlich der Zufahrt zum Haus Bergla Nr... schließt am östlichen Fahrbahnrand der Gemeindestraße eine ca. 1,1 bis 1,2 m hohe Thujenhecke an. In südliche Richtung, also Richtung Bergla gesehen, schließt zunächst eine Rechtskurve an, die nach einer Entfernung von ca. 150 m in eine Linkskurve übergeht. Die Sichtweite in Richtung Süden gesehen von der Unfallstelle beträgt mehr als 150
m. Die Sicht auf die Unfallstelle beträgt aus südlicher Richtung ebenfalls mehr als 150 m. In Richtung Norden, das ist Richtung St. Martin gesehen, verläuft die Gemeindestraße zunächst annähernd geradlinig, um
dann in eine leichte Linkskurve in Richtung St. Martin gesehen überzugehen. Die Sichtweite von der Unfallstelle in Richtung St. Martin gesehen beträgt mehrere 100 m. Zum Teil ist sie durch Bäume verdeckt, die zum heutigen Zeitpunkt nicht belaubt sind. Im Sommer, also zum Zeitpunkt des Vorfalls, dürfte die Sicht jedoch in jedem Fall mehr als 100 m betragen haben. In Fahrtrichtung St. Martin gesehen, das ist die Fahrtrichtung des Berufungswerbers, verläuft die Gemeindestraße
annähernd eben bzw. weist sie ein Gefälle von max. 1 Prozent auf.
Beim Fahrzeug des Berufungswerbers handelt es sich um einen Renault 19 16 V mit einem Eigengewicht von 1.080 kg, und war dieses Fahrzeug zum Zeitpunkt des Vorfalls mit zwei Personen besetzt. Beim Fahrzeug des Zeugen Josef P.M. handelt es sich um einen VW Golf 19 E GTI 16 V mit einem Eigengewicht von 968 kg, und war dieses zum Zeitpunkt des Vorfalls mit einer Person besetzt. Die beiden Fahrzeuge wurden durch den Vorfall wie folgt beschädigt. Der VW Golf wurde an der Rückseite im Bereich links hinten relativ stark beschädigt. So wurde die Stoßstange im Bereich links hinten stark verbogen, das linke hintere Kotblech wurde gestaucht und auch das Rückblech verbogen. Auch leichte Beschädigungen an
der Heckklappe sind aus den Lichtbildern ersichtlich. Der Renault des Berufungswerbers wurde im Bereich
rechts vorne beschädigt. So wurde der rechte vordere Scheinwerfer zerbrochen, die Stoßstange etwas zurückverschoben, aus den vorliegenden Lichtbildern kann jedoch dieser Schaden nicht präziser abgeschätzt werden.
Bezüglich der im Zuge der Kollisionen aufgetretenen Verformungsenergien kann folgendes angegeben werden:
Das Schadensbild des VW Golf kann mit einem Schaden verglichen werden, der bei einem gleichen Anprall dieses Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h
gegen ein starres Hindernis entspricht. Der ES-Wert kann also in einer Größenordnung um ca. 20 km/h abgeschätzt werden. Für den Renault 19 ergibt sich eine ähnliche bzw. eine etwas geringere Verformungsenergie, so kann diese mit einem vergleichbaren Anstoß von ca. 15 km/h gegen ein starres Hindernis angegeben werden. Aus der photogrammetrischen Auswertung der Bremsspuren kann angegeben werden, daß diese eine gesamte Länge von
25,5 m aufwies. Diese Gesamtlänge bezieht sich auf die Bremsspur des linken Vorderrades. Entsprechend der photogrammetrischen Auswertung war in einem Abstand von ca. 7,2 m vor dem Ende der Blockierspur ein leichter Knick in der Spur und zwar in beiden Blockierspuren ersichtlich. An dieser Stelle betrug der Abstand der linken Bremsspur 1,6 m zum linken Fahrbahnrand. Geht man
