Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol entscheidet durch sein Mitglied Mag. Franz Schett über die Berufung des Herrn M. A. S., T., vertreten durch Herrn Rechtsanwalt Dr. C. O., XY-Straße, I., gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 12.04.2006, Zl VK-604-2006, betreffend eine Übertretung nach der Straßenverkehrsordnung 1960, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung wie folgt:
Gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) in Verbindung mit §§ 24, 51, 51c und 51e Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) wird der Berufung Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis behoben und das Verwaltungsstrafverfahren wegen Übertretung nach § 19 Abs 7 iVm § 19 Abs 1 StVO gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG eingestellt.
Mit dem nunmehr angefochtenen Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 12.04.2006, Zl VK-604-2006, wurde Herrn M. A. S., T., zur Last gelegt, er sei als Lenker des LKWs mit dem Kennzeichen XY am 09.12.2005 um 09.50 Uhr in der Marktgemeinde Telfs von der Unterbirkenbergstraße nach links (Richtung Osten) in die Saglstraße eingebogen und habe dadurch als wartepflichtiger Lenker den Vorrang eines von rechts kommenden Fahrzeuges nicht beachtet, wodurch der Lenker dieses Fahrzeuges zu einem unvermittelten Abbremsen seinen Fahrzeuges genötigt worden sei.
Dadurch habe der Beschuldigte eine Verwaltungsübertretung nach § 19 Abs 7 iVm § 19 Abs 1 StVO 1960 begangen. Über diese wurde daher gemäß § 99 Abs 3 lit a leg cit eine Geldstrafe von Euro 80,00, Ersatzfreiheitsstrafe 24 Stunden, verhängt. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens wurden gemäß § 64 VStG mit 10 Prozent der verhängten Geldstrafe bestimmt.
Gegen diesen Bescheid hat Herr M. A. S., vertreten durch Dr. C. O., Rechtsanwalt in I., fristgerecht Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol erhoben und darin im Wesentlichen ausgeführt, dass bereits durch § 99 Abs 6 lit a StVO ein strafbares Verhalten ausgeschlossen sei. Im Übrigen sei die Fahrbahn zum Tatzeitpunkt mit Schnee bedeckt gewesen. Im unmittelbaren Kreuzungsbereich seien die Straßenverhältnisse dabei - für ihn, den Berufungswerber, unerwartet - völlig anders gewesen als noch weniger Meter zuvor. Im Bereich der Kreuzung habe sich nämlich unter einer lockeren Schneeschicht eine Eisplatte befunden und sei es ihm daher nicht möglich gewesen, so zügig anzufahren wie gedacht und den Kreuzungsbereich rechtzeitig zu verlassen.
Der Berufungswerber hat daher beantragt, der Berufung Folge zu geben, das angefochtene Straferkenntnis zu beheben und das Verfahren einzustellen.
Die Berufungsbehörde hat wie folgt erwogen:
A) Rechtsgrundlagen:
Im gegenständlichen Fall sind folgende gesetzliche Bestimmungen beachtlich:
?1. Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl Nr 194/1960, in der Fassung des Gesetzes BGBl I Nr 99/2005:
Vorrang
§ 19
....
(1) Fahrzeuge, die von rechts kommen, haben, sofern die folgenden Absätze nichts anderes bestimmen, den Vorrang; Schienenfahrzeuge jedoch auch dann, wenn sie von links kommen.
....
(4) Ist vor einer Kreuzung das Vorschriftszeichen ?Vorrang geben? oder ?Halt? angebracht, so haben sowohl die von rechts als auch die von links kommenden Fahrzeuge den Vorrang. Ist jedoch auf einer Zusatztafel ein besonderer Verlauf einer Straße mit Vorrang dargestellt, so haben die Fahrzeuge, die auf dem dargestellten Straßenzug kommen, den Vorrang, unabhängig davon, ob sie dem Straßenzug folgen oder ihn verlassen; ansonsten gilt Abs 1. Beim Vorschriftszeichen ?Halt? ist überdies anzuhalten.
....
(7) Wer keinen Vorrang hat (der Wartepflichtige), darf durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang (die Vorrangberechtigten) weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen.
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Strafbestimmungen
§ 99
....
(3) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe bis zu Euro 726,00, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest bis zu zwei Woche, zu bestrafen
a) wer als Lenker eines Fahrzeuges, als Fußgänger, als Reiter oder als Treiber oder Führer von Vieh gegen die Vorschriften dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnungen verstößt und das Verhalten nicht nach den Abs 1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b oder 4 zu bestrafen ist.
