TE Vfgh Erkenntnis 1998/12/1 B786/98

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Veröffentlicht am 01.12.1998
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Index

L0 Verfassungs- und Organisationsrecht
L0300 Landtagswahl

Norm

B-VG Art26 Abs1
B-VG Art95 Abs1
Nö LandtagswahlO 1992

Leitsatz

Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Landtag durch rechtswidrige Streichung eines Wahlberechtigten aus dem Wählerverzeichnis; unzulängliche Bescheidbegründung und grob mangelhaftes Ermittlungsverfahren in der hier maßgebenden Wohnsitzfrage

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Landtag verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Beschwerdevertreters die mit ATS 29.500,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit auf §28 Abs1 NÖ Landtagswahlordnung 1992 (LWO), LGBl. 0300-3, gestütztem Einspruch gegen das Wählerverzeichnis der Gemeinde St. Pölten (für die Landtagswahl 1998) vom 22. Februar 1998 wurde die Streichung des Beschwerdeführers, gemeldet an der Adresse M Straße ... aus dem Wählerverzeichnis begehrt.

1.1.2. Mit Bescheiden der Gemeindewahlbehörde der Gemeinde St. Pölten jeweils vom 27. Februar 1998 wurde diesem Einspruch stattgegeben und der Beschwerdeführer aus dem Wählerverzeichnis dieser Gemeinde gestrichen.

1.2.1. Die vom Beschwerdeführer gegen den genannten Bescheid erhobene Berufung wurde von der Bezirkswahlbehörde

St. Pölten-Stadt mit Bescheid vom 6. März 1998 gemäß §24 iVm §32 LWO als unbegründet abgewiesen.

1.2.2. Dieser Bescheid wurde wörtlich wie folgt begründet:

"Aufgrund der Berufung des Herrn NR M wurden von der Bezirkswahlbehörde nachstehende Verwaltungsakten, Urkunden und Beweismittel beigeschafft:

Bauakt des Hauses M Straße ...

Akt der Schlichtungsstelle in Mietrechtsangelegenheiten

00/22/1/18-1995

Meldezettel vom 30.5.1988

Firmenbuchauszug der Fa. H M GesmbH

Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten vom 3.9.1997

29 R 243/197w-28

Mietvertrag

Kündigung des Mietvertrages vom 24.7.1992

Urteil des BG St. Pölten vom 28.12.1993, 3 C1898/92 Standortverlegung der H M GesmbH; Akt der Gewerbebehörde Niederschrift des Lokalaugenscheines vom 4.3.1998

Gemäß §24 Abs1 LWO 1992 ist jeder Wahlberechtigte in das Wählerverzeichnis der Gemeinde einzutragen, in der er am

Stichtag seinen ordentlichen Wohnsitz hatte. Gemäß Abs2 leg. cit. ist der ordentliche Wohnsitz einer Person an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Absicht dahin gehen muß, an dem gewählten Ort für immer zu bleiben; es genügt, daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden.

Beruflicher Mittelpunkt: Das Landesgericht St. Pölten hat in dem Beschluß vom 3.9.1997, 29 R 243/97w-28, festgestellt, daß H M aufgrund der Vielfältigkeit seiner Aufgaben als zentralen Arbeitsplatz für alle Aufgaben sein Büro im Parlament gewählt hat. Beim Lokalaugenschein am 4.3.1998 wurde der Vertreter des Herrn M befragt, ob die beruflichen Rahmenbedingungen des H M seit dem Jahre 1997 eine Veränderung erfahren haben, und wurde dies mit nein beantwortet. Der berufliche Mittelpunkt des H M ist daher mit Sicherheit nicht an der Adresse M Straße ..., begründet.

Wirtschaftlicher Mittelpunkt: Aus dem Gewerberegister der Landeshauptstadt St. Pölten in Zusammenhalt mit dem Firmenbuch Nr. 82587b geht klar hervor, daß Herr H M Gesellschafter und handelsrechtlicher Geschäftsführer der H M GesmbH ist. Diese besitzt ihren Hauptbetrieb an der Adresse 3100 St. Pölten, U Straße ...1, und eine weitere Betriebsstätte in der Gemeinde R. Das Bezirksgericht St. Pölten hat in seinem Urteil vom 28.12.1993, 3 C1898/92, festgestellt, daß die Dienstnehmer der H M GesmbH, R, ..., arbeiten. Im Objekt M Straße ... selbst arbeiteten Dienstnehmer der H M GesmbH oder des Beklagten selbst nie. Auch als Lager zum Zwecke der H M GesmbH wurden und werden die aufgekündigten Räume nicht benutzt. Der Standort M Straße ... hat daher für H M keinerlei wirtschaftliche Bedeutung, stellt daher mit Sicherheit nicht dessen Mittelpunkt dar.

