Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch das Senatsmitglied Dr. Monika Gasser-Steiner über die Berufung des Herrn K.O., vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Willibald Rath und Dr. Manfred Rath, Friedhofgasse 20, 8030 Graz, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Graz vom 24.3.1995, GZ.: III/St-10.345/94, nach Durchführung einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung, wie folgt entschieden:
Die Berufung wird gemäß § 66 Abs 4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) abgewiesen.
Gemäß § 64 Abs 1 und 2 VStG hat der Berufungswerber als Beitrag zu den Kosten des Berufungsverfahrens den Betrag von ÖS 300,-- binnen vier Wochen ab Zustellung dieses Bescheides bei sonstigen Zwangsfolgen zu leisten.
Mit dem bekämpften Straferkenntnis wurde dem Berufungswerber zur Last gelegt, er habe am 13.4.1994 um 13.49 Uhr in Graz 4, Kreuzung Annenstraße-Bahnhofgürtel-Eggenberger Gürtel, als Lenker des EGTW, die Fahrgeschwindigkeit nicht den gegebenen Umständen, insbesondere nicht den Verkehrsverhältnissen angepaßt, weil es zu einem Verkehrsunfall gekommen sei.
Wegen Übertretung der Rechtsvorschrift des § 20 Abs 1 VStG wurde über den Berufungswerber gemäß § 99 Abs 3 lit a StVO eine Geldstrafe von S 1.500,--, bei deren Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen verhängt und als Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens der Betrag von S 150,-- vorgeschrieben.
Im rechtzeitig erhobenen Rechtsmittel führte der Berufungswerber im wesentlichen aus, bereits bei der ersten Erhebung angegeben zu haben, mit Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren zu sein, zumal diese noch von keinem Fahrzeug, das auf den Schienen gestanden wäre, besetzt gewesen sei. Erst als sich der Vorderteil des Straßenbahnzuges in der Kreuzung befunden habe, habe die Zweitbeteiligte am Verkehrsunfall, Frau Mag. Pf., entgegen den Vorschriften der StVO knapp vor dem herannahenden EGTW die Schienen befahren. Dies habe die Lenkerin des PKWs deshalb getan, weil sie vorerst annehmen habe können, daß sie ihre Fahrt fortsetzen könne. Dies sei aber dann plötzlich wegen des Gegenverkehrs nicht mehr möglich gewesen; sie habe ihr Fahrzeug anhalten müssen, das mit dem Heck noch auf den Schienen gestanden habe. Trotz Einleitung einer Gefahrenbremsung habe der Berufungswerber einen leichten Anstoß nicht vermeiden können.
Das Straferkenntnis sei ohne Durchführung eines Ortsaugenscheines und ohne Beiziehung eines KFZ-Sachverständigen ergangen und stütze sich nur auf die vagen Angaben der Zeuginnen, die weder zeitlich, noch räumlich konkrete Angaben machen hätten können. Aus einer Wegzeitberechnung und Demonstration an der Unfallsörtlichkeit hätten erst konkrete Schlüsse gezogen werden können. Es wurde beantragt, in Stattgebung der Berufung das angefochtene Straferkenntnis zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren zur Einstellung zu bringen.
Am 29.1. und am 5.3.1996 hat vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat eine mündliche Verhandlung unter Mitwirkung des Berufungswerbers und seines Rechtsvertreters stattgefunden, bei der Frau Mag. Pf., Frau EPf. und Frau I.L. als Zeuginnen - unter Heranziehung einer maßstabgetreuen Skizze der verfahrensgegenständlichen Kreuzung - zum Vorfall befragt wurden.
Anhand der so gewonnenen Beweisergebnisse können folgende Feststellungen getroffen werden:
Die Kreuzung Annenstraße-Eggenberger Gürtel-Bahnhofgürtel ist eine zu jeder Tageszeit stark befahrene Kreuzung, die durch mehrere Verkehrssignalanlagen geregelt ist. Sowohl die Annenstraße als auch der Bahnhofgürtel und der Eggenberger Gürtel führen an die Kreuzung gleichzeitig parallelfahrende Verkehrsströme heran, wobei an allen vier Kreuzungseinmündungen ein Fahrstreifen für Linksabbieger vorgesehen ist. Die Gleiskörper der Straßenbahn führen durch die Kreuzungsmitte in westöstliche Richtung (Verbindungsstrang Stadtmitte Graz nach Eggenberg und Wetzelsdorf).