....
6) Eine Verwaltungsübertretung liegt nicht vor,
a) wenn durch die Tat lediglich Sachschaden entstanden ist, die Bestimmungen über das Verhalten bei einem Verkehrsunfall mit bloßem Sachschaden (§ 4 Abs 5) eingehalten worden sind und nicht eine Übertretung nach Abs 1, 1a oder 1b vorliegt,
....
2. Verwaltungsstrafgesetz 1991, BGBl Nr 52/1991, zuletzt geändert durch das Gesetz BGBl I Nr 117/2002:
§ 45
(1) Die Behörde hat von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn
1. die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine Verwaltungsübertretung bildet;
2. der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat oder Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit aufheben oder ausschließen;
3. Umstände vorliegen, die die Verfolgung ausschließen.
....?
C) Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 44a Z 1 VStG hat der Spruch eines Straferkenntnisses, wenn er nicht auf Einstellung lautet, die als erwiesen angenommene Tat zu enthalten. Danach ist es rechtlich geboten, die Tat hinsichtlich des Täters und der Tatumstände so genau zu beschreiben, dass die Zuordnung des Tatverhaltens zur Verwaltungsvorschrift, die durch die Tat verletzt worden ist, in Ansehung aller Tatbestandsmerkmale möglich ist und die Identität der Tat unverwechselbar feststeht. Was das erstgenannte Erfordernis anlangt, sind entsprechende, das heißt in Beziehung zur vorgeworfenen Straftat stehende wörtliche Ausführungen erforderlich, die nicht etwa durch die bloße paragraphenmäßige Zitierung von Gebots- oder Verbotsnormen ersetzt werden können (vgl VwGH verst Sen v 13.06.1984, Slg N F Nr 11466/A).
Die Abs 1 bis 6 des § 19 StVO bestimmen, welche Fahrzeuge gegenüber anderen Fahrzeugen den Vorrang haben (VwGH 18.11.1981, 1329, 1331/80 ist ZfVB 1983/1/251; 4.7.1984, 83/03/0309). Wie sich der Lenker eines Fahrzeuges, der keinen Vorrang hat ? der Wartepflichtige -, gegenüber den Lenkern von Fahrzeugen mit Vorrang - den Vorrangberechtigten - zu verhalten hat, ist dem Abs 7 dieser Best zu entnehmen. Demnach darf der Wartepflichtige den Vorrangberechtigten weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken seines Fahrzeuges nötigen. Wer gegenteilig handelt, verstößt gegen § 19 Abs 7 StVO. Um nun dem § 44a Z 1 VStG zu entsprechen, bedarf es einer so ausreichenden Umschreibung der als erwiesen angenommenen Tat, und zwar bereits im Spruch des Strafbescheides, dass kein Zweifel darüber besteht, hinsichtlich welchen Verhaltens den Beschuldigten der Vorwurf des § 19 Abs 7 StVO trifft; mit anderen Worten, durch welche der in den Abs 1 bis 6 des § 19 StVO angeführten Verhaltensweisen der Beschuldigte den Tatbestand des § 19 Abs 7 StVO erfüllt hat. Es muss sich somit bereits aus der Tatumschreibung im Spruch ergeben, worauf sich die Wartepflicht gründet, deren Verletzung einen Verstoß gegen § 19 Abs 7 StVO darstellt.
Im gegenständlichen Fall wurde dem Berufungswerber im angefochtenen Straferkenntnis angelastet, er habe den Vorrang des von rechts kommenden Fahrzeuglenkers missachtet. Dieser Tatvorwurf ist unzweifelhaft dahingehend zu verstehen, dass dem Berufungswerber vorgeworfen wird, die sich aus § 19 Abs 1 StVO ergebende Wartepflicht verletzt zu haben. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Erstinstanz unter den verletzten Verwaltungsvorschriften diese Bestimmung angeführt hat.
Wie nun allerdings der Anzeige zu entnehmen ist und der Anzeiger bei einer Rücksprache nochmals ausdrücklich bestätigt hat, befindet sich bei der Einmündung der Unterbirkenbergstraße in die Saglstraße das Vorschriftszeichen ?Halt?. Der Vorrang des Anzeigers bzw die Wartepflicht des Berufungswerbers hat sich daher im gegenständlichen Fall nicht aufgrund der ?Rechtsregel? in § 19 Abs 1 StVO ergeben, sondern aufgrund des vor der Kreuzung angebrachten Vorschriftszeichens ?Halt?. Der gegen den Berufungswerber erhobene Tatvorwurf ist daher in der vorliegenden Form unzutreffend.