Gesellschaftlicher Mittelpunkt: Beim Lokalaugenschein am 4.3.1998 in der Wohnung M Straße ... wurde festgestellt, daß einer der beiden Räume, der an der Eingangstür gelegen ist, großflächig aufgestemmt ist und der Schutt am Boden liegt. Nach Auskunft des rechtsfreundlichen Vertreters des H M wurde in diesem Raum Ende 1997 mit der Einrichtung einer dem zeitgemäßen Standard entsprechenden Küche begonnen. Da bis heute lediglich Stemmarbeiten durchgeführt wurden, ist davon auszugehen, daß am Stichtag, das ist der 23.1.1998, die Wohnung M Straße ... nicht Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens des H M gewesen ist. Gemäß §24 Abs2 LWO ist die Beurteilung eine Momentaufnahme, indem angeordnet wird, 'daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden ist'. Wäre das Bestandsobjekt Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, so wäre der Einbau einer Küche innerhalb weniger Wochen möglich gewesen und längst fertiggestellt. Innerhalb von 3 Monaten wurden aber lediglich Stemmarbeiten ausgeführt, der Schutt in der Wohnung belassen. Insbesondere Personen in einer gesellschaftlichen Stellung eines Nationalratsabgeordneten leben überlicherweise nicht neben Schutthaufen in der Wohnung. Das Bestandsobjekt M Straße ... ist daher nicht gesellschaftlicher Mittelpunkt des

H M.

Mangels Anknüpfung an die gesetzlichen Kriterien konnte daher der Berufung des H M nicht stattgegeben werden."

1.3.1. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art144 Abs1 B-VG, in der die Verletzung des "durch Art95 B-VG iVm Art26 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrechtes hinsichtlich der Wahlen zum Niederösterreichischen Landtag 1998" geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

1.3.2. Die Bezirkswahlbehörde St. Pölten-Stadt als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung der Beschwerde eintrat.

1.3.3. Dazu langte eine Replik des Beschwerdeführers beim Verfassungsgerichtshof ein.

1.4. Der mit "Ort der Eintragung" übertitelte §24 LWO lautet in seinen Absätzen 1 bis 3 wie folgt:

"(1) Jeder Wahlberechtigte ist in das Wählerverzeichnis der Gemeinde einzutragen, in der er am Stichtag seinen ordentlichen Wohnsitz hatte.

(2) Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Absicht dahin gehen muß, an dem gewählten Ort für immer zu bleiben; es genügt, daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden ist.

(3) Ein ordentlicher Wohnsitz gilt insbesondere dann nicht als begründet, wenn der Aufenthalt

1. bloß der Erholung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient,

              2.              lediglich zu Urlaubszwecken gewählt wurde oder

              3.              aus anderen Gründen offensichtlich nur vorübergehend ist; gleiches gilt, wenn die Begründung des ordentlichen Wohnsitzes nur auf Eigentum oder Besitz an

Baulichkeiten oder Liegenschaften gestützt werden

kann."

              2.              Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Der administrative Instanzenzug wurde ausgeschöpft (vgl. §32 Abs2 letzter Satz LWO).

2.1.2. Auch die übrigen Prozessvoraussetzungen treffen zu.

Wenn die belangte Behörde unter Anführung mehrerer Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes in ihrer Gegenschrift die Auffassung vertritt, der von ihr erlassene Bescheid könne im Wege einer Beschwerde nach Art144 Abs1 B-VG nicht zulässig angefochten werden, verkennt sie, dass im gegenständlichen Verfahren nicht eine "Wahl" angefochten wird, sondern ein "Bescheid" (iSd Art144 B-VG).

2.1.3. Die Beschwerde ist somit insgesamt zulässig.

2.2.1. Das in Art95 Abs1 iVm Art26 Abs1 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Wahlrecht zum Landtag wird ua. durch eine rechtswidrige Streichung eines Wahlberechtigten aus dem Wählerverzeichnis verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Streichung führende Verwaltungsverfahren an wesentlichen Mängeln leidet (s. VfSlg. 8845/1980, vgl. VfSlg. 5148/1965, 6303/1970, 7017/1973, 7766/1976, 10668/1985, 11676/1988).

