Der Berufung zu Spruchpunkte 1. und 2. wird Folge gegeben. Die genannten
Spruchpunkte werden aufgehoben.
Das Strafverfahren zu den genannten Spruchpunkten wird eingestellt.
Rechtsgrundlagen:
§66 Abs4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl Nr 51,
in der derzeit geltenden Fassung und §§24 und 45 Abs1 Z2
Verwaltungsstrafgesetz
1991 (VStG), BGBl Nr 52, in der derzeit geltenden Fassung.
Mit dem angefochtenen Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion xx vom 8. März 1995, Zl St ****/94/M, wurde über den Berufungswerber
1. wegen Übertretung des §13 Abs3 StVO 1960 nach §99 Abs3 lita legcit eine Geldstrafe in der Höhe von S 1.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe: 34 Stunden) und
2. wegen Übertretung des §19 Abs6 iVm §19 Abs7 StVO 1960 nach §99 Abs3 lita legcit eine Geldstrafe in der Höhe von S 1.000,--
(Ersatzfreiheitsstrafe: 34 Stunden) verhängt.
Im Spruch dieses Straferkenntnisses wurde es als erwiesen angesehen,
daß der Berufungswerber am 28. Juli 1994, um 13,55 Uhr, in xx, S******** Nr **, den PKW
mit dem Kennzeichen P-**** A gelenkt hat und
1. sich beim Ausfahren aus einer Haus- und Grundstückseinfahrt nicht von einer geeigneten Person hat einweisen lassen, obwohl es die
Verkehrssicherheit erfordert hätte und
2. einem bevorrangten Verkehrsteilnehmer den Vorrang genommen hat, wodurch dieser zum unvermittelten Abbremsen genötigt wurde. In der dagegen fristgerecht eingebrachten Berufung wurde im wesentlichen
eingewendet, daß eine Vorrangverletzung nicht erfolgt sei, zumal der Lenker des
anderen Kraftfahrzeuges eine Kollision lediglich durch eine geringe Geschwindigkeitsreduktion, nicht jedoch durch eine Notbremsung, hätte verhindern
können. Dies ergäbe eine Zeit-Wegberechnung, weshalb die Beiziehung
eines
technischen Amtssachverständigen beantragt wurde.
Aufgrund der an der Örtlichkeit herrschenden Sichtverhältnisse habe
es nicht
eines Einweisers bedurft. Ein Einweiser sei dann nicht beizuziehen, wenn die Straße so weit überblickt werden könne, daß ein anderer mit zulässiger
Geschwindigkeit und auf Sicht fahrender Verkehrsteilnehmer die Gefahrenquelle
bei gehöriger Aufmerksamkeit zeitgerecht erkennen und rechtzeitig
anhalten
könne.
Der Berufungswerber beantragte die Abhaltung eines Lokalaugenscheines unter
Beiziehung eines technischen Sachverständigen sowie die Aufhebung des
angefochtenen Straferkenntnisses und die Einstellung des Strafverfahrens.
Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land NÖ hat hiezu in Entsprechung des §51e
Abs1 VStG eine öffentliche mündliche Verhandlung unter gleichzeitiger
Durchführung eines Lokalaugenscheines an Ort und Stelle durchgeführt, in welcher
durch Einvernahme des Berufungswerbers und des Zeugen RI B Beweis erhoben wurde.
Der technische Amtssachverständige hat in der öffentlichen mündlichen
Verhandlung folgenden Befund und folgendes Gutachten auf Grundlage
der in der Verhandlung erzielten Prämissen erstellt:
Befund:
Bei der Hausausfahrt S******** Nr ** ist ein Vorgarten, ein ca 2 m breiter
Gehsteig, sodann die Fahrbahn des Schulringes mit einer Gesamtbreite von 10 m.
Der nördliche Fahrstreifen ist vom südlichen durch eine Sperrlinie getrennt und
hat dieser eine Breite von 4,6 m. Wenn man mit einem PKW bis zum Fahrbahnrand
hin fährt, ergibt sich eine Sicht in beide Richtungen des Schulringes.
Insbesondere ist es möglich, die Ampel mit der Kreuzung J********** zu
beobachten. In östlicher Richtung ist die Sicht durch parkende Fahrzeuge
möglicherweise beeinträchtigt. Von der Hausausfahrt bis zur Mitte des
K************ ist eine Strecke von 85 m bis zum östlichen Ende der Plakatwand,
westlich vom K********** eine Strecke von 67 m.