Nach § 66 Abs 4 AVG (diese Vorschrift findet zufolge des § 24 VStG im Verwaltungsstrafverfahren Anwendung) hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. ?Sache" im Sinne dieser Gesetzesstelle ist, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt dargelegt hat (vgl VwGH v 24.06.1948 in Slg NF Nr. 460/A, vom 23.06.1975 in Slg NF Nr 8855/A, und v 27.06.1975 in Slg NF Nr 8864/A), immer die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Unterbehörde gebildet hat. Demnach darf aber die Berufungsbehörde ohne Überschreitung ihrer Befugnis nur die Frage prüfen, ob der Beschuldigte die ihm von der Erstbehörde angelastete Tat begangen hat oder nicht. Hingegen fehlt der Berufungsbehörde die Sachbefugnis zur Wahrnehmung einer dem Beschuldigten von der Erstbehörde nicht vorgeworfenen bzw von dieser nicht als erwiesen angenommenen Tat.
Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage würde daher, wenn dem Berufungswerber seitens der Berufungsbehörde entgegen dem Wortlaut des angefochtenen Straferkenntnisses erst im Berufungsbescheid vorgeworfen wird, dass er bei einer Kreuzung, vor der sich das Vorschriftszeichen ?Halt? befindet und bei der sohin sowohl die von rechts als auch die von links kommenden Fahrzeuge den Vorrang haben, durch Einbiegen den Vorrangberechtigten zu einem unvermittelten Bremsen genötigt hat, durch die Aufnahme dieser Sachverhaltselemente in den Schuldspruch nicht bloß eine (unter Wahrung der Identität der Tat) zulässige Modifizierung der Tatumschreibung, sondern eine unzulässige Auswechslung der Tat erfolgen (vgl zu den vorstehenden Ausführungen insbesondere VwGH 23.10.1995, Zl 94/04/0080).
Folgerichtig war daher der Berufung bereits aus diesem Grund Folge zu geben, das angefochtene Straferkenntnis zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren, soweit dem Berufungswerber eine Verletzung der sich aus § 19 Abs 1 StVO ergebenden Wartepflicht, also eine Übertretung nach § 19 Abs 7 iVm § 19 Abs 1 StVO angelastet wird, gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG einzustellen.
Nur der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass das Berufungsvorbingen, wonach sich bereits aus § 99 Abs 6 lit a StVO die Straffreiheit ergibt, rechtlich unzutreffend ist. Diese Bestimmung schließt ein strafbares Verhalten für Übertretungen der Straßenverkehrsordnung aus, wenn durch die betreffende Tat lediglich Sachschaden entstanden ist, der Täter sämtliche Vorschriften über das Verhalten bei Verkehrsunfällen mit bloßem Sachschaden erfüllt hat und es sich nicht um eine Übertretung der ?Alkoholbestimmungen? handelt. Damit wird eine Art von tätiger Reue normiert. Es soll vermieden werden, dass die Meldung von Verkehrsunfällen deshalb unterbleibt, weil der Schädiger befürchtet, wegen des zum Schaden führenden rechtswidrigen Verhaltens verwaltungsstrafrechtlich verfolgt zu werden. Die in dieser Bestimmung normierten Voraussetzungen liegen aber gegenständlich nicht vor. Die vom Berufungswerber gezogene Schlussfolgerung, diese Regelung müsse umso mehr Anwendung finden, wenn es bei einer Übertretung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften nicht einmal zu einem Sachschaden gekommen ist, ist verfehlt. Zunächst findet diese Auslegung im Gesetzeswortlaut keine Deckung. Außerdem verkennt der Berufungswerber damit den vorbeschriebenen Zweck der Regelung und würde eine solche Auslegung schließlich zum Ergebnis führen, dass Übertretungen straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ? sofern es sich nicht um ?Alkoholdelikte? handelt ? überhaupt nicht strafrechtlich sanktioniert wären. Dass der Gesetzgeber, der in § 99 Abs 1 bis 4 StVO zunächst zahlreiche Straftatbestände normiert hat, diese mit einer weiteren Bestimmung inhaltsleer machen wollte, kann aber nicht angenommen werden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.