2.2.2. Solche wesentlichen Mängel liegen hier vor:

Sachverhaltsmäßig, und zwar zur Frage des Mittelpunktes der beruflichen Betätigung des Beschwerdeführers, gab sich die belangte Wahlbehörde nämlich mit der bloßen Feststellung zufrieden, das Landesgericht St. Pölten habe in einem Beschluss vom 3.9.1997 festgestellt, der Beschwerdeführer hätte auf Grund der Vielfältigkeit seiner Aufgaben als zentralen Arbeitsplatz für alle Aufgaben sein Büro im Parlament gewählt, und der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers habe am 4.3.1998 erklärt, dass sich an den beruflichen Rahmenbedingungen des Genannten seit dem Jahre 1997 nichts geändert habe.

Die belangte Behörde wäre aber verpflichtet gewesen, das Vorbringen des Berufungswerbers, wonach er in der M Straße ..., eine Wohnmöglichkeit habe, sich dort regelmäßig aufhalte und sich somit dort sein ordentlicher Wohnsitz (worunter wohl nur der iS der oben wiedergegebenen Bestimmung der LWO gemeint sein kann) befinde, entsprechend zu erörtern und zu würdigen. Sieht man von dem erwähnten Gerichtsbeschluss und der für die von der Behörde zu entscheidende Frage wenig aussagekräftigen Darlegung des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers vom 4.3.1998 ab, unterblieben hier geeignete Ermittlungen zur Klärung des entscheidungswichtigen Sachverhaltes; der Beschwerdeführer beantragte in seiner Berufungsschrift etwa die Vernehmung einer bestimmten Person als Zeuge zum Beweis dafür, dass er an der mehrfach genannten Adresse einen ordentlichen Wohnsitz habe. Dies alles vor dem Hintergrund, dass gerade die im genannten Gerichtsbeschluss konstatierte "Vielfältigkeit seiner (des Beschwerdeführers) Aufgaben" den Schluss nahe legte, dass der Beschwerdeführer auch noch an einem anderen Ort - so unter Umständen an der Adresse M Straße ... - einen (allenfalls weiteren) Mittelpunkt seiner beruflichen Betätigung zu begründen die Absicht hatte, zumal es gerade bei einem Abgeordneten zum Nationalrat (wie dem Beschwerdeführer), der am Stichtag ein dem Wahlkreis 3 (Niederösterreich) zugeordnetes Mandat innehatte, der Lebenserfahrung entspricht, davon auszugehen, dass er - neben seiner beruflichen Betätigung am Sitz des Nationalrates in Wien - seinen mit der Ausübung des Mandates verbundenen Aufgaben auch im betreffenden Wahlkreis nachgeht.

Diese Umstände im Zusammenhang mit der unzulänglichen Bescheidbegründung, die sich nach dem Gesagten mit den Einlassungen des Beschwerdeführers teils überhaupt nicht befasste, kennzeichnen aber die von der belangten Behörde eingehaltene Prozedur (selbst unter Berücksichtigung der geringeren Anforderungen, die an das Ermittlungsverfahren von Wahlbehörden schon angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Fristen zu stellen sind (VfSlg. 8845/1980)) - unter dem Aspekt der maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes - als derart grob mangelhaft und ergänzungsbedürftig (s. etwa auch VfSlg. 7017/1973, 7766/1976, 8845/1980, 11676/1988, 11962/1989), dass von einer Verfassungswidrigkeit iS der zu Pkt. 2.2.1. wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Judikatur gesprochen werden muss.

2.2.3. Schon aus diesem Grund erweist sich somit der bekämpfte Bescheid als verfassungswidrig. Bei diesem Ergebnis kann dahin gestellt bleiben, ob die weitere Annahme der Behörde zutreffend ist, der Beschwerdeführer habe an der in Rede stehenden Adresse auch nicht die Absicht gehabt, diesen Ort zu einem Mittelpunkt seiner wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten.

2.3. Mithin wurde der Beschwerdeführer durch den angefochtenen, die Streichung aus dem Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Landtag (Art95 Abs1 B-VG) verletzt.

Der Bescheid war daher als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von ATS 4.500,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Ermittlungsverfahren, Bescheidbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1998:B786.1998

Dokumentnummer

JFT_10018799_98B00786_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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