Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch das Senatsmitglied Dr. Monika Gasser-Steiner über die Berufung der Mag. S S, gegen das Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Graz vom 29.5.2000, GZ.: III/S-35155/99, wie folgt entschieden:
Der Berufung wird gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (im Folgenden AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (im Folgenden VStG) Folge gegeben, das Straferkenntnis behoben und das Verfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG eingestellt.
Mit dem bekämpften Straferkenntnis wurde der Berufungswerberin zur Last gelegt, sie habe am 7.9.1999, um ca. 9.50 Uhr, in Graz, Grabenstraße-Zufahrt zum Haus Nr. 45 als Lenkerin des Kombi mit dem Kennzeichen die Fahrgeschwindigkeit nicht den gegebenen Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepasst, wodurch es zu einem Verkehrsunfall mit Personenschaden gekommen sei.
Wegen Übertretung der Rechtsvorschrift des § 20 Abs 1 StVO wurde über die Berufungswerberin gemäß § 99 Abs 3 lit. a StVO eine Geldstrafe von S 1.500,--, im Uneinbringlichkeitsfalle 2 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verhängt sowie als Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens der Betrag von S 150,-- vorgeschrieben. Die belangte Behörde gründete ihren Strafbescheid auf die Anzeige des Verkehrsunfallkommando der Bundespolizeidirektion Graz vom 6.10.1999 sowie auf das von ihr durchgeführte Ermittlungsverfahren. Demnach sei die Berufungswerberin zur Tatzeit mit dem näher bezeichneten Fahrzeug hinter der später am Verkehrsunfall Zweitbeteiligten H auf dem rechten Fahrstreifen der Grabenstraße stadteinwärts gefahren. Laut den Angaben der Beschuldigten habe sie dabei eine Fahrgeschwindigkeit von ca. 40 bis 45 km/h eingehalten. Den Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen habe die Beschuldigte mit ca. 10 m angegeben. Auf Höhe der Zufahrt zum Haus Nr. 45 habe H ihr Fahrzeug plötzlich abgebremst, um in die Zufahrt einzubiegen. Laut den Angaben der Zweitbeteiligten sei sie mit ihrem PKW bereits mit der vorderen Front in der Einfahrt gewesen, als ihr die nachfolgende Beschuldigte aufgefahren sei. Die Beschuldigte habe keinen der Fahrgeschwindigkeit entsprechenden Tiefenabstand eingehalten, zumal schon der Reaktionsweg - abgesehen vom noch hinzukommenden Bremsweg - ausgehend von einer Fahrgeschwindigkeit von etwa 40 km/h mindestens 12 m betragen würde. Damit habe sie eine Übertretung gemäß § 20 Abs 1 StVO gesetzt und sei dementsprechend zu bestrafen gewesen. In ihrer fristgerecht erhobenen Berufung verwehrte sich die Berufungswerberin gegen den erhobenen Tatvorwurf, im Wesentlichen mit der Begründung, sie habe eine den Straßen- und Verkehrsverhältnissen entsprechende Fahrgeschwindigkeit eingehalten. Sie sei mit dem zweiten oder dritten Gang gefahren. Nach dem Verkehrsunfall habe ihre Gegnerin mehrmals im Beisein von Zeugen die Schuld am Unfall auf sich genommen und sich für ihr Missgeschick entschuldigt. Die Berufungswerberin habe sich auf dieses plötzliche Fahrmanöver trotz Einhaltung eines entsprechenden Tiefenabstandes und einer angemessenen Geschwindigkeit nicht einstellen können, zumal der Abbiegevorgang von der Zweitbeteiligten auch nicht durch Blinkzeichen angezeigt worden ist. Die Berufungswerberin fahre seit 30 Jahren unfallfrei und sei auch ortskundig. Bei der Zweitbeteiligten habe es sich um eine Fahranfängerin gehandelt. Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat am 13. Februar 2001 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Berufungswerberin als Partei vernommen und K H als Zeugin zur Sache befragt worden sind. Aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens wird nachstehender Sachverhalt der Entscheidung zugrunde gelegt: Die Grabenstraße im Ortsgebiet von Graz ist eine gut ausgebaute, asphaltierte zweispurige Einbahnstraße, die den Verkehrsstrom von Norden in Richtung Stadtzentrum führt. Die im Ortsgebiet geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h ist einzuhalten. Am 7.9.1999, gegen 9.50 Uhr, fuhr K H mit etwa 40 km/h am rechten