Am 13.4.1994, gegen 13.49 Uhr ereignete sich auf oben beschriebener Kreuzung ein Verkehrsunfall, bei dem der Berufungswerber als Lenker des EGTW und Frau Mag. Pf. als Lenkerin des PKW VO.. beteiligt waren. Frau Mag. Pf. befuhr die Annenstraße stadtauswärts in westliche Richtung und reihte sich kurz vor der Einmündung der Annenstraße in die Kreuzung in die Linksabbiegespur ein, in der Absicht, die Kreuzung in Richtung Eggenberger Gürtel in südliche Richtung zu verlassen. Nach Einleitung der Grünphase fuhr sie als letztes Fahrzeug einer längeren Fahrzeugreihe in die Kreuzung ein und mußte in der Mitte des Kreuzungsbereiches ihr Fahrzeug anhalten, nachdem die vor ihr fahrende Kolonne zum Stillstand gekommen ist. Mit dem Heck ihres PKW verstellte sie einen Teil des Gleiskörpers. Zur gleichen Zeit fuhr der Berufungswerber mit seinem Straßenbahnzug aus Richtung Eggenberg kommend auf
die Kreuzung zu. Nachdem er die letzte Haltestelle vor der Kreuzung, die Haltestelle Wagner-Biro-Straße, passiert hatte, mußte er den Straßenbahnzug vor der Einfahrt in die Kreuzung trotz Grünphase anhalten, weil der Linksabbiegeverkehr der Annenstraße sowohl nach Süden als auch nach Norden freie Fahrt erhalten haben. Er wartete den Linksabbiegeverkehr in Richtung Norden (Bahnhofgürtel) ab. In der Folge setzte er sein Schienenfahrzeug langsam in Bewegung und fuhr auf die Kreuzungsmitte zu. Zu diesem Zeitpunkt war ein Teil des Gleiskörpers noch vom PKW der Frau Mag. Pf. verstellt, die als Linksabbiegerin in Richtung Süden die Kreuzung nicht verlassen konnte, weil die Fahrzeuge vor ihr verkehrsbedingt nicht weiterfuhren. Der Berufungswerber konnte sein Fahrzeug trotz geringer Geschwindigkeit nicht mehr rechtzeitig anhalten und fuhr auf den PKW von Frau Mag. Pf. auf. Am EGTW wurde durch den Anstoß das Glas des rechten vorderen Blinker beschädigt. Der PKW der Zweitbeteiligten wurde an der rechten Längsseite beschädigt. Frau Mag. Elfriede Pf. und ihre Mutter als Beifahrerin wurden leicht verletzt.
Diese Feststellungen gründen sich auf die in der Zusammenschau widerspruchslosen Aussagen von Frau Mag. Pf., Frau Elfriede Pf. (Insassen des zweitbeteiligten Fahrzeuges) und Frau I.L., einer unbeteiligten Zeugin. Aus den Zeugenaussagen geht klar hervor, daß der Berufungswerber seinen Straßenbahnzug bereits zu einem Zeitpunkt in Bewegung gesetzt hat, als der Gleiskörper vom Fahrzeug der Zeugin Pf. noch teilweise verstellt war, er in der Folge auf ein stehendes Auto zu- und aufgefahren ist. Die Angaben des Berufungswerbers zum Ablauf des Geschehens decken sich im wesentlichen mit den Zeugenaussagen (geringe Fahrgeschwindigkeit, Auffahren auf ein stehendes Fahrzeug); soweit sie von diesen abweichen, kann ihnen aufgrund der anderslautenden glaubhaften Zeugenaussagen nicht gefolgt werden. Es bleibt eine unbestrittene Tatsache, daß der Berufungswerber bereits auf ein stehendes Fahrzeug zugefahren ist. Weiters hat der Berufungswerber im Verfahren selbst eingeräumt, das Fahrzeug von Frau Mag. Pf. möglicherweise übersehen zu haben, nachdem er bei seiner Anfahrt in die Kreuzung gleichzeitig mehrere Verkehrsentwicklungen beobachten habe müssen. Vor dem Hintergrund dieser Beweislage war es nicht erforderlich, die gestellten Beweisanträge (Ortsaugenschein, Sachverständigengutachten) abzuführen, nachdem der entscheidungsrelevante Sachverhalt anhand der Parteien- und Zeugenbefragung unter Zuhilfenahme einer maßstabsgetreuen Skizze geklärt werden konnte.
