TE Vwgh Erkenntnis 2001/12/19 2001/20/0498

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Veröffentlicht am 19.12.2001
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §28;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Strohmayer, Dr. Sulzbacher und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Weiss, über die Beschwerde des am 23. März 1966 geborenen S in S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 20. Juli 2001, Zl. 220.026/0-IV/11/00, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer den Aufwand von S 12.500,-- (EUR 908,41) binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Indien stammender Angehöriger der Volksgruppe der Sikh, betrat am 3. Juni 2000 unter Umgehung der Grenzkontrolle das Bundesgebiet und stellte am 5. Juni 2000 einen Asylantrag, den er bei seiner Befragung durch das Bundesasylamt am 30. Juni 2000 damit begründete, dass er im Jahre 1995 der "All India Sikhs Students Federation (AISSF)" beigetreten sei. Sein Geschäft (eine Handlung mit Baumaterialien) sei ein Treffpunkt für diese Organisation gewesen. Seine Aufgabe habe darin bestanden, Nachrichten "der Zentrale" als Bote weiter zu leiten.

Bei einer polizeilichen Durchsuchung sei in seinem Geschäft am 5. Jänner 2000 Propagandamaterial gefunden worden. Darauf sei er verhaftet, nach anderen Gruppenmitgliedern befragt und misshandelt worden. Am 25. Jänner 2000 sei er über Intervention seines Vaters, der vermutlich jemanden bestochen habe, mit der Auflage entlassen worden, mit "diesen Leuten" nicht weiter in Kontakt zu stehen.

Mitglieder seiner Partei hätten ihn jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass er als Parteimitglied einer Parteitätigkeit nachgehen müsse. Er habe sich schließlich bereit gefunden, im Untergrund als Plakatkleber tätig zu sein. Bei dieser Tätigkeit sei er von der Polizei beobachtet und erkannt worden. Ihm sei die Flucht gelungen. Da die Polizei nach ihm gesucht und angedroht hätte, ihn sofort zu erschießen, wenn er wieder beim Plakatieren erwischt werde, habe er sein Aussehen verändert und mit Hilfe seiner Familie und der Partei Indien verlassen.

Wesentlicher Inhalt der Flugblätter bzw. der Plakate sei das Werben um eine Unterstützung für die Gründung eines unabhängigen Khalistan gewesen. Von der indischen Regierung werde eine solche Bewegung nicht geduldet.

Der Vertreter des Beschwerdeführers ergänzte, die indische Polizei nehme Personen ohne rechtliche Deckung fest. Die betreffende Person werde nur gegen Bezahlung eines entsprechenden Geldbetrages wieder enthaftet. Es komme jedoch immer wieder zu neuen Inhaftierungen, wobei die Haftdauer davon abhängig sei, in welcher Höhe und zu welchem Zeitpunkt durch die Angehörigen des Inhaftierten wiederum Geldbeträge bezahlt würden.

Mit Bescheid vom 8. November 2000 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und sprach aus, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Indien gemäß § 8 AsylG zulässig sei.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in welcher er vorbrachte, er sei von der indischen Polizei einzig und allein auf Grund seines Engagements für den unabhängigen Staat "Khalistan" als Mitglied der AISSF gesucht und auch inhaftiert worden. Es sei anzunehmen, dass sein Vater Lösegeld für seine Befreiung habe bezahlen müssen. Nicht nur dem Beschwerdeführer, sondern auch vielen anderen Mitgliedern der AISSF gehe es so, dass sie in regelmäßigen Abständen durch die indischen lokalen Polizeibehörden inhaftiert und gegen "Lösegeldzahlungen" wieder freigelassen würden.

In der mündlichen Berufungsverhandlung vom 31. Mai 2001 konkretisierte der Beschwerdeführer die Vorfälle im Zusammenhang mit der Hausdurchsuchung in seinem Geschäft und mit der polizeilichen Betretung beim Plakatieren, wobei er auch darauf hinwies, dass beim zweiten Vorfall ein Parteifreund verhaftet worden sei. Sein Vater habe ihm in der Zwischenzeit berichtet, dass bereits eine Nachricht in der Zeitung gestanden habe, wonach die Polizei nach dem Beschwerdeführer suche.