Fahrstreifen der Grabenstraße stadteinwärts, mit der Absicht, in die Privatzufahrt zum Haus Nr. einzubiegen. Die Lenkerin - sie war ortsunkundig - bemerkte die Einfahrt sehr spät, bremst ihr Fahrzeug dementsprechend stark ab und begann - ohne zuvor Blinkzeichen zu setzen - den Einbiegevorgang. Für die mit etwa gleicher Geschwindigkeit und einen Tiefenabstand von etwa zehn Meter hinter ihr nachfahrende Berufungswerberin kam der Abbiegevorgang unangekündigt und überraschend. Sie konnte weder auf den linken - besetzten - Fahrstreifen auszuweichen, noch ihr Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand bringen. Die Berufungswerberin stieß mit der rechten vorderen Ecke ihres PKW gegen den linken Heckseitenteil des sich im Einbiegevorgang befindlichen Fahrzeuges der H. Der 7.9.1999 war ein sonniger Herbsttag. Es gab keine Sichtbehinderungen. Im Bereich der Unfallstelle verläuft die Grabenstraße geradlinig und übersichtlich; die Fahrbahn war trocken. Am Vormittag war das Verkehrsaufkommen gering. Diese Feststellungen gründen sich großteils auf die Angaben der beiden Unfallsbeteiligten, die in der Zusammenschau ein einheitliches Vorfallsbild ergaben. Es deckten sich ihre Schilderungen zu den Straßen-, Sicht- und Verkehrsverhältnissen. Gleichfalls war unstrittig, daß beide Lenkerinnen vor dem Zusammenstoß eine Geschwindigkeit um die 40 km/h einhielten und das die Fahrzeuge zum Zeitpunkt des Anstoßes noch in Bewegung waren. Das die Lenkerin H vor dem Einbiegevorgang keine Blinkzeichen setzte, ist für den Senat aufgrund ihrer dementsprechenden Erstangaben vor dem Gendarmerieposten Krottendorf- Gaisfeld vom 22.9.1999 erwiesen. Die in der Verhandlung angemeldeten Zweifel - die Zeugin äußerte sich dahingehend, sie sei sich heute nicht mehr sicher, ob sie wirklich nicht geblinkt habe, sind als nachträglicher Entlastungsversuch zu werten. Die rechtlichte Beurteilung ergibt folgendes: Gemäß § 20 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Die im jeweiligen Einzelfall zulässige höchste Fahrgeschwindigkeit ergibt sich somit aus der Kombination aller in dieser Gesetzesstelle genannten maßgeblichen Komponenten, wobei die absolute Obergrenze der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch Gesetz (§ 20 Abs 2 StVO) oder durch Verordnung bestimmt wird. Bei der Einzelfallprüfung nach § 20 Abs 1 StVO ist weiters zu beachten, dass ein Minus bei einzelnen der maßgeblichen Faktoren gegebenenfalls durch ein Plus der anderen ausgeglichen werden kann. Die Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit um die 40 km/h auf einer zweispurigen Fahrbahn im Ortsgebiet ist selbst bei stärkerem Stadtverkehr ohne Hinzukommen der im § 20 Abs 1 StVO angesprochenen besonderen Umstände (wie etwa schlechte Straßen- oder Sichtverhältnisse durch starken Schneefall oder Regen, Stau durch Baustellen, Kolonnenverkehr udgl.) nicht als unangepasst zu bezeichnen. Im vorliegenden Fall gibt es nicht nur keine negativen Komponenten anzuführen; im Gegenteil: Zum maßgebliche Zeitpunkt herrschten optimale Straßen-, Sicht- und Verkehrsverhältnisse. Zu berücksichtigende Fahrzeug- und Ladungseigenschaften - die Berufungswerberin fuhr einen VW Golf/Kombi und befand sich alleine im Fahrzeug - waren ebenfalls nicht festzustellen, sodass keine Übertretung nach § 20 Abs 1 StVO vorliegt. Die belangte Behörde stützte ihren Tatvorwurf offenbar einzig und allein darauf, die Berufungswerberin habe keinen der Geschwindigkeit - in der Bescheidbegründung ist ebenfalls von 40 - 45 km/h die Rede - entsprechenden Tiefenabstand eingehalten. Diese Begründung korrespondiert mit der Vorschrift nach § 18 Abs 1 StVO, die dem Fahrzeuglenker auferlegt, stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird. Eine solche Übertretung war aber nicht Gegenstand des Strafverfahrens. Nachdem die Berufungswerberin das ihr angelastete Delikt nicht begangen hat, das Verhalten der Berufungswerberin im Hinblick auf eine Übertretung nach § 18 Abs 1 StVO aus dem oben schon dargestellten Gründen vom Senat nicht zu prüfen ist, war der Berufung Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.