nun von diesen Angaben aus, so ergibt sich zunächst für den VW Golf eine Kollisionsauslaufgeschwindigkeit von knapp unter 40 km/h. Diese berechnet sich aus der Restbremsspurlänge von 7,2 m, wobei hiebei eine Bremsverzögerung von 7,85 m/sec2 zugrundegelegt
wurde. Aus der Kollision selbst ergibt sich unter Berücksichtigung der ES-Werte, also der Beschädigungsenergien beider Fahrzeuge, daß die Vorkollisiongeschwindigkeit für den Renault ca. 55 km/h betragen haben muß, der VW Golf nur mehr mit ca. 20 km/h fuhr. Durch die Kollision wurden dann beide Fahrzeuge auf eine annähernd gleiche Fahrgeschwindigkeit knapp unter 40 km/h beschleunigt. Zur Ausgangsgeschwindigkeit im Reaktionspunkt für den VW Golf ergibt sich, daß dieser im Reaktionspunkt eine Fahrgeschwindigkeit von ca. 85 km/h eingehalten haben muß. Hiebei wurde wiederum eine mittlere Bremsverzögerung von 7,85 m/sec2 berücksichtigt. Die Reaktion erfolgte 1,95 Sekunden vor der Kollision und zwar in einem Abstand von ca. 42 m vor der Kollisionsstelle. Für diese Berechnungen wurde eine Reaktionszeit von 0,8 Sekunden und eine Bremsschwellzeit von 0,2 Sekunden berücksichtigt.
Geht man von einer mittleren Bremsverzögerung von ca. 4 m/sec2 für den VW Golf aus, so ergibt sich, daß sich dieses Fahrzeug zum Zeitpunkt der Reaktion des Lenkers des Renault in einem Abstand von ca. 18 m vor der Kollisionsstelle befand. Dieses Fahrzeug hielt zu diesem Zeitpunkt bereits nur mehr eine Geschwindigkeit von ca. 47 km/h ein.
Geht man davon aus, daß der VW Golf auch vorher,
also von der ursprünglich eingehaltenen Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 85 km/h bis zur Kollision, bis ca. 4 m/sec2 verzögert wurde, so ergibt sich, daß der VW Golf ca. 4,4 Sekunden oder 65 m vor der späteren Kollisionsstelle mit dem Verzögerungsmanöver begann. Das Bremslicht des VW
Golf mußte auch bei einer derartigen Bremsverzögerung ca. 4,4 bis spätestens 4 Sekunden vor der Kollision aufgeleuchtet haben. Die Reaktion des Berufungswerbers erfolgte jedoch erst ca. 2 Sekunden vor der Kollision. Zum Zeitpunkt des Bremsentschlusses des Berufungswerbers. betrug dessen Abstand zum Vordermann ca. 24 m.
Bezüglich der vom VW Golf eingehaltenen Fahrlinie zum Zeitpunkt der Kollision kann folgendes angegeben
werden:
Die Überdeckung der beiden Fahrzeuge zum Zeitpunkt
der Kollision betrug ca. 50 Prozent. Der Abstand der linken Reifenspur des Renault zum in seiner Fahrtrichtung gesehenen linken Fahrbahnrand betrug 1,6 m. Somit berechnet sich der Seitenabstand des VW Golf zu dem in seiner Fahrtrichtung gesehenen linken Fahrbahnrand mit ca. 2,2 bis 2,3 m. Dies bei einer Fahrbahnbreite von ca. 5,0 bis 5,1 m. Die Fahrbahnmitte wurde somit vom VW Golf um ca. 20 bis 30 cm überragt. Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 85 km/h beträgt der Anhalteweg bei einer mittleren Verzögerung von 5,0 m/sec2 und einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden und einer Bremsschwellzeit von 0,2 Sekunden gerechnet ca. 77 m. Die Zeit für das Anhaltemanöver beträgt ca. 5,5 Sekunden. Dies wäre somit der Anhalteweg gewesen,
um kollisionsfrei anhalten zu können.
Die getroffenen Feststellungen gründen sich auf die glaubwürdigen und im wesentlichen übereinstimmenden Aussagen der Zeugen P.M., St. und R., und erstattete der gerichtlich beeidete Sachverständige zum Unfallsgeschehen bzw. zu den Ursachen ein schlüssiges und nachvollziehbares Gutachten.
