Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch die Kammermitglieder Dr. Merl, Dr. Hütter und Dr. Ruiner über die Berufung des Herrn G D, vertreten durch Dr. H R, Rechtsreferent der Wirtschaftskammer Stmk., G, gegen Punkt 1.) des Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Liezen, Pol. Exp.
Bad Aussee, vom 5.6.2000, GZ.: 15.1 2000/37, wie folgt entschieden:
Gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (im Folgenden AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (im Folgenden VStG) wird der Berufung Folge gegeben, das Straferkenntnis aufgehoben und das Verfahren nach § 45 Abs 1 Z 1 und Z 3 VStG eingestellt.
Die Bezirkshauptmannschaft Liezen, Politische Expositur Bad Aussee warf dem nunmehrigen Berufungswerber mit
Straferkenntnis Folgendes vor:
Punkt 1.)
Sie haben als persönlich haftender Gesellschafter und somit als zur Vertretung nach außen Berufener und gemäß § 9 VStG verwaltungsstrafrechtlich Verantwortlicher der Fa. E J D & Co., B A, nicht dafür Sorge getragen, dass den Bestimmungen der Bauarbeiterschutzverordnung entsprochen wurde. Wie anlässlich einer am 20.10.1999 vom Arbeitsinspektionsorgan Ing. S auf der Baustelle "Mehrfamilienhäuser L" in A beim Haus 1 durchgeführten Unfallserhebungen festgestellt wurde, ereignete sich am 19.10.1999 auf der angeführten Baustelle ein schwerer Arbeitsunfall, indem der Arbeitnehmer J S, beim Übersteigen vom zuerst erreichten Pultdach des Müllraumes auf das Dach des Carports ca. 3 m abstürzte und dabei schwer verletzt wurde. Herr S führte zuvor die Montage der Blitzschutzanlage durch und wollte diese fertigstellen. Er führte die Arbeiten in völlig ungesicherter Weise durch, obwohl die Absturzhöhe ca. 3 m und die Dachneigung ca. 40 Grad betrug.
Punkt 2.)
Weiters haben Sie in der angeführten Eigenschaft es unterlassen, dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer J S, am Verkehrsweg auf dem Pultdach (von der Aufstiegsleiter zum Arbeitsplatz auf dem Dach des Carports) angeseilt war. Das Pultdach wies eine Dachneigung von ca. 18 Grad auf und war mit Blech eingedeckt. Der Verkehrsweg führte an dessen Saumseite entlang. Ein Ausgleiten war stets möglich. Die mögliche Absturzhöhe betrug ca. 3 m."
Dadurch seien folgende Rechtsvorschriften verletzt worden: 1.) § 87 Abs 3 iVm Abs 5 Z 2 Bauarbeiterschutzverordnung - BauV, 2.) § 7 Abs 4 iVm § 30 BauV
Nach § 130 Abs 5 Z 1 Arbeitnehmerschutzgesetz - AnSchG wurden Geldstrafen (Ersatzfreiheitsstrafen) verhängt. Der Beschuldigte berief und macht zu Punkt 1.) geltend, er habe die Übertretung nicht begangen, weil die Absturzhöhe nur 2,93 m betragen habe, § 87 Abs 3 BauV, aber erst für Arbeiten mit einer Absturzhöhe von mehr als 3 m gelte.
Auch die Übertretung im Punkt 2.) habe er nicht begangen: Es hätten günstige Witterungsverhältnisse vorgelegen, die belangte Behörde habe auf (ungünstige) Witterungsverhältnisse nur rückgeschlossen, wenn sie ausführe: "... angenommen werden muss, dass die Dachfläche wegen des Ausrutschens noch nicht trocken war". Er beantrage die nochmalige Einvernahme der Zeugen und seine Einvernahme. Hilfsweise beantrage er auch die Herabsetzung der Geldstrafen auf die jeweilige Mindeststrafe von S 2.000,--.
Zu Punkt 1.) ist ein Sachverhalt zu beurteilen, für dessen Subsumption grundsätzlich die §§ 7 und 87 BauV in Fragen kommen:
§ 7 gehört zum ersten Abschnitt "Allgemeine Bestimmungen" und lautet:
(1) Bei Absturzgefahr sind Absturzsicherungen (§ 8), Abgrenzungen (§ 9) oder Schutzeinrichtungen (§ 10) anzubringen.
(2) Absturzgefahr liegt vor:
1.
Bei Öffnungen und Vertiefungen im Fuß- oder Erdboden, wie Schächten, Kanälen, Gruben, Gräben und Künetten, bei Öffnungen in Geschoßdecken, wie Installationsöffnungen oder in Dächern, wie Lichtkuppel oder Sheddachöffnungen,
2.