In dieser Verhandlung nahm die belangte Behörde auch die in "Asylfact" dokumentierte Abschrift eines Protokolls über ein in einem anderen Verfahren vor der belangten Behörde erstattetes (auf ein schriftliches Gutachten vom Juni 2000 aufbauendes) mündliches Gutachten des Sachverständigen Mag. B. vom 19. Oktober 2000 (Beilage ./A) zum Akt. Der Vertreter des Beschwerdeführers brachte dazu vor, dieser Sachverständige habe sein Gutachten in der Zwischenzeit dahingehend modifiziert, dass grundsätzlich die einfache Mitgliedschaft zur AISSF für den Fall, dass öffentlich die Errichtung eines unabhängigen Staates Khalistan propagiert werde, Verfolgung durch die indische Polizei nach sich ziehe. Die Betätigung für ein freies Khalistan verwirkliche in Indien einen strafrechtlichen Tatbestand. In der Regel lauteten die deswegen erhobenen Anklagen allerdings anders, da der indische Staat darauf hinarbeite, dass es in Indien (offiziell) keine politisch motivierten Verurteilungen gäbe. Eine Abschrift der vom Vertreter des Beschwerdeführers angesprochenen "Ergänzungen zum Gutachten Indien" des Sachverständigen Dr. B. vom 19. Dezember 2000 nahm die belangte Behörde als Beilage ./F zum Akt.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab und sprach gemäß § 8 AsylG (neuerlich) aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien zulässig sei. Die belangte Behörde führte nach wörtlicher Wiedergabe des Protokolls über die mündliche Berufungsverhandlung vom 31. Mai 2001 aus, dass dem Beschwerdeführer in Indien grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative offen stehe.

Sodann führte die belangte Behörde aus:

"Die Ausweichmöglichkeiten innerhalb des Landes sind dann eingeschränkt, wenn die betreffende Person strafrechtlich verfolgt wird und hängen von der staatlichen Infrastruktur ab. Bei strafrechtlicher Verfolgung in Nordindien ist ein unbehelligtes Leben in Südindien grundsätzlich möglich, ohne dass die betreffende Person ihre Identität verbergen muss. ... Daraus ergibt sich nun aber, dass es dem Asylwerber möglich wäre, etwaigen Repressionen in Punjab auszuweichen, zumal sich aus dem Vorbringen des Asylwerbers jedenfalls nicht ergibt, dass er selbst eine exponierte Persönlichkeit wäre, weshalb eine landesweite Suche nach seiner Person nicht ausreichend wahrscheinlich ist."

Aus dem Gutachten vom 19. Oktober 2000 ergebe sich - so führte die belangte Behörde weiter aus -, dass nur noch die Führungskräfte der AISSF unter verstärkter Beobachtung durch die indischen Sicherheitsorgane stünden. Da selbst bei verbotenen terroristischen Gruppen, wie der Babbar Khalsa, nur die "highprofile-Mitglieder" weiterhin der Verfolgung unterlägen, erscheine der Schluss zulässig, dass sich das Interesse der Sicherheitsorgane bei legalen Vereinigungen ausschließlich auf die Führungspersonen konzentriere, sofern sie im Verdacht stünden, Straftaten begangen zu haben. Der Beschwerdeführer sei demgegenüber bloß einfaches Mitglied der AISSF, weshalb keineswegs davon ausgegangen werden könne, er werde von den Behörden seines Heimatlandes landesweit gesucht. Das Gutachten Beilage ./F treffe keineswegs konkrete Aussagen über die Strafverfolgung einfacher Parteimitglieder der AISSF. Es würde lediglich allgemein dargestellt, inwieweit das Eintreten für eine Sezession oder die Unterstützung einer terroristischen Sikh-Organisation strafbar sei. In dem genannten Gutachten seien jedoch keine Aussagen über die konkrete Strafverfolgungspraxis getroffen worden. Die belangte Behörde schließe sich dem Gutachten Beilage ./A, das insoweit konkreter sei, an.

Im Übrigen ging die belangte Behörde von der Richtigkeit der Angaben des Beschwerdeführers über seine Parteizugehörigkeit, die Hausdurchsuchung in seinem Geschäft und die daran anschließende erste Inhaftierung aus. Für nicht glaubhaft hielt sie hingegen die Angaben über die polizeiliche Betretung beim Plakatieren. Es sei nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer ursprünglich die eher gedeckte und der Öffentlichkeit verborgene Tätigkeit eines Boten durchgeführt habe und später, nachdem er bereits Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen hätte, zu einer zumindest exponierteren Tätigkeit als Plakatkleber übergegangen sei. Der Beschwerdeführer habe angegeben, dass er durch Bestechung aus der Haft entlassen worden sei, was - nach den genannten Gutachten - darauf schließen lasse, dass es sich nicht um eine Kaution im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gehandelt habe. Über den Beschwerdeführer seien auch keine Akten angelegt worden. Es könne daher keinesfalls davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer nunmehr landesweit gesucht würde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Das Verfahren ist - in Anbetracht der von der belangten Behörde als glaubhaft angesehenen Teile des Vorbringens des Beschwerdeführers - jedenfalls insoweit mangelhaft, als die von der belangten Behörde ihren Feststellungen über die Behandlung von sezessionistischen AISSF-Mitgliedern zu Grunde gelegten Gutachten Beilagen ./A und ./F Fragen aufwerfen, zu deren Klärung die belangte Behörde im Sinne des § 28 AsylG weitere Ermittlungen hätten pflegen müssen. So ist der Urkunde Beilage ./A zu entnehmen, dass nur noch die Führungskräfte der AISSF unter verstärkter Beobachtung durch die indischen Sicherheitsorgane stünden. Das Interesse der Sicherheitsorgane konzentriere sich ausschließlich auf Führungspersonen, "sofern sie im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben". Die AISSF werde zwar dem terroristischen Umfeld zugerechnet, sei aber nicht verboten.