Zur rechtlichen Beurteilung ist folgendes auszuführen:
Gemäß § 20 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten
Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Er darf auch nicht so schnell fahren, daß er andere Straßenbenützer oder an der Straße gelegene Sachen beschmutzt oder Vieh verletzt, wenn dies vermeidbar ist. Er darf auch nicht ohne zwingenden Grund so langsam fahren, daß er den übrigen Verkehr behindert.
Dem Berufungswerber wurde vorgehalten, er habe im Anfahren an die Kreuzung Annenstraße-Eggenberger Gürtel-Bahnhofgürtel die Fahrgeschwindigkeit des von ihm gelenkten EGTW nicht den gegebenen Umständen, insbesondere den Verkehrsverhältnissen angepaßt. Der Berufungswerber vertritt nach Durchführung der Beweise nach wie vor den Standpunkt, ihm sei eine Übertretung der oben zitierten Vorschrift nicht vorzuwerfen. Wie im Verfahren hervorgekommen sei, sei der Berufungswerber langsam in die Kreuzung eingefahren und habe somit seine Geschwindigkeit den Verkehrsverhältnissen angepaßt gewählt. Er habe von einer gewissen Erwartungshaltung ausgehen können, daß die sich in der Kreuzung noch befindlichen Fahrzeuge diese entsprechend ihrer Räumungsverpflichtung nach § 28 Abs 2 StVO auch räumen werden. Sollte dem Berufungswerber ein Aufmerksamkeitsfehler unterlaufen sein, wäre dies eine im Zivilrecht bedeutsame Verschuldensfrage. Sie rechtfertige jedoch nicht eine Bestrafung wegen einer Übertretung des § 20 Abs 1 StVO.
Dem ist Nachstehendes entgegenzuhalten:
Wie bereits aus dem oben zitierten Gesetzestext des § 20 Abs 1 StVO deutlich hervorgeht, ist bei der Beurteilung der Frage, ob der Fahrzeuglenker seiner Verpflichtung, die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen Umständen, insbesondere den Verkehrsverhältnissen sowie den Eigenschaften vom Fahrzeug anzupassen,
nachgekommen ist, auf die konkreten Umstände abzustellen.
Die hier maßgeblichen Verkehrsverhältnisse an der Kreuzung Annenstraße-Bahnhofgürtel-Eggenberger Gürtel, eine der meistbefahrensten Kreuzungen in Graz, erfordern die volle Aufmerksamkeit eines Fahrzeuglenkers. Im Kreuzungsbereich ist mit Kolonnenverkehr, Querverkehr, Gegenverkehr und dementsprechend auch mit unvorhersehbaren Entwicklungen im Verkehrsgeschehen zu rechnen. Diesen hohen Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Fahrzeuglenkers hat die von ihm einzuhaltende Geschwindigkeit zu korrespondieren, wobei auch die Eigenschaften des gelenkten Fahrzeuges in die Wahl der Geschwindigkeit miteinzubeziehen sind.
Bezogen auf den festgestellten Sachverhalt ist davon auszugehen, daß der Berufungswerber zwar langsam in die Kreuzung eingefahren ist, die gewählte Geschwindigkeit jedoch weder im Hinblick auf die hohen Aufmerksamkeitserfordernisse noch im Hinblick auf die Eigenschaften des von ihm gefahrenen Schienenfahrzeuges den konkreten Verkehrsverhältnissen angepaßt war. Der Berufungswerber ist laut seinen Angaben seit 1984 als Straßenbahnfahrer tätig; aufgrund seiner langjährigen Erfahrung müssen ihm die besonderen Fahreigenschaften der Straßenbahn insbesondere der lange Bremsweg bekannt sein. Der Berufungswerber hätte sich unter den gegebenen Umständen mit dem Straßenbahnzug nur langsam in die Kreuzungsmitte vortasten dürfen, um auch noch auf Entwicklungen reagieren zu können, die für ihn aufgrund der Komplexität des Verkehrsgeschehens nicht vollständig überblickbar waren. Mit dem oben dargelegten Standpunkt gibt der Berufungswerber zu erkennen, daß er zum Zeitpunkt, als er das Schienenfahrzeug in Bewegung setzte, eine problemlose Auflösung des Kreuzungsverkehrs vorwegnahm und dementsprechend seine Fahrgeschwindigkeit auf eine angenommene Verkehrssituation abstellte, die sich in der Folge anders als erwartet entwickelte.
Der erfolgte Zusammenstoß ist daher zum einen auf eine Reaktionsverspätung des Berufungswerbers (Übersehen der Fahrzeuglenkerin) und zum anderen auf die der Eigenschaft des Schienenfahrzeuges nicht
angemessenen Wahl der Geschwindigkeit
zurückzuführen. Der Berufungswerber hätte jene Geschwindigkeit wählen müssen, die es ihm ermöglicht hätte, das Schienenfahrzeug nach Erkennen der Gefahrensituation (Einsetzen einer Reaktion) noch rechtzeitig anhalten zu können. Daran ändert auch nichts die für andere Straßenbenützer bestehende Verpflichtung, die Gleise jedenfalls so rasch wie möglich zu verlassen, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen. Diese Räumungsverpflichtung kann nur dann greifen, wenn die Verkehrslage ein Verlassen des Gleiskörpers zuläßt. Dies war hier nicht gegeben.
Aufgrund der dargestellten Überlegungen hat die belangte Behörde dem Berufungswerber zurecht eine Übertretung des § 21 Abs 1 StVO zur Last gelegt.
Zur Strafbemessung ist auszuführen:
Gemäß § 19 Abs 1 VStG ist Grundlage für die Bemessung der Strafe stets das Ausmaß der mit der Tat verbundenen Schädigung oder Gefährdung derjenigen Interessen, deren Schutz die Strafdrohung dient, und der Umstand, inwieweit die Tat sonst nachteilige Folgen nach sich gezogen hat.
Die vom Berufungswerber übertretene Bestimmung der StVO verfolgt gerade den Zweck, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen und Verkehrsunfälle zu vermeiden. Dadurch, daß der Berufungswerber eine nicht verkehrs- und fahrzeugadäquate Geschwindigkeit gewählt hat, hat er einen Verkehrsunfall verursacht und damit den Schutzzweck der Norm verletzt.
§ 19 Abs 2 VStG normiert, daß bei der Bemessung der Strafhöhe nach dem Zweck der Strafdrohung in Betracht kommende Erschwerungs- und Milderungsgründe gegeneinander abzuwägen sind, wobei auf das Ausmaß des Verschuldens besonders Bedacht zu nehmen ist.
Im Sinne dieser Gesetzesstelle wurden weder Milderungs- noch Erschwerungsgründe angenommen. Die von der belangten Behörde vorgenommene
Strafbemessung entspricht den oben zitierten Zumessungskriterien. Die verhängte Strafe ist insbesondere auch unter Einbeziehung der Folgen der Tat gerechtfertigt und schuldangemessen.
Die Einkommens-, Vermögens- und Familienverhältnisse (monatliches Nettoeinkommen von S 15.000,-- bis S 16.000,--, keine Sorgepflichten, kein Vermögen) wurden bei der Strafbemessung berücksichtigt; sie waren nicht geeignet, strafherabsetzend zu wirken.
Die Bemessung des Kostenbeitrages des Verwaltungsstrafverfahrens zweiter Instanz ergibt sich aus § 64 Abs 1 und 2 VStG, wonach im Fall der vollinhaltlichen Bestätigung des Verwaltungsstrafverfahrens erster Instanz durch die Berufungsbehörde dieser Betrag mit 20 Prozent der verhängten Strafe festzusetzen ist.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.