An Arbeitsplätzen, Standplätzen und Verkehrswegen über Gewässern oder anderen Stoffen, in denen man versinken kann,
3.
An Wandöffnungen, an Stiegenläufen und -potesten sowie an Standflächen zur Bedienung oder Wartung von stationären Maschinen bei mehr als 1,00 m Absturzhöhe,
4.
An sonstigen Arbeitsplätzen, Standplätzen und Verkehrswegen bei mehr als 2,00 m Absturzhöhe.
(3)......
(4) Die Anbringung von Absturzsicherungen (§ 8) oder
Schutzeinrichtungen (§ 10) kann entfallen, wenn der hiefür
erforderliche Aufwand unverhältnismäßig hoch gegenüber dem
Aufwand für die durchzuführende Arbeit ist. in diesen Fällen
müssen die Arbeitnehmer entsprechend § 30 sicher angeseilt sein.
(5)......
§ 87 gehört zum 11. Abschnitt "Arbeiten auf Dächern" und ist mit Allgemeines
(1) Bei Arbeiten auf Dächern bis zu einer Absturzhöhe von 3,00 m dürfen Absturzsicherungen, Abgrenzungen und Schutzeinrichtungen abweichend vom § 7 entfallen, wenn die Arbeiten bei günstigen Witterungsverhältnissen sowie von unterwiesenen, erfahrenen und körperlich geeigneten Arbeitnehmern durchgeführt werden. In diesem Fall kann auch die Sicherung der Arbeitnehmer durch Anseilen entfallen, ausgenommen bei Arbeiten am Dachsaum und bei Arbeiten auf Dächern mit einer Neigung von mehr als 45 . § 7 Abs 1 Z 2 bleibt unberührt.
(2) Bei Arbeiten auch Dächern mit einer Neigung bis zu 20 und einer Absturzhöhe von mehr als 3,00 m müssen Absturzsicherungen oder Schutzeinrichtungen gemäß § 7 bis 10 vorhanden sein.
(3) Bei Arbeiten auf Dächern mit einer Neigung von mehr als 20 und einer Absturzhöhe von mehr als 3,00 m müssen geeignete Schutzeinrichtungen vorhanden sein, die den Absturz von Mengen, Materialien und Geräten in sicherer Weise verhindern.
Bei besonderen Gegebenheiten, wie auf glatter, nasser oder
vereister Dachhaut, die ein Ausgleiten begünstigen, müssen auch
bei geringerer Neigung solche Schutzeinrichtungen vorhanden
sein. Geeignete Schutzeinrichtungen sind Dachschutzblenden und
Dachfanggerüste (§ 88)
(4)......
(5) Das Anbringen von Schutzeinrichtungen nach Abs 3 darf nur
entfallen, bei
1.
geringfügigen Arbeiten, wie Reparatur oder Anstricharbeiten, die
nicht länger als einen Tag dauern,
2.
Arbeiten am Dachsaum oder im Giebelbereich.
In diesen Fällen müssen die Arbeitnehmer mittels
Sicherheitsgeschirr angeseilt sein.
(6) Bei Arbeiten auf Dächern mit einer Neigung von mehr als 45
müssen die Arbeitnehmer zusätzlich zu den nach Abs 3
erforderlichen Schutzeinrichtungen angeseilt sein.
(7) - (9)......"
Nach dem Spruch des Straferkenntnisses im Punkt 1.) führte der Arbeitnehmer die Arbeiten "in völlig ungesicherter Weise durch, obwohl die Absturzhöhe ca. 3 m und die Dachneigung ca. 40 Grad betrug", nach Tatbestand 1 der Strafanzeige des Arbeitsinspektorates Leoben vom 27. Dezember 1999 hat der Arbeitgeber nicht dafür gesorgt, dass der Arbeitnehmer bei Arbeiten am Dach des Carports durch ein Sicherheitsgeschirr angeseilt war.
Die Verpflichtung, geeignete Schutzeinrichtungen zu verwenden, sieht § 87 Abs 3 BauV unter anderem erst dann vor, wenn die Absturzhöhe mehr als 3 m beträgt. Im Straferkenntnis ist von einer Absturzhöhe von ca. 3 m die Rede, ebenso in der Strafanzeige; dass die Absturzhöhe mehr als 3 m betragen hätte, ist ein wesentliches Tatbestandsmerkmal, ist aber in keiner der drei innerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist bis 19. April 2000 ergangenen Verfolgungshandlungen enthalten: 1.) der Aufforderung zur Rechtfertigung vom 2.2.2000, 2.) der Niederschrift über die Vernehmung des Beschuldigten vom 8.2.2000, 3.) der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 3.4.2000.