Hingegen ist dem späteren Dokument Beilage ./F zu entnehmen, dass der Sachverständige Mag. B. zur Frage, ob "jegliches (auch verbales, gewaltloses) Eintreten für eine Sezession oder jegliche Unterstützung einer terroristischen Sikh-Organisation strafbar" sei, wie folgt Stellung genommen hat:

"Auch gewaltloses Eintreten für eine Sezession (z.B. das Verteilen oder Plakatieren oder die Vervielfältigung von Medienmaterial, in dem ein unabhängiges 'Khalistan' propagiert wird, ist strafbar. Z.B. durch den Straftatbestand 'spreading disaffection among the people'.

Ebenso die Unterstützung einer terroristischen Sikh-Organisation in Form von Versorgung mit Nahrungsmitteln, Zurverfügungstellung von Unterkünften, Botendiensten und dgl. Der Straftatbestand lautet 'abetment', das heißt Vorschubleistung oder Hilfestellung.

Es lassen sich keine generellen Aussagen über das Strafmaß machen."

Im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde setzt sich das Dokument Beilage ./F anders als die allgemein gehaltene Beilage ./A sehr wohl konkret mit einer möglichen Strafverfolgung einer Person auseinander, die sich in Indien gewaltlos für ein unabhängiges Khalistan einsetzt. Der erstgenannten Urkunde ist allerdings nicht zu entnehmen, inwieweit die beim Beschwerdeführer vorliegenden Umstände mit ausreichender Wahrscheinlichkeit tatsächlich eine Strafverfolgung befürchten lassen. Die belangte Behörde, die diesen Mangel an Aussagen betreffend die tatsächliche Strafverfolgungspraxis (bzw. -wahrscheinlichkeit) in ihrem Bescheid offenbar auch erkannt hat (Seite 15), hätte daher - etwa durch Einholung eines auf den konkreten Fall Bezug nehmenden Sachverständigengutachtens - einerseits die zwischen Beilage ./A und Beilage ./F vorhandenen Widersprüche (Verfolgung nur der Führungspersönlichkeiten oder auch einfacher Mitglieder der AISSF) sowie die Frage klären müssen, ob - wofür der letzte Satz der zitierten Stellungnahme in Beilage ./F spricht - in Indien tatsächlich mit einer Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund der von ihm (nach Maßgabe der zu treffenden Feststellungen) gesetzten strafbaren Handlungen zu rechnen ist.

Soweit die belangte Behörde ihre - sowohl für die Asylgewährung als auch für den Refoulementschutz als relevant angesehene - Feststellung über die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative bei "strafrechtlicher Verfolgung in Nordindien" auf den "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Indien" des Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001 (Beilage ./B Punkt II. 4.) stützt, ist ihr entgegenzuhalten, dass eine solche Ausweichmöglichkeit nach dem genannten Bericht bei strafrechtlicher Verfolgung vor allem in größeren Städten - in denen sich der Beschwerdeführer unter Umständen aus wirtschaftlichen Gründen aufhalten müsste - nicht bestehe. Darüber hinaus hat sich die belangte Behörde mit anderen Beweisergebnissen, die von der Möglichkeit einer landesweiten Strafverfolgung bei Einschaltung der indischen Zentrale für Verbrechensbekämpfung sprechen (siehe "Die Sikhs und der Punjab", Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Beilage ./D, Seite 15), was bei entsprechenden Einreisekontrollen wohl eine unbehelligte (freiwillige oder im Wege der Abschiebung erfolgende) Rückkehr nach Indien fraglich erscheinen ließe, nicht auseinander gesetzt, ebenso wenig mit dem "Gutachten Indien Juni 2000" des Sachverständigen Mag. B. Beilage ./E, Seite 16, wonach es auf Grund der guten Vernetzung der indischen Polizeibehörden kaum möglich sei, sich der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Der Feststellung der belangten Behörde, bei strafrechtlicher Verfolgung in Nordindien sei ein unbehelligtes Leben in Südindien grundsätzlich möglich, ohne dass die Person ihre Identität verbergen müsse, liegt daher ebenfalls keine schlüssige Beweiswürdigung zu Grunde.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 19. Dezember 2001

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2001:2001200498.X00

Im RIS seit

11.03.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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