Hinsichtlich der zu lösenden Rechtsfrage werden folgende
Überlegungen dieser Entscheidung zugrundegelegt:
Gemäß § 20 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder
durch Straßenverkehrszeichen angekündigten
Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen sowie den Eigenschaften von
Fahrzeug und Ladung anzupassen.
Gemäß § 18 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, daß ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird. Aus den getroffenen Feststellungen konnte entgegen der Ansicht der belangten Behörde nicht ermittelt werden, der Berufungswerber habe sein Fahrverhalten nicht den gegebenen Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepaßt, zumal die Straßenverhältnisse im gegenständlichen Bereich als durchaus gut, das Verkehrsaufkommen als zum Tatzeitpunkt gering und die Sichtverhältnisse ebenfalls als durchaus gut zu beurteilen waren. Hinsichtlich der dem Berufungswerber
spruchgemäß vorgeworfenen Sorgfalts- bzw. Aufmerksamkeitsverletzung war davon auszugehen, daß derartige Umstände nicht unter den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs 1 die Fahrgeschwindigkeit nicht den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen anzupassen zu subsumieren waren. Auch konnte im abgeführten Ermittlungsverfahren nicht zuletzt auch anhand der getroffenen gutachtlichen Ausführungen festgestellt werden, daß der Berufungswerber mit etwaigen Reaktionsverspätung von 2 Sekunden auf das Bremsmanöver des vor ihm
fahrenden Zeugen P.M. reagiert hat, weshalb es zur späteren Kollision kam. Wenngleich das Bremsmanöver des Zeugen P.M. nicht als jäh oder abrupt bezeichnet werden kann, so sind die Lenker hintereinanderfahrender Fahrzeuge grundsätzlich verpflichtet, das vor ihnen fahrende Fahrzeug stets im Auge zu behalten, da sie ihre Fahrweise so einzurichten haben, daß sie jederzeit anhalten können, auch dann, wenn das vordere
Fahrzeug plötzlich abgebremst wird (ZVR 1975/69). Daß dem Berufungswerber in diesem Zusammenhang eine Aufmerksamkeitsverletzung anzulasten ist, kann
aufgrund der getroffenen Ausführungen als evident
angenommen werden.
Jedoch wäre im Sinne des § 44 a VStG dem Berufungswerber das ihm anzulastende Vergehen derart
vorzuwerfen gewesen, daß es gemäß § 18 Abs 1 StVO
im Sinne eines, aufgrund einer verspäteten Reaktion zustandegekommenen, zu geringen Abstandes zwischen
dem vor ihm fahrenden Fahrzeug und seinem eigenen subsumierbar gewesen wäre. Selbst wenn der vor dem Berufungswerber fahrende Fahrzeuglenker beim beabsichtigten Einbiegevorgang sein Fahrzeug nicht abrupt abgebremst hat, bestand für den Berufungswerber gemäß § 18 Abs 1 StVO umso mehr die Verpflichtung,
auf ein gefahrloses Anhalten hinter dem abbremsenden Fahrzeug im Sinne einer Einhaltung des notwendigen Tiefenabstandes zu achten. Eine diesbezügliche, im Sinne unbewußter Fahrlässigkeit vorzuwerfende Übertretung fiele jedoch wie bereits erläutert unter die Bestimmung des § 18 Abs 1 StVO, zumal die im § 20 Abs 1 StVO angeführten besonderen Umstände die Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse betreffend, nicht festgestellt werden konnte und zudem entgegen der Ansicht der belangten Behörde eine Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit hinsichtlich des Übersehens des Blinkvorganges des vor dem Berufungswerber fahrenden Fahrzeuges nicht bei den angeführten besonderen Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angesiedelt werden kann.
Aus den angeführten Erwägungen war somit
festzustellen, daß dem Berufungswerber innerhalb der gesetzlichen Fristen des § 31 VStG eine § 44 a VStGkonforme Tatanlastung nicht vorgeworfen worden ist, weshalb auf Basis der zitierten gesetzlichen Bestimmungen und der darauf basierenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wie im Spruch ersichtlich zu entscheiden war.