Die Regelung des Abs 5 orientiert sich an Abs 3, weshalb die Anseilpflicht bei Entfall der Schutzeinrichtungen auch nur dann besteht, wenn die Absturzhöhe mehr als 3 m beträgt. Daraus folgt, dass hier eine Pflicht des Arbeitnehmers sich im Sinne des Abs 5 des § 87 BauV anzuseilen, nicht bestand, wie in der Berufung richtig vorgebracht.
In der Stellungnahme vom 20. März 2000 nahm das Arbeitsinspektorat Leoben einen Schwenk in der rechtlichen Beurteilung vor: Auch bei einer Absturzhöhe unter 3 m sei der Arbeitnehmer durch Anseilen nach § 87 Abs 1 BauV zu sichern und nur bei ausreichend günstigen Witterungsverhältnissen könnten die Schutzeinrichtungen entfallen. Weiters schreibe § 7 Abs 2 Z 4 BauV vor, dass bei Verkehrswegen bei einer Absturzhöhe über 2 m Schutzeinrichtungen anzubringen seien. Festgehalten werde noch, dass auf den Fotos ersichtlich sei, dass in der Nähe der Absturzstelle und im Firstbereich bereits eine Blitzschutzleitung verlegt worden sei. "Hier käme auf jeden Fall die Bestimmung des § 87 Abs 1 BauV) zum Tragen, dass im Saumbereich des Daches - auch bei geringerer Traufenhöhe als 3,0 m - die Arbeitnehmer durch Schutzausrüstungen (wie anseilen) gegen Absturz zu sichern gewesen wären." Der Inhalt dieser Stellungnahme wurde dem Beschuldigten am 20. April 2000 und damit außerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist zur Kenntnis gebracht.
Kann der Sachverhalt statt § 87 Abs 5 BauV dem § 87 Abs 1 BauV unterstellt werden?
Das Dach hatte eine Neigung von 40 Grad und damit weniger als 45 , wie im § 87 Abs 1 festgelegt, die Pflicht sich anzuseilen, besteht daneben nur bei Arbeiten am Dachsaum. Im Straferkenntnis und in den drei genannten Verfolgungshandlungen kommt nicht zum Ausdruck, dass Arbeiten am Dachsaum stattgefunden hätten, es wird aber auch nicht gesagt, dass Absturzsicherungen, Abgrenzungen und Schutzeinrichtungen deswegen nicht entfallen durften, weil die Arbeiten bei ungünstigen Witterungsverhältnissen und von nicht unterwiesenen, nicht erfahrenen und nicht körperlich geeigneten Arbeitnehmern durchgeführt worden seien; das wäre aber erforderlich gewesen, denn auch diese "negativen" Sachverhaltselemente sind Bestandteile des Tatbildes des § 87
(1) 1. Satz BauV und müssen bereits in der Verfolgungshandlung enthalten sein. Der Sachverhalt im Straferkenntnis, der Arbeiter habe "in völlig ungesicherter Weise" gearbeitet, kann daher auch nicht dem § 87 Abs 1 erster Satz BauV unterstellt bzw. in diesem Sinn umgedeutet werden. Der Berufung ist somit Folge zu geben, das Straferkenntnis aufzuheben und das Verfahren einzustellen, und zwar nach § 45 Abs 1 Z 1 VStG, weil die Tat keine Verwaltungsübertretung bildet, aber auch nach Z 3, weil hinsichtlich des Sachverhaltselementes "Arbeiten am Dachsaum" Verfolgungsverjährung eingetreten ist.
Ist der Hinweis des Arbeitsinspektorates in der Stellungnahme vom 20.3.2000 zutreffend, wonach im Sinne des § 7 Abs 2 Z 4 BauV ein Verkehrsweg mit einer Absturzhöhe über 2 m vorgelegen habe?
§ 87 handelt von Arbeiten auf Dächern, nach seinem Abs 1 können Sicherungsmaßnahmen "abweichend von § 7" entfallen, nur § 7 Abs 2 Z 1 bleibt unberührt. Soweit es sich um Arbeiten auf Dächern handelt, ist daher neben § 87 (1) BauV für eine Anwendung des § 7 kein Raum. Jedoch ist bei der Entscheidung über die Berufung gegen Punkt 2.) zu prüfen, ob dort ein Verkehrsweg vorlag, der ein Anseilen der Arbeitnehmer verlangt hätte.
Da sich die Aufhebung des Straferkenntnisses bereits auf Grund der Aktenlage ergibt, kann die Entscheidung ohne öffentliche mündliche Verhandlung getroffen werden (§ 51 e Abs 2 Z 1 VStG). Über die Berufung gegen Punkt 2.) des Straferkenntnisses wird gesondert entschieden durch das Einzelmitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates, das nach der Geschäftsverteilung zuständig ist.