Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark hat durch das Senatsmitglied Dr. Cornelia Meixner über die Berufung des Herrn H T, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. R & P, gegen das Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Graz vom 19.2.2002, GZ.: III/S-27.701/01, wie folgt entschieden:
Gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (im Folgenden AVG) in Verbindung mit § 24 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (im Folgenden VStG) i.d.F. BGBl. Nr. 1998/158 wird der Berufung Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis behoben und das Verfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG eingestellt.
Mit dem aus dem Spruch ersichtlichen Straferkenntnis wurde dem Berufungswerber zur Last gelegt, er habe am 31.5.2001, um ca 16.45 Uhr in Graz, in der Radetzkystraße - Haltestelle "Wielandgasse" als Lenker des GVB-Busses die Fahrgeschwindigkeit nicht den gegebenen Umständen angepasst, da er aus der Haltestelle zu schnell losgefahren sei, wodurch es zu einem Verkehrsunfall mit Personenschaden kam.
Wegen Verletzung der Rechtsvorschrift des § 20 Abs 1 StVO wurde über den Berufungswerber gemäß § 99 Abs 3 lit a StVO eine Geldstrafe in der Höhe von ? 72,67 (36 Stunden Ersatzarrest) verhängt.
In der innerhalb offener Frist gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wurde vom Berufungswerber im Wesentlichen ausgeführt, dass der verfahrensgegenständliche Bus über ein Automatikgetriebe verfüge und mit Gas betrieben werde, weshalb eine Beschleunigung in dem von der Zeugin geschilderten Ausmaß technisch gar nicht möglich sei. Darüber hinaus wurde letztlich auch bestritten, dass die Zeugin H durch den Beschleunigungsvorgang gestürzt sei und sich dabei verletzt habe, zumal sie den Berufungswerber nicht unmittelbar nach dem Vorfall, sondern erst nach ca einer halben Stunde und nachdem die anderen Fahrgäste den Bus verlassen hatten, angesprochen hat und er auch von keinem anderen Fahrgast auf den Sturz der Zeugin hingewiesen worden ist. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens, insbesondere der im Beisein des gerichtlich beeideten Sachverständigen für das KFZ-Wesen, Prof. Dr. H S, am 13.5.2002 abgeführten öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung wird nachstehender Sachverhalt festgestellt:
Am 31.5.2001 lenkte der Berufungswerber den Linienbus der Grazer Verkehrsbetriebe verkehrsplanmäßig auf der Radetzkystraße vom Jakominiplatz kommend in Richtung Straßgang. Dieser Gelenksbus der Marke Mercedes Benz ist mit einem 4-Gang-Automatik-Getriebe ausgestattet, auf Gasbetrieb umgerüstet und verfügt über eine Antriebsleistung von ca 180 KW. Der Antrieb erfolgt über die Achse des Nachläufers; das Gesamtgewicht lag, bedingt durch die zahlreichen Fahrgäste, bei ca 22 bis 25 Tonnen. Der Bus konnte eine maximale Anfahrbeschleunigung von 1,2 m/sec² erreichen. Die Radetzkystraße verläuft im hier maßgeblichen Teilabschnitt annähernd horizontal, eben und geradlinig in Richtung Westen. Die verfahrensgegenständliche Bushaltestelle "Wielandgasse" befindet sich im Verlauf der den Bussen zugeordneten Busspur und nicht etwa in einer Haltestellenbucht.
Gegen 16.15 Uhr stieg die Zeugin F H an dieser Bushaltestelle in den beinahe vollbesetzten Bus ein. Sie verwendete dazu die vorderste Fahrzeugtür, löste beim Berufungswerber eine Fahrkarte und entwertete diese beim ersten Entwerter unmittelbar hinter dem Fahrer. Als ihr ein weiblicher Fahrgast einen Sitzplatz in der vierten Reihe hinter dem Fahrer anbot, ließ sie die Haltestange los und drehte sich nach rechts zu diesem Sitz. In diesem Moment setzte der Berufungswerber den Bus in Bewegung, weshalb die Zeugin H das Gleichgewicht verlor, ca drei Reihen in das Fahrzeuginnere stolperte und mit der rechten Körperhälfte gegen die Kunststoffkante des Seitenfensters stieß, ehe sie letztlich auf den freien Sitzplatz fiel. Durch diesen Anstoß erlitt sie eine Prellung des rechten Brustkorbes und des rechten Darmbeines. Da sie kein Aufsehen erregen wollte, machte weder sie, noch ein anderer Fahrgast den Berufungswerber auf ihre Verletzungen aufmerksam. Erst nach ca einer halben Stunde, als sie die Endhaltestelle in Seiersberg erreicht und alle Fahrgäste den Bus verlassen hatten, rief sie den Berufungswerber zu sich und setzte ihn über den Vorfall im Bereich der Bushaltestelle "Wielandgasse" in Kenntnis. Dieser verständigte daraufhin gegen 