Gutachten:
Geht man davon aus, daß der Berufungswerber mit seinem Fahrzeug in die
J********** rückwärtsfahrend einfuhr, als das behinderte Fahrzeug auf Höhe der Plakatwand am Ende des K************ fuhr, so wie es der Zeuge Insp B angegeben
hat, so ergibt sich, daß der Lenker bei einer Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h
innerhalb einer Zeitspanne von 2 sec eine Strecke von 27,8 m zurücklegte. Somit
blieben ihm für einen Abbremsvorgang ca 32 m, wenn man berücksichtigt, daß der Berufungswerber mit seinem Fahrzeug durch die Bogenfahrt bis ca 7 m östlich der Hausausfahrt kam. Diese Strecke stand ihm zum Abbremsen zur Verfügung, und es
bedurfte bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h nur einer
Bremsverzögerung von 3 m/sec2. Vom fahrtechnischen Standpunkt aus gesehen,
ergibt sich, daß er bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h in Anbetracht
einer Vorbremszeit von 2 sec nicht zum unvermittelten Bremsen genötigt war. Die
notwendige Bremsverzögerung von 3 m/sec2 liegt unterhalb einer mittleren
Betriebsbremsung. Wenn der Zeuge B angegeben hat, daß der behinderte Lenker sein
Fahrzeug so stark abbremste, daß die Reifen quietschten, so kann das nur dadurch
erklärt werden, daß dieser entweder eine weitaus höhere
Fahrgeschwindigkeit als
50 km/h einhielt oder verspätet reagierte.
Aufgrund des durchgeführten Lokalaugenscheines und Beweisverfahrens war davon
auszugehen, daß an der Örtlichkeit entsprechend dem oben wiedergegebenen Befund
ausreichende Sichtverhältnisse bestehen, sodaß sich jene Person, die mit einem Kraftfahrzeug die Zufahrt zum Haus Nr ** verläßt, im Falle eines verkehrstechnisch richtigen Verhaltens, nämlich eines schrittweisen Hinaustastens in den Fahrbahnbereich und einer entsprechend ausreichenden
Beobachtung und Abschätzung des übrigen Fahrzeugverkehres, nicht eines
Einweisers bedienen muß, um die Verkehrssicherheit nicht zu gefährden.
Die Bestimmung des §13 Abs3 StVO 1960 ist nur für extreme Fälle gedacht, in
welchen nach den Umständen des Einzelfalles damit gerechnet werden muß, daß ein
anderer Verkehrsteilnehmer selbst bei vorschriftsmäßiger Fahrweise nur schwer
oder überhaupt nicht mehr einen Zusammenstoß mit dem für ihn
plötzlich
auftauchenden Fahrzeug verhindern kann.
Im gegenständlichen Fall war die Beiziehung eines Einweisers aus
Gründen der Verkehrssicherheit, zumal die Sicht nach links und rechts
ausreichend ist, nicht
erforderlich.
Zu Spruchpunkt 2. war im Hinblick auf die Aussage des als Zeugen
vernommenen RI
B davon auszugehen, daß durch das vom Berufungswerber durchgeführte Ausfahrtmanöver nach rückwärts in den Bereich der Fahrbahn des S********** der
in westlicher Richtung fahrende Opel Vectra zu einem hörbaren Abbremsmanöver
veranlaßt wurde. Dies ergab sich aus der Aussage des Zeugen RI B, wonach
derselbe den Vorgang eindeutig beobachten und auch das Quietschen
der Reifen
hören konnte.
Da jedoch unter notwendiger Zugrundelegung einer vorschriftsmäßigen Annäherungsgeschwindigkeit des Fahrzeugverkehres auf der Hauptfahrbahn von 50
km/h unter gleichzeitiger Berücksichtgung der Ausführungen des technischen
Sachverständigen im Gutachten davon auszugehen war, daß eine Nötigung zum
unvermittelten Abbremsen oder Auslenken nicht entstehen konnte und allfällige
Fehlreaktionen des Lenkers des auf dem Schulring in westliche Richtung fahrenden
Fahrzeuges, wie zB eine überhöht gewählte Geschwindigkeit oder eine verspätete
Reaktion, nicht zu Lasten des Lenkers jenes Fahrzeuges gewertet werden konnten,
der sich aus dem ruhenden Verkehr in den Fließverkehr einordnete, war davon
auszugehen, daß der Berufungswerber das ihm angelastete Tatbild in
subjektiver
Hinsicht nicht erfüllt hat.
Es waren daher aus den oben genannten Gründen die Spruchpunkte 1. und 2.
aufzuheben das Strafverfahren in beiden Fällen nach §45 Abs1 Z2 VStG einzustellen.