16.45 Uhr die Rettung und die Polizei. Die Zeugin H hatte nach dem Loslassen der Haltestange und nach der Destabilisierung durch das Anfahrmanöver praktisch keine Möglichkeit mehr sich wieder irgendwo anzuhalten. Dem Berufungswerber wiederum wäre es auch bei einem Nichtausschöpfen der maximalen Anfahrbeschleunigung nicht möglich gewesen, den Bus so langsam in Bewegung zu setzen, dass die Zeugin, die die Haltestange losgelassen hatte, nicht zu Sturz kommen konnte. Diese Feststellungen waren im Wesentlichen auf Grund des schlüssigen und gut nachvollziehbaren Gutachtens des dem Verfahren beigezogenen gerichtlich beeideten Sachverständigen für das KFZ-Wesen, Prof. Dr. H S, zu treffen. Wie diesem Gutachten eindeutig zu entnehmen ist, konnte der Gelenksbus auf Grund seiner technischen Ausstattung und zahlreichen Fahrgäste unter voller Ausnützung der Motorleistung lediglich eine Anfahrbeschleunigung von ca 1,2 m/sec² erreichen, die allerdings nicht als besonders stark bezeichnet werden kann. Weiters führte der Sachverständige aus, dass selbst bei einer Anfahrbeschleunigung von nur ca 0,6 m/sec² es durchaus möglich ist, dass eine Insassin, die sich nicht anhält und frei im Bus steht oder auch noch einen Schritt macht zu Sturz kommt, und dass es einem Busfahrer aus technischer Sicht praktisch nicht möglich ist, seinen Bus so langsam in Bewegung zu setzen, dass Insassen, die sich nicht anhalten, und auch keinen Haltegriff in unmittelbarer Nähe haben, nicht zu Sturz kommen können. Die Feststellungen zum Sturz der Zeugin H und den dabei erlittenen Verletzungen erfolgten auf Grund der glaubwürdigen Angaben der Zeugin F H verbunden mit der vorliegenden Verletzungsanzeige des Unfallkrankenhauses Graz vom 5.7.2001. Den Angaben der Zeugin, dass es im Zuge des Losfahrens zu einer ruckarteigen Richtungsänderung des Busses kam, war dagegen nicht zu folgen, da entsprechend den Angaben des Sachverständigen ein starkes Auslenken des Busses im Zuge des Verlassens der Haltestelle auf Grund des Fahrbahnverlaufes nicht nachvollziehbar ist und der Anstoß an die Seitenscheibe eher dadurch erfolgt sein muss, dass die Zeugin leicht schräg im Bus stand. Dies vor allem auch auf Grund der Tatsache, dass der Bus nach dem Anfahren auf Grund der geringen Fahrgeschwindigkeit nur eine geringe seitliche Fliehbeschleunigung aufweist, weshalb sich selbst ein Anfahren in Kurvenfahrt eher als Beschleunigung in Längsrichtung mit nur einer äußerst geringen Komponente in Querrichtung auswirkt. Rechtliche Beurteilung: Gemäß § 20 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisseen sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Die Bestimmung des § 20 Abs 1 erster Satz StVO 1960 stellt einen relativen Maßstab auf, nämlich unter Bedachtnahme auf den der Straßenverkehrsordnung innewohnenden Gedanken der größtmöglichen Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer, den Lenker eines Kraftfahrzeuges zu verpflichten, seine Fahrgeschwindigkeit den gegebenen Straßen- und Sichtverhältnissen anzupassen und diese so zu wählen, dass er den sich aus der besonderen Verkehrssituation ergebenden Verhältnissen jederzeit gerecht werden kann. Eine in alle Einzelheiten gehende Aufzählung jener Umstände, die ein besonders vorsichtiges und langsames Fahren erfordern, wurde vom Gesetzgeber unterlassen, da eine erschöpfende Aufzählung nicht möglich und eine bloße demonstrative Aufzählung zu unwillkommenen Umkehrschlüssen führen könnte. Jedenfalls ist die Fahrgeschwindigkeit aber der Länge, Breite und dem Gewicht, aber auch den Bremseigenschaften, dem Wendekreis und dergleichen eines Fahrzeuges und seiner Ladung anzupassen. Da der Bus im Anlassfall ohnedies nur eine maximale Anfahrbeschleunigung von ca 1,2 m/sec² erreichen konnte und es dem Berufungswerber nach Angaben des Sachverständigen auch bei einer geringeren Anfahrbeschleunigung nicht möglich gewesen wäre, den Sturz eines Fahrgastes, der sich nicht anhält und im Bus frei steht, zu verhindern, lässt auch der tatsächlich erfolgte Sturz der Zeugin H nicht den Schluss zu, dass der Berufungswerber den Bus mit einer nicht den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit in Bewegung gesetzt hätte. Es war daher davon auszugehen, dass der Berufungswerber die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat, weshalb der Berufung Folge zu geben, das Straferkenntnis zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